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Der Apfeldieb
Auf einem Bauernhof lebte einst ein alter Mann glücklich und zufrieden. In seinem Leben war er stets fleißig und strebsam, weshalb es ihm an nichts fehlte. Von seinem Hofe führte ein schmaler Feldweg hin zu den Getreide- und Gemüsefeldern. Weiter zu den Wiesen, auf denen seine großen Apfelbäume wuchsen.
Jeden Herbst geduldete sich der Bauer, bis die Äpfel auf den Boden fielen, damit er sie auflesen konnte. Dann presste er süßen Saft, buk duftenden Kuchen oder kochte leckere Marmelade. Als die Jahresuhr die Blätter an den Bäumen färbte und alle Früchte auf dem Boden lagen, dachte der Alte: „Morgen liegen sie auch noch. Heute habe ich die Rüben gezogen und die letzten Kartoffeln vom Acker getragen. Ich habe genug vollbracht."
Am nächsten Morgen zog er seine Gummistiefel und die Regenhose an, nahm den Stecken und schritt frohen Mutes zur Lese. Bei der Wiese angekommen, staunte er: „Wo sind die ganzen Äpfel hin?" Da erkannte er in der Ferne eine Gestalt, mit einem großen Korb voller Äpfel, in der Hand. Der Bauer war alt, seine Beine müde und so konnte er dem Dieb nur nachschauen, wie er verschwand. Da hob er den Stecken und rief:
„Apfeldieb du Bösewicht, dieses Jahr bist du mir entwischt.
Doch nächstes Jahr, das sei dir gewiss - da krieg ich dich!"
Im darauffolgenden Jahr, als die Äpfel wieder reif geworden waren, sagte der Bauer: „Diesen Herbst stiehlt mir niemand meine Früchte. Morgen werde ich