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Der Bär
Der Bär
Es grenzte wirklich an ein Wunder, dass die Drogenfahndung noch nicht resigniert hatte.
Seit Wochen herrschte ein von der Oberstaatsanwaltschaft verhängter Zuführungs-Stopp, weil alle in deren Zuständigkeitsgebiet liegenden Gefängnisse überfüllt waren. Zu viele Süchtige, Händler, Kuriere, Presseleute, Sozialarbeiter, Prostituierte, Berufsschüler, Banker, Hausfrauen und Väter waren im sogenannten Needle-Park, im Sumpf der offenen Drogenszene, steckengeblieben. Täglich strömten mehr Neugierige von immer weiter her an diesen faszinierenden Ort, nur um mit eigenen Augen zu sehen, was man sonst nicht für möglich gehalten hätte. Täglich blieben mehr Menschen an der Nadel hängen und inzwischen hatten die Justiz- und Polizeibehörden kapituliert. Seit vielen Monaten konnte nur noch Schadensbegrenzung betrieben werden, denn in der Szene herrschte Anarchie im wahrsten Sinne des Wortes. Nahezu wöchentlich wurden Tötungsdelikte gemeldet, deren Aufklärungsrate in sehr bescheidenem Rahmen blieb, Ratten, Tuberkulose, Hepatitis, Aids, zu allem bereite, kriegserfahrene Händler aus Südosteuropa und dem Nahen Osten, todkranke Süchtige, verzweifelt auf der Suche nach einer noch nicht zerstochenen Stelle ihrer verlorenen Haut, bestialischer Gestank und ein unmenschlicher Dreck, all das war die erste Wirkstätte von Jakob oder Jack, wie er sich selbst nannte, unmittelbar nach seiner Polizei-Ausbildung.
Die Drogenfahndung hatte junge Polizisten gesucht, weil die alten Hasen in der Szene mittlerweile zu bekannt waren. Jack verfügte über genügend Abenteuerlust, über eine unerschütterliche Naivität und hatte noch keine familiären Verpflichtungen, also stellte er sich kühn dieser Herausforderung. Um in der Szene nicht aufzufallen, hatte er sich seine Haare wachsen lassen und war mit einer dreckigen Jeansjacke, zerrissenen Jeans und ausgelatschten Western-Stiefeln bekleidet. Unter der Jacke trug er die Schutzweste, den Funk, die Handfesseln und die für den verdeckten Einsatz viel zu grosse Dienstwaffe.
An einem kalten und nebligen Novemberabend observierte er, auf ein Brückengeländer gelehnt, die Szene auf dem stillgelegten Bahnhof unter sich, um den unauffällig in der Menschenmenge patrouillierenden Kollegen Drogenübergaben melden und die Händler bezeichnen zu können.
Als Jack an seiner linken Seite einen ebenfalls die Szene beobachtenden Junkie mit eingegipstem Arm und verfilzten Haaren bemerkte, sagte dieser, ohne sich Jack zuzuwenden: “Siehst Du den Typen dort mit dem braunen Pullover? Das ist er, den musst Du hopps nehmen! Er stellt sich sehr unbeteiligt, aber er ist einer der Drahtzieher. Beobachte ihn genau…!“ Eine einsame Seele auf der Suche nach Aufmerksamkeit, dachte sich Jack, beobachtete aber tatsächlich den beschriebenen Mann. Dass er trotz seiner „Verkleidung“ als Polizist erkannt wurde, wunderte ihn inzwischen nicht mehr, denn die Junkies und vor allem die Händler hatten einen sicheren Instinkt dafür entwickelt.
Der Mann im braunen Pullover schien vorerst ziellos durch die Szene zu ziehen, aber nach einigen Minuten stellte Jack fest, dass er an strategisch günstigen Stellen wie zufällig mit anderen Männern einige Worte wechselte, um dann sein Revier weiter abzuschreiten.
