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Überarbeitetes Ende 8.11.21 nanne-ov-n-out 15.11.21 änderung
Der Arzt, den niemand kannte
Ich betrete die Praxis an einem Montag acht Uhr vierzehn, melde mich an und soll noch kurz warten. Kaum habe ich mich im Wartezimmer gesetzt, kommt bereits die Durchsage über Lautsprecher: "Herr Zwiebelberger bitte! Gehen Sie an der Anmeldung links vorbei, den Gang runter und melden Sie sich dort!"
Das geht schnell hier, denke ich und humple um die Ecke wie beschrieben in den linken Flur, wo mich nach wenigen Metern das Ende einer Warteschlange stoppt. Drei Patienten stehen da, und mein Vordermann, ein älterer Herr vielleicht Mitte sechzig, dreht sich unverzüglich zu mir und spricht mich an: "Hallo! Neu hier? Ich bin der Stefan. Kannst mich auch 'Wisi' nennen, das ist mein Spitzname. Ich spiel gern Backgammon. Du kannst ja mal kommen." Er drückt mir einen Zettel mit einem Termin in die Hand. Ich antworte ihm kurz mit meinem Namen, erkläre, welch schönes Spiel Backgammon sei. Er seufzt und dreht sich wieder um; die Schlange löst sich auf, die vorderen sind schon weg, der Wisi dreht sich noch kurz zu mir und sagt: "Bis später!" Dann verschwindet auch er.
Dann sehe ich sie, die zweite Anmeldung. Und die Frau mit dem roten Haar, Anfang fünfzig, zum ersten Mal. Nanne, zentrale Arzthelferin, laut Namensschild.
"Herr Zwiebelberger?", sagt sie.
"Ja", sage ich.
"Bitte gehen Sie dort drüben ins Wartezimmer, wir rufen Sie auf", sagt sie.
Ich sage, nein, "ich komme doch gerade vom Wartezimmer".
Sie lacht und zeigt nach dort drüben: "Ich meine natürlich Wartezimmer zwei. Da gibt es auch Wasser."
Wasser? Warum ist es wichtig, dass es da Wasser gibt? Und wohin sind die anderen alle gegangen?
Ich humple rüber, da sind sie ja, die anderen! Allerdings, der Wisi fehlt. Ich setze mich und bemerke einen alten Mann, der in der Ecke sitzt und schläft. Mein Blick schweift herum, von ihm weg und wieder zu ihm, nicht oft, nicht lange, nur bis zum Aufruf, der mich durch einen weiteren Flur schleust ins Wartezimmer drei. Ich setze mich, steh wieder auf und versuche einen vorbeilaufenden Arzthelfer zu packen, aber er sieht mich rechtzeitig und haut ab, bevor ich nah genug rankomme.
Ich werde aufgerufen, diesmal hat es länger gedauert, und durch den Flur um die Ecke rechts herum an Anmeldung vier vorbei in Wartezimmer vier geschickt. Die ersten grundsätzlichen Fragen formulieren sich in meinem Kopf.
"Entschuldigung", frage ich die Anmeldefrau 4. "Wie viele Wartezimmer gibt es denn hier? Insgesamt?"
"Woher soll ich das wissen?", sagt sie. "Ich nehme die Patienten von drei in Empfang, pack sie in vier und schick sie dann nach fünf weiter. Bitte haben Sie etwas Geduld."
In sieben beginne ich mit den Berechnungen. Ausgehend von der Größe des Gebäudes, so wie ich es vor vielen Stunden von außen einschätzen konnte, versuche ich zu prognostizieren, wie lange es dauern könnte – auf der Basis der Möglichkeit, wie viele Anmeldungen und Wartezimmer es darin maximal geben kann und komme zu dem Schluss, dass ich, wenn ich pro Zimmer durchschnittlich dreißig Minuten zu warten habe, hier spätestens in fünf Stunden fertig sein muss; ich habe jedoch bemerkt, dass es manchmal vierzig Minuten oder länger dauert, bis es weitergeht; dennoch reagiere ich auf den Typ, der seinen Kopf reinsteckt und sagt, dass er die Bestellungen für's Frühstück aufnehme, vorsätzlich mit distanzierter Ignoranz.