Als er eine Runde gemacht hatte und sich zum zweiten Mal zu seinem ersten Aussenposten durchgekämpft hatte, meinte der Junkie: “Siehst Du?“ Er hatte recht. Von wegen einsame Seele auf der Suche nach Aufmerksamkeit! Jack drehte seinen Kopf und blickte in ein grinsendes Gesicht mit strahlenden Augen, die einem aussergewöhnlich kräftig gebauten Junkie gehörten, geradezu einem Bären von einem Junkie. „Wie heisst Du?“ fragte ihn Jack. „Frage nach Django, wenn Du mich suchst. Und Du?“ „Jack.“
Django drehte sich um und ging, während Jack den „braunen Pullover“ weiter beobachtete und seinen Kollegen schliesslich zwei seiner Aussenposten meldete. Sie wurden verhaftet, auf die Dienststelle gebracht, kontrolliert und einvernommen. Natürlich trugen sie nur geringste Mengen Gift auf sich, damit man ihnen den Handel nicht rechtsgenügend nachweisen konnte, also wurden sie nach der Aktenerstellung wieder aus der Polizeihaft entlassen.
Jack hatte sich den „braunen Pullover“ jedoch eingeprägt und innerhalb weniger Tage alle seine Aussenposten mindestens einmal verhaften und weiter observieren lassen. Schliesslich wussten die Drogenfahnder seiner Dienstgruppe, wo sie hausierten und stürmten diese Loge eines frühen Morgens. Nachdem die Fahnder die Tür eingetreten und mit gezogenen Dienstwaffen schreiend in die einzelnen Zimmer gerannt waren, konnten sie die auf schmutzigen Matratzen schlaftrunken hochschreckenden Männer ohne nennenswerte Gegenwehr verhaften. Im Zimmer, wo der „braune Pullover“ gelegen hatte, stellten sie einen Koffer mit einer grossen Menge Bargeld sowie zahlreiches einschlägiges Material sicher. Eine Unmenge von Schreibarbeit auf der Dienststelle folgte, aber wegen dem Zuführungs-Stopp mussten die Fahnder die zwar müden, aber erleichterten Jungs schliesslich wieder entlassen. Lediglich dem „braunen Pullover“ war das Grinsen vergangen, denn sein Geldkoffer war mitsamt Inhalt beschlagnahmt worden.
Und der Tipp von Django war gut gewesen!
Einige Zeit später, in einer nebligen Nacht, führte die Sicherheitspolizei eine Aktion durch, bei der die Meute von Fixern, Händlern, „Bunkern“ und Kurieren auf einem schmalen Steg über dem Fluss zusammengetrieben wurde und einer nach dem anderen durchsucht und kontrolliert wurde. Die Drogenfahnder befanden sich inmitten der zusammengepferchten Menge und beobachteten, wer wem das Geld und das Gift zusteckte, um ungeschoren durch die Kontrolle kommen zu können. Dabei wurden Jack und einer seiner Kollegen von einem libanesischen Händler erkannt, bevor sie diesen unauffällig ergreifen und aus der Menge zu den uniformierten Kollegen drängen konnten, wie sie es bereits mit mehreren Verdächtigen getan hatten. Wortlos und mit zusammengekniffenen Augen zückte der libanesische Händler ein Messer und führte es blitzschnell gegen Jacks linkes Auge. Wenige Zentimeter, bevor ihn die Messerspitze berührt hätte, rammte der neben Jack stehende Kollege den Lauf seiner Dienstwaffe dem Libanesen kraftvoll in den Mund, schlug ihm dabei die Vorderzähne aus und riss ihm den Gaumen blutig. Der Libanese stöhnte auf und liess sofort seinen Arm mit dem Messer sinken. Jack entwaffnete ihn und warf das Messer in den Fluss, während sein Kollege seine Dienstwaffe wieder holsterte und dem Blut spuckenden Libanesen zu verstehen gab, er solle sich still verhalten. Jack entfernte sich aus dem Blickfeld des Libanesen und begab sich etwas näher zu den uniformierten Polizisten. In dem hektischen Gedränge auf dem Steg blieb ihm nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, was wohl gewesen wäre, wenn das Messer sein Ziel erreicht hätte. Als ihn ein junger, diensteifriger Sicherheitspolizist aus der Menge zerrte und kontrollieren wollte, klopfte Jack auf die Brustplatte seiner Schutzweste, worauf der Uniformierte ihn fragend anblickte. Jack überreichte ihm seinen Geldbeutel, in dem zuoberst sein Dienstausweis steckte, wurde zum Schein verhaftet und zu einem Gefangenentransporter gebracht, wo er einen kräftigen Kerl mit Gips am Arm und verfilzten Haaren erkannte, der soeben in den Transporter gedrängt wurde. Jack ging zu der offenen Tür und blickte wieder in das grinsende Gesicht mit den strahlenden Augen, als er Django für seinen Tipp mit dem „braunen Pullover“ dankte.