Später verwerfe ich meine Berechnungen auf der Grundlage neuer Daten. Ich hatte nicht mit dem Stockwerkwechsel gerechnet. Zwischen acht und neun. Plötzlich geht es nach oben, oben gehört auch noch dazu. Im Treppenhaus sitzen ein paar Männer auf dem Boden, vor sich einen Hut und ein Schild, auf dem "Ich habe Durst" steht (sieht so aus, als gäbe es nicht überall Wasser). So vergeht der erste Tag. Ich übernachte auf dem Männerklo..
Am sechsten Tag, gegen Abend, treffe ich den Wisi wieder, der in einem Raum neben Anmeldung neunundzwanzig damit beschäftigt ist, die Tische für ein Backgammonturnier aufzubauen. Ich frage ihn, wie lange er denn schon hier ist, doch er winkt ab. Er wendet den Kopf, wirkt unvermittelt aufgeregt und zeigt auf eine Frau mittleren Alters, die erhobenen Hauptes im Flur vorbeigeht und uns kurz zuzwinkert. "Das ist sie!", flüstert er. "Rita. Man munkelt, dass sie schon mal einen Arzt gesehen hat!"
Ärzte, genau. Irgendwo müssen welche sein. Doch im Grunde langt es mir. Das sage ich dem Wisi. Dass ich jetzt protestieren werde. Und er das besser auch tun solle.
Er schaut mich an wie jemand, der bezweifelt, dass mein Verstand frisch aus der Packung ist. "Was?", sagt er. "Jetzt? Ich mach doch keinen Ärger, wo ich siebenunddreißig Wochen hinter mir habe. Und im zweiten Durchgang bin. Und der Goran gesagt hat, dass er gehört hat, dass ich wahrscheinlich bald dran komme."
"Und was heißt das: 'bald'?"
"Vielleicht sogar schon in fünfzig Wochen."
"Was?", entfährt es mir. "Ich soll fünfzig Wochen hier herumlaufen, bis ich dran komme?!"
"Nein", sagt er, "du doch nicht! Bei dir dauert es nicht so lange. Du bist ja gerade erst gekommen. Bei dir dauert es natürlich noch länger."
"Hallo Herr Zwiebelberger, Sie sind dran. Sie überspringen jetzt die Wartezimmer fünfhunderteinundfünfzig bis siebenhundertneunundzwanzig, begeben sich ins Stockwerk 85 und setzen Sie sich in Wartezimmer siebenhundertdreißig!", sagt die liebliche Stimme der zentralen Anmeldefrau.
Das hab ich Goran zu verdanken. Ich bin seit siebzehn Wochen hier. Goran ist Datenfachmann und Patientenschlepper und hackt sich gegen Bezahlung in das Instacount-Programm, um den Arztbesuchsvorgang zu beschleunigen. Zwar gibt es in meinem Verstand die Stelle, die mir sagt, dass dieses Gebäude keine fünfundachtzig Stockwerke haben kann, aber wen juckt das, wenn man erst mal oben ist?
Im Laufe der Zeit lernt man überall hier interessante Menschen kennen, zum Beispiel das Ehepaar Horst und Helga, die aus dem Rahmen fallen, weil sie sich nicht mehr im Gebäude fortbewegen. Die beiden haben einen Teil des Wartezimmers neunhundertsechzehn mit Bücherregalen abgetrennt und sich dort eine Zweizimmerwohnung eingerichtet; links hat Helga ihren Bügel- und Fernsehraum, rechts ist das Schlafzimmer, in dem außerdem Horsts kleiner Kiosk steht. Helga sagt, ihr Mann sei unglücklicherweise verrückt geworden und habe die fixe Idee, Hundefutter zu verkaufen; leider habe jedoch noch keiner was gekauft in all der langen Zeit.
Goran ist allerdings der einzige, der einem manchmal weiterhelfen kann. Vor kurzem habe ich von ihm eine fünfschüssige Kleinkaliber-Pistole mit vollem Magazin erworben, nach einer Nacht mit miesen Träumen auf einem Wartezimmersessel. Und ich habe ihm für jenes Überspringen mehrerer Wochen alles gegeben, was ich bei den letzten zweiundzwanzig Backgammonturnieren gewonnen habe - alles für diesen Quantensprung, die hundertachtzig Wartezimmer, die ich auslassen konnte - doch wie weit kann ich vom finalen Zimmer weg sein? Oder wenigstens von dem Gebiet, wo es anfängt, einen Arzt geben zu können? Der Wisi und ich haben uns gestern Rita geschnappt und sie hat im Verhör zugegeben, dass es nicht stimmt und dass sie nicht einen Arzt, sondern nur das Foto eines Arztes gesehen hat, das irgendwo an einer Wand hing.