Nachdem Django auf der Dienststelle aus dem Gefangenentransporter geholt worden war, bat Jack seinen Vorgesetzten, ihn übernehmen zu dürfen. Gemäss Arrestanten-Zettel war er offenbar wegen Heroinkonsums und einer Identitäts-Feststellung arretiert worden. Wenig später sassen sich die beiden in einem Einvernahme-Raum gegenüber.
Noch aufgewühlt vom Zwischenfall auf dem Steg begann Jack mit der Einvernahme mit Django. Aber es war anders als gewohnt. Django war im Gegensatz zu den anderen Junkies, die während den Befragungen oft einschliefen und zusammenhanglos vor sich hin lallten, auffällig offen und sehr wach. Bereitwillig gab er Auskunft und schliesslich entwickelte sich ein Gespräch zwischen dem Fahnder und dem Junkie. Schliesslich fragte ihn Jack, wie er denn um Himmels Willen in diesen Dreck dort draussen gekommen sei und Django erzählte ihm seine Geschichte. Eine Geschichte, wie sie sich zu Tausenden abspielt. Eine Geschichte, die von Sehnsucht, von Verlust, Verlorenheit und Einsamkeit handelt. Jack glaubte herauszuhören, dass Django seine Eltern sehr gerne wieder einmal sehen würde, sich aber nicht getraute, mit ihnen in Kontakt zu treten. Er sehnte sich nach seiner Heimat im südlichen Italien und er wünschte sich nichts sehnlicher, als das Rad der Zeit zurück drehen zu können. Jack hörte ihm lange zu und, entgegen dem in Polizeikreisen verbreiteten Motto „traue keinem Junkie“, glaubte ihm sogar.
Dessen ungeachtet machte Jack ihm schliesslich klar, dass eine Anzeige wegen Konsums von Heroin geschrieben werden müsse. Django akzeptierte das schulterzuckend und erwähnte den „braunen Pullover“ mit keinem Wort, obwohl er mit diesem erfolgreichen Tipp eine Gegenleistung hätte verlangen können.
Als Django aus der Dienststelle entlassen wurde, streckte er Jack seine Rechte entgegen, schüttelte wortlos seine Hand, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Wenige Wochen später, an einem sonnigen Vormittag, plante die Dienstgruppe von Jack die Durchsuchung eines stillgelegten Steinbruches. Sie waren nur eine Handvoll Fahnder und wussten, dass sich in diesem Steinbruch mehrere Dutzend Händler und Junkies aufhalten könnten, stellten sich aber trotzdem diesem Risiko und führten die Aktion durch. Zusammen mit einem Kollegen hatte Jack den Auftrag erhalten, zu Fuss von einer Zufahrtsstrasse her zu kommen und die ihnen entgegen Flüchtenden aufzumischen und auszusortieren.
Als den beiden eine Menschenmenge von rund 30 Personen entgegen rannte, erblickte Jack einen grossen, dicken Libanesen, der bereits mehrmals mit ansehnlichen Mengen Gift verhaftet worden war, aber wegen dem Zuführungs-Stopp jedes Mal wieder aus der Polizeihaft entlassen worden war. Schaukelnd wie eine Boje in stürmischer See und mit gehetztem Blick kam er den beiden Fahndern entgegen gekeucht. Aber als er Jack erblickte, entspannten sich seine Gesichtszüge und wurden zu einem breiten Lachen. Diese Reaktion löste bei Jack blanke Wut aus und er konzentrierte sich nur noch auf diesen Mann, der nun in lockerem Trab und fast erfreut, die beiden Fahnder zu sehen, auf sie zu kam. Dabei hielt er ständig Augenkontakt mit Jack, was diesen nur noch mehr in Rage brachte. Als er auf Jacks Höhe war, machte dieser einen Schritt vor ihn hin und rammte ihm mit voller Wucht sein rechtes Knie zwischen die weichen Beine. Der Libanese klappte zusammen wie ein nasser Sack. Noch bevor er den Boden berührt hatte, packte Jack ihn am Hals, riss ihn hoch und schlug den Kopf des Libanesen wie von Sinnen auf einen Felsbrocken am Strassenrand. Dabei nahm Jack nur noch diese dämliche, nichtsnutzige Fresse wahr, die er zerschmettern wollte, stellvertretend für all jene, die hierher kamen und sich ungehindert aufführen konnten, als sei dieser Ort ein betriebswirtschaftlich motiviertes Killergame.