Wie weit ist man gekommen mit mehr als eintausendfünfhundert hinter sich gebrachten Anmeldungen, wenn es gar kein Ende gibt? Unsinn, sage ich mir, es gibt nichts, was ewig währt, nichts, was ewig wachsen kann, nichts, was nie aufhört, es geht nichts unendlich weiter, das weiß doch jeder Trottel, und dann, noch bevor es passiert, spüre ich, was kommt, und als es so weit ist, scheint es erst falsch und wenig später richtig zu sein. Das Universum dehnt sich aus und immer weiter aus und dann höre ich ihre Stimme aus dem Lautsprecher: "Herr Zwiebelberger bitte!", sagt Nanne. "Sie können jetzt den lila Flur zurückgehen und sich in Wartezimmer eintausendfünfhundertfünfundfünfzig setzen, wir rufen Sie dann auf."
1555? Ich sitze doch schon in 1556. In 1555 war ich schon! Es geht jetzt – zurück? Ins vorige Wartezimmer? Wieder ins vorige zurück?
Das ist bestimmt ein Fehler der Verwaltung. Ich gehe zur nächstgelegenen Anmeldung und erkläre dort, was daran unlogisch ist, weshalb es nicht sein kann, auf keinen Fall sein kann!
„Doch, doch“, sagt der Mann in weißem Kittel. „Das stimmt schon. Keine Sorge, alles ist in bester Ordnung, vertrauen Sie uns. Und gehen Sie jetzt bitte dort hin, wo Sie hin müssen. Sie wollen doch, dass es voran geht?“
Ich treffe mich mit Goran in einer kleinen Abstellkammer auf dem Stockwerk; in der Ecke liegen zwei Skelette.
„Also?“, fragt er.
„Wie viel kostet es, wenn ich einen Arzt sehen will?“, frage ich.
„Einen Arzt?“ Er lacht und winkt ab. „Einen Arzt soll ich herbringen! Soll ich dir einen auf den Boden kacken? Warum nicht einen Pottwal samt Aquarium? Den hätt ich schneller hier. Einen Arzt! Aber wenn du mir deine Uhr gibst, könnt' ich ein Treffen mit Nanne für dich ausmachen. Privat. Ich habe gehört, sie weiß, wo es einen geben könnte. Die Uhr ist für Nanne, vielleicht geht sie darauf ein.“
„Und du?“
„Ich“, sagt er. „bekomme natürlich auch etwas. Siebzig Prozent deiner Einnahmen aus den Backgammonturnieren der nächsten sechs Monate. Einen Zettel brauchen wir nicht, ich weiß ja, wo ich dich finde.“ Er lacht.
Ich bin einverstanden. Ich habe einen Plan, bin entschlossen und bewaffnet.
Ich treffe Nanne in einem kleinen Büro neben Wartezimmer eintausendfünfhundertfünfzig. Sie schaut mich an, fragender Blick. Ich hole meine Pistole raus und ziele auf sie.
„Was ist denn jetzt?“, fragt sie. „Wollen Sie Ihre Uhr zurück?“
„Ich will, dass Sie mich zu einem Arzt bringen“, sage ich. „Sonst erschieße ich Sie.“
„Sie wollen zu einem Arzt?“, fragt sie.
„Wundert Sie das?“, frage ich.
„Das nicht“, sagt sie. „Aber wo ist Ihr Tier?“
„Mein Tier?“, frage ich.
„Ihr Haustier.“
„Mein Haustier?“
„Sehen Sie, Sie haben keins dabei“, sagt sie.