Die monatelange Arbeit in diesem Milieu hatte Jack gewalttätig und hart gemacht. Tagtäglich dieser Dreck, diese nackte Gewalt, dieses Elend, dieser Gestank, diese vergebliche Sisyphusarbeit, diese endlose Jagd nach einem Phantom, das immer mächtiger und grösser wurde... Wenn Jack während seiner Freizeit durch die teuren Strassen der Stadt ging, hatte er die grösste Lust, den elegant gekleideten Geschäftsherren seine Faust ins Gesicht zu rammen. Das scheinbar normale Leben dieser Menschen kam ihm so lächerlich und verlogen vor und eines Tages erkannte er mit leisem Entsetzen, dass seine Knöchel mit blutigem Schorf bedeckt waren. Nicht von den imaginären Faustschlägen in die Gesichter der eleganten Geschäftsleute, sondern viel mehr von den realen Schlägen in die zähen Körper der kriegserprobten Geschäftsherren, mit denen er täglich zu tun hatte. Die Devise “Zuerst schlagen, dann fragen!“ wurde mittlerweile von nahezu allen Fahndern eifrig praktiziert.
So wunderten sich die vorbeirennenden Junkies und Dealer in dem Steinbruch nicht besonders, als Jack den Dicken auf dem Felsbrocken bearbeitete.
Als nächstes nahm Jack jemanden wahr, der ihn von hinten umschlungen hatte und vergeblich versuchte, ihn von dem Libanesen wegzureissen. Erst als er die Worte „Jack, tu’s nicht, das lohnt sich nicht!“ hörte, fiel seine Wut in sich zusammen und er wurde in den Strassengraben geworfen. Als er sich umschaute, stand Django vor ihm und streckte ihm seine unverbundene Hand entgegen. Er zog Jack hoch und klopfte ihm den Staub von seiner versifften Jacke, während er meinte: “Lass doch diesen Fettsack in Ruhe, er ist es nicht wert. Komm mit, ich zeige Dir etwas!“ Jack atmete tief durch, winkte seinem Kollegen zu, der in der Zwischenzeit alle Hände voll zu tun gehabt und drei Typen verhaftet hatte und rief ihm zu, dass er gleich wieder zurück sein würde. Der Kollege winkte zurück. Sie überliessen den Dicken, der mittlerweile schon wieder benommen in die Sonne blinzelte, seinem Schicksal und eilten davon. Sie verliessen den Steinbruch und die Szene und hatten schliesslich ein Quartier des Rotlichtviertels erreicht, als Django endlich stehen blieb, sich an eine Hausecke lehnte und mit dem Kopf zur anderen Strassenseite nickte. Jack fiel vorerst nichts auf, aber dann entdeckte er einen alten Herrn, der auf einer Bank sass und alles - auch sie beide - aufmerksam beobachtete. Django erwähnte, dass er dringend Stoff brauchen würde und nickte wieder in die Richtung des alten Mannes. Diesmal ging Jack voraus, wohl wissend, dass Scheinkäufe von Fahndern stets ein heikles und juristisch äusserst umstrittenes Unterfangen waren. Als sie den Mann erreicht hatten, musterte dieser sie kurz, stand auf und ging ein paar Häuserblocks vor ihnen her. Schliesslich blieb er vor einem Haus stehen, schaute sich um, und als die Luft rein zu sein schien, öffnete er die Haustüre und liess Jack und Django eintreten. Es war ein gewöhnliches Wohnhaus mit Kindergeschrei und dem abgestandenen Geruch von billigem Essen. Jack rechnete mit allem und war äusserst angespannt, als sie die Treppen in den dritten Stock hochstiegen und dort in eine Wohnung traten. Eine unauffällige Wohnung, in der eine Grossfamilie mit Kindern lebte, welche jedoch keinerlei Notiz von den fremden Besuchern nahm, als sie die Wohnung durchquerten und schliesslich das Wohnzimmer betraten. Dort sass ein junger Kerl mit verspiegelter Pilotenbrille auf einem Sessel und fragte Django, den er offenbar schon kannte: “Wieviel?“ Django nannte die Menge und der Alte, der hinter ihnen stehen geblieben war, verschwand kurz, kam mit einem Beutel Heroin zurück, überreichte es dem jungen Kerl und drückte sich wieder in eine Ecke des Zimmers. Der Junge hielt Django die leere Hand hin, worauf Django mit zerknitterten Scheinen bezahlte und dafür das Heroin bekam. Als der junge Kerl durch seine Spiegelbrille Jack anblickte, schüttelte dieser den Kopf und verfluchte sich innerlich, weil er ohne Hinweis an seine Kollegen hierhergekommen war. Aber der Junge gab sich damit zufrieden, winkte dem Alten zu, der Django und Jack wieder nach unten brachte und dort auf der Strasse wartete, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Schliesslich sagte Django: „Jeden Donnerstabend kommt die Lieferung. Das sind Iraqis. Ich glaube, dass die Ware mit dem Bus aus Istanbul kommt. Die Ware wird jedes Mal von einem anderen Kurier gebracht. Manchmal ist es auch eine alte Frau.“ Er berührte kurz Jacks Arm, hob seine Hand mit dem Heroin, nickte ihm zu und bog in eine Seitenstrasse ab.
Zurück auf der Dienststelle, kostete es Jack ziemlich viel Überzeugungskraft, den Kollegen die Geschichte vom Donnerstagabend schmackhaft zu machen. Schliesslich meinte sein Vorgesetzter, dass es einen Versuch wert sei, aber wenn die Aktion in die Hosen gehe, würde es disziplinarische Konsequenzen haben, denn schon die Einzelaktion in der Wohnung habe eigentlich die Grenze des Geduldeten überschritten.
In den folgenden Wochen observierte Jacks Dienstgruppe jeden Donnerstagabend zeitgleich den aus Istanbul ankommenden Bus und das Haus mit der geschäftstüchtigen Familie. Und jeden Donnerstag stieg eine andere Person mit einem Rollkoffer aus dem Bus und ging auf dem direktesten Weg zu diesem Haus.
Am fünften Donnerstag schlugen sie zu, waren aber einige Sekunden zu spät. Dem Jungen mit der verspiegelten Pilotenbrille gelang es vor ihrem Zugriff, den Beutel mit dem Gift kurzerhand aus einem Fenster im dritten Stock auf die Strasse hinunter zu werfen, wo genau in diesem Moment ein Streifenwagen mit nichtsahnender Besatzung vorbeifuhr. Der Beutel mit rund einem Kilogramm Heroin landete auf den Lüftungsschlitzen zwischen Motorhaube und Frontscheibe und zerplatzte dabei wie ein Wasserballon. Das Gift löste sich in einer hellbraunen Wolke auf und bis der Streifenwagenfahrer realisiert hatte, was überhaupt passiert war und angehalten hatte, waren nur noch Spuren von Heroin in einem leeren Plastikbeutel vorhanden.
Nach aufwändigen kriminaltechnischen Untersuchungen gelang es Jacks Gruppe trotz des Misserfolgs, den spiegelbebrillten Jungen und den Kurier hoch zu nehmen. Aber zu einer Anklage kam es nie. Die Staatsanwälte und die Gerichte waren völlig überlastet und die Gefängnisse immer noch überfüllt.
Wieder hatte Django einen zwar etwas heiklen, aber guten Tipp abgeliefert!