„Warum sollte ich mein Haustier dabei haben?“, sage ich. „Ich habe gar kein Haustier.“
„Weil das hier eine Tierarztpraxis ist. Da brauchen Sie eins“, sagt sie. „Sonst geht’s nicht.“
„Unsinn!“, sage ich. „Die anderen haben doch auch alle keine Tiere dabei!“
„Sehen Sie!“, ruft sie. „Und dann wundern sie sich, dass sie nicht drangenommen werden. Diese Patienten! Erst mal die Schuld bei anderen suchen, nicht wahr? Nie schaut jemand, ob der Fehler vielleicht bei ihm selbst liegen könnte ...“
Das reicht. Ich gehe schnell zu ihr rüber, packe ihren Arm, drehe ihn auf den Rücken und halte ihr die Pistole an die Schläfe. Ich dränge sie zur Tür und schiebe sie vor mir her nach draußen ins Foyer. Ich schieße einen Warnschuss in die Decke. Die Köpfe der Patienten drehen sich zu uns. Einer hat ein Kaninchen im Arm, den kenn ich auch schon länger. Ich rufe: „Egal, wo Ihr seid! Ihr habt fünf Minuten, und wenn dann kein verdammter Arzt hier auftaucht, werde ich sie abknallen!“ Ich fuchtele mit der Pistole an ihrer Schläfe. Zwei Arzthelfer kommen durch die Tür. Sie sind schnell. Der erste duckt sich hinter einen Tresen, der zweite schnappt sich einen Stuhl und wirft ihn nach mir. Mit einem Schritt zur Seite weiche ich aus, zerre meine Geisel mit, stoße eine Pflanze um, ziele in seine Richtung und schieße ihm ins Knie. Er knickt schreiend zu Boden, ich setze die Kanone wieder an Nannes Kopf. „Na? Was ist jetzt?“, schreie ich und lache wild. „Braucht noch wer einen Orthopäden? Holt jetzt einen her, verdammt!“
„Nehmen Sie die Waffe runter!“, schreit der zweite Arzthelfer, er zieht seinerseits die Pistole; Nanne beißt mich in die Hand und ich stoße sie weg, bevor er feuern kann, gehe hinter einem Sofa in Deckung, sie knallt gegen ein Aquarium, es kippt krachend um, das Wasser strömt heraus, ein großer Glassplitter fliegt durch die Luft und schneidet Goran, der in einer Tür aufgetaucht ist, ein Ohr ab; der Arzthelfer feuert, trifft aber nur einen der Patienten in die Brust, kommt hinter dem Tresen hervor; er will in meine Richtung, rutscht aber auf den zappelnden Fischen aus, stolpert über den kleinen Pottwal und landet auf dem glitschigen Boden; mit zerschnittenen Händen robbt er zu seinem vor Schmerz brüllenden Kollegen und verschanzt sich hinter ihm. Nanne kreischt, die Patienten laufen jetzt schreiend in verschiedene Richtungen, und links von mir sehe ich eine weißgekittelte Frau mit einer Schrotflinte auf mich zielen. Ich gehe runter auf alle Viere und krabble käferschnell in Richtung Türrahmen zurück, sie drückt ab und schießt der im Wasser knienden Nanne das linke Bein weg, danach sackt sie zusammen, weil der Wisi ihr von hinten einen Computerbildschirm in den Rücken geworfen hat; langsam verliere ich den Überblick. Vor allem weiß ich nicht, auf wen ich als nächstes schießen soll. Da ist der Wisi neben mir. Er will mir aufhelfen und schreit: „Komm du Idiot! Wir waren so nah dran!“ – wird jedoch von einem Stuhl am Kopf getroffen und kippt um wie eine Leiter – während das Blut aus seiner Kopfwunde spritzt wie aus einem Wasserschlauch. Ich höre die Schreie und Hilferufe, das Stöhnen der Verwundeten; es könnte jederzeit eskalieren, doch
dann wird es unvermittelt still, alle Bewegungen frieren ein, denn er ist aufgetaucht. Alle Blicke richten sich auf ihn. Er trägt weiß, ein Stethoskop um den Hals. Er ist groß, graues Haar. Er hebt beide Arme und sagt zu mir:
„Du bist im Irrtum“, sagt er. „Du warst die ganze Zeit über im Irrtum. Du denkst, dies ist eine Praxis.“
„Das ist keine Praxis?“, sage ich leise und stehe langsam auf. „Was ist es dann? Draußen hängt doch ein Schild.“
„Natürlich hängt da ein Schild“, sagt er.
Er schüttelt den Kopf, zeigt auf die Verletzten und Toten. Dann wendet er sich zu den Pflegern.
„Bringt ihn zurück“, sagt er. „Zurück an den Anfang.“
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Epilog
Ich habe gehört, der Wisi ist gestorben. Er wurde siebenundachtzig und schaffte sechsundfünfzig Durchgänge.
Ich befinde mich gerade in tausendfünfhundertfünf.
Gleich werde ich aufgerufen.
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