Monate später, an einem Montagmorgen nach einem freien Wochenende trank Jack in der Dienststelle gerade einen Kaffee, als über die Gegensprechanlage gemeldet wurde, dass die Sicherheitspolizei einige Junkies mit Verdacht auf Handel reingenommen hätte. Jack ging nach vorne und erkannte sofort Django, der immer noch, nun schon seit Monaten, einen Arm im Gips hatte. Die beiden taten so, als hätten sie sich noch nie gesehen, als Jack sich seiner annahm. Django sah bedeutend schlechter aus als früher, war stark abgemagert, stank erbärmlich und seine Kleider standen vor Dreck. Sein sonst so strahlender Blick war müde und gebrochen. Bei der Leibesvisitation forderte Jack ihn mehr aus Spass auf, er solle den Gips ablegen. Djangos müder Blick zuckte in seine Richtung und wortlos zog er den Gips von einem gesunden Arm, worauf mehrere Beutel mit Heroin und einige zerknüllte, schmutzige Geldscheine zu Boden fielen.
Im Einvernahme-Raum klärte ihn Jack auf, dass er wegen Handel mit Betäubungsmitteln gegen ihn protokollieren müsse. Django nickte mit gesenktem Blick.
Während der Einvernahme antwortete Django detailliert und gab den Handel mit Betäubungsmitteln zu, allerdings nicht ohne die Rechtfertigung, auch irgendwie leben zu müssen. Unter normalen Umständen hätte ihm dieser Tatbestand einige Jahre Gefängnis eingebracht und er wusste das sehr genau. Aber die Umstände waren immer noch alles andere als normal, noch immer herrschte das nackte Chaos.
In ihrer Stadt war man mittlerweile nämlich so weit, dass sogar TV-Reporter aus Übersee in die Szene kamen und live aus dem Needle-Park berichteten. Nationale Politiker machten sich angeblich ein Bild von diesem „widerlichen Geschwür der Gesellschaft“ und wurden unter hohem Polizeiaufgebot weiträumig um das Elend herum geführt, damit sie sich am Abend in der Tagesschau betroffen und bestürzt zeigen konnten, obwohl sie keinen einzigen Junkie oder Dealer gesehen, geschweige denn mit einem gesprochen hatten. Die Absurditäten überboten sich inzwischen von Tag zu Tag und die Polizisten fragten sich allmählich, in welcher Groteske diese Situation wohl gipfeln würde.
So war die Protokollierung des Tatbestandes von Django einmal mehr nur Formsache. Nach der Einvernahme betrachtete Jack lange sein Gegenüber und fragte ihn schliesslich, ob es ihm tatsächlich so schlecht gehe, wie es aussehen würde und ob er etwas für ihn tun könne. Darauf begann Django zaghaft zu weinen. Jack liess ihn gewähren und schliesslich weinte Django bitterlich und krümmte sich krampfhaft auf seinem Stuhl zusammen. Als er sich ausgeweint hatte, blickte er Jack verzweifelt an und sagte: “Ich will nach Hause, aber ich weiss nicht mehr, wo das ist!“
Jack versuchte ihm klar zu machen, dass er erst mal weit weg müsse, irgendwo hin, wo es kein Heroin gäbe. So lange er Heroin in seiner Reichweite haben würde, käme er nie weg von der Sucht.
Diese Tatsache hatten Jack und seine Kollegen schon zu Dutzenden an lebenden, aber auch an toten Beispielen gesehen. Die Heroinsucht ist eine eiserne Faust, die deine Würde langsam und stetig zerquetscht und dich mit grösstem Vergnügen ins Verderben presst. Viele Dealer der unteren Hierarchiestufen waren inzwischen auch von dieser eisernen Faust umklammert worden, so dass die offene Drogenszene eine riesige Herausforderung für sämtliche Ämter der Stadt bedeutete, allen voran für das Sozialamt.
Die Drogenfahnder sahen inzwischen keinen faktischen Sinn mehr in ihrer Arbeit und erkannten sich nicht mal mehr in dem viel besagten Tropfen auf den heissen Stein. Die Szene war zu gross und unübersichtlich geworden. Junkies, die für einige Wochen verschwunden waren, um eine Entziehungskur durchzumachen, erschienen plötzlich wieder, nur um sich gieriger denn je der Sucht zu opfern. Der Sog der Szene war zu stark, um ihm widerstehen zu können.
Die Bücher von Akten, welche die Fahnder tagtäglich schrieben, wurden praktisch nur noch für das Archiv erstellt. Um zu prüfen, ob deren Berichte und Protokolle überhaupt gelesen wurden, hatte ein Kollege von Jack mitten in einem Anzeigeprotokoll, in dem er einen albanischen Staatsangehörigen des Drogenhandels bezichtigt hatte, mehrere Seiten aus Karl Mays „Durch das Land der Skipetaren“ zitiert. Das Protokoll lief ohne eine Beanstandung durch alle Instanzen. Offensichtlich hatte es niemand wirklich gelesen.
Mit diesem Hintergrund hatte Jack das dringende Bedürfnis, Django zu helfen, denn dieser legte im Gegensatz zu anderen Junkies eine verzweifelte Entschlossenheit an den Tag, dieser Situation endlich entfliehen zu können. Und vielleicht würde so Jacks monatelange, aussichtslose, düstere Drecksarbeit einen winzigen Sinn machen. Jack fragte Django, ob er denn niemanden habe, dem er vertrauen könne, worauf dieser endlich den klaren Wunsch äusserte, Kontakt mit seinen Eltern aufnehmen zu dürfen. Kurzerhand nahm Jack den Telefonhörer ab und wählte die Nummer, die ihm Django diktierte. Als eine Frau auf Italienisch antwortete, stellte sich Jack kurz vor und schilderte in miserablem Italienisch die Situation, als die Frau ihn bat, kurz zu warten. Sie gab den Hörer offenbar einem Mann, der Jacks Sprache verstand. Auch ihm stellte er sich vor und begann zu erzählen, bis der Mann wütend den Namen seines Sohnes in den Hörer brüllte und Jack versicherte, er wolle seinen Sohn nie wieder sehen, nie wieder! Im Hintergrund rief die Frau unaufhörlich den Namen ihres Sohnes, riss ihrem Mann schliesslich den Hörer aus der Hand und schrie hinein: “Dove?“ Jack bezeichnete die Dienststelle und bat sie, sich zu beeilen, sie würden warten. Als Jack den Hörer auflegte, weinte Django wieder.
Nach etwa einer Stunde, in der Jack versucht hatte, Django Mut zu machen und ihm verschiedene Alternativen aufgezeigt hatte, klopfte es an die Tür des Einvernahme-Raumes. Eine Polizeiassistentin streckte den Kopf hinein und sagte lächelnd, dass eine Italienerin am Empfang warten würde. Die beiden Männer standen auf und gingen nach vorne zum Eingangsbereich der Dienststelle, wo Djangos Mutter würdevoll hinter der Theke stand. Als sie ihren abgemagerten und unvorstellbar schmutzigen Sohn erblickte, verlor sie kurz die Fassung, fing sich aber sofort wieder, faltete ihre Hände, richtete kurz ihren flehenden Blick nach oben, rief Djangos Namen und in der nächsten Sekunde fielen sich die beiden weinend und schluchzend in die Arme.
Erst jetzt sah Jack den elegant gekleideten, älteren Herrn, der auf einer Bank neben der Eingangstür sass und offensichtlich auch gegen den Verlust seiner Fassung kämpfte. Aber es gelang ihm längst nicht so gut wie seiner Frau. Zitternd stand er auf, als Jack zu ihm trat und ihm die Hand entgegenstreckte.
Django drehte sich schliesslich zu Jack um, reichte ihm seine Hand und schüttelte sie, während ihn seine verweinten Augen anblickten. Er brachte kein Wort heraus. Jack bedankte sich bei ihm für seine Unterstützung und wünschte ihm alles Gute. Von seinem Vater gestützt und seiner Mutter umklammert, verliess Django, diesmal ohne Gipsarm, die Dienststelle.
In den zwei Jahren danach hatte Jack als Drogenfahnder die äusserst turbulente und politisch unausweichliche Räumung der offenen Drogenszene erlebt und hatte anschliessend genug von diesem Job. Er hatte mittlerweile eine riesige Portion Abenteuerlust gestillt und ein gehöriges Mass an Naivität verloren und befand, dass er noch zu jung sei, um nur in diesem Elend zu wühlen und meldete sich auf eine Stelle als Streifenwagenfahrer, die er schliesslich in diesem Stadtteil bekam, wo früher die offene Drogenszene gewesen war.
Der Streifendienst war bedeutend abwechslungsreicher als die Drogenfahndung und Jack hatte grossen Spass an dieser Arbeit.
Django hatte er aber seit dem Zusammentreffen mit seinen Eltern nicht mehr gesehen und so verblasste die Erinnerung an ihn allmählich.
Am späten Abend einer Nachtschicht, als Jack zwischen zwei Streifendiensten Schreibarbeiten erledigte, kam der Wachtchef zu ihm in den Schreibraum und fragte, ob er Kundschaft erwarten würde. Auf sein „Nein“ erwiderte der Vorgesetzte, es warte ein elegant gekleideter Herr hinter der Theke, der ihn unbedingt sehen wolle. Da Jack niemanden erwartete, ging er etwas verwirrt nach vorne, wo tatsächlich ein elegant gekleideter Mann, gross wie ein Bär, hinter der Theke stand und ihn mit strahlenden Augen angrinste.
„Jack, lange nicht gesehen“, sagte er und streckte seine Arme aus. Jack trat zu ihm, betrachtete ihn ungläubig und dann umarmten sich die beiden wie Brüder, während Jack nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte.
Er bat den Wachtchef um eine halbe Stunde, in der er mit Django in die Kneipe neben der Wache ging.
Als sie sich gegenüber sassen, war Jack verblüfft, wie stark und gesund Django aussah. Django erzählte, dass er wenige Tage nach ihrer letzten Begegnung mit Hilfe seiner Eltern in Kanada in einem Holzfäller-Camp untergekommen war, das sich auf die Rehabilitation von Drogenabhängigen spezialisiert hatte. Die erste Zeit sei furchtbar gewesen, ohne „Sugar“ und ohne den Kick der Szene, aber die harten Kerle dort oben waren sich offensichtlich gewöhnt, mit Junkies zu arbeiten. Sie liessen ihn im grossen Ganzen mit seinem Entzug in Ruhe und nach einem Monat war er clean. Danach arbeitete Django noch zwei Monate wie ein Berserker, fand Gefallen an der Arbeit im Freien und mit Holz und hatte nebenbei Englisch gelernt. Inzwischen, zurück in der Schweiz, hatte er eine Lehre als Zimmermann begonnen und schnitzte in seiner Freizeit Holzskulpturen.
Heroin hatte er seit diesem Montagmorgen, als er von der Sicherheitspolizei zugeführt worden war, nie mehr angerührt.
Weiter erzählte er, wie er sich auf die Suche nach Jack gemacht habe, um sich persönlich bei ihm bedanken zu können, denn dieser Montagmorgen im Einvernahme-Raum sei der entscheidende Wendepunkt in seinem nahezu verlorenen Leben gewesen.
Aus dem Junkie mit den verfilzten Haaren und dem Gipsarm war ein kerngesunder, aufgeweckter, junger Mann geworden, der das Leben und die Freiheit, vor allem aber sich selbst wieder gefunden hatte.
Als sie sich zum Abschied ein letztes Mal umarmten, steckte Django einen Gegenstand in die Tasche von Jacks Uniformjacke, drehte sich um und verschwand im Dunkeln zwischen den Häusern. Jack griff in die Tasche und hielt einen wunderschönen, dunkelbraunen Grizzlybären aus Holz in seiner Hand. Er fühlte sich warm und vertraut an und auf seinem Bauch waren die Worte „For Jack, my knight in shining armor“ eingeritzt.
Dieser Bär wurde für Jack zum Symbol der Hoffnung und Kraft und er begleitet ihn seither bei all den menschlichen Tragödien und unvorstellbaren Dramen, welche Polizisten Tag und Nacht, Woche für Woche zu Gesicht bekommen.
Und seine Erinnerung an Django wird nie mehr verblassen, denn die Geschichte dieses Junkies hat dem hoffnungslosen Kampf der Drogenfahnder den leisen Hauch eines Sinnes verliehen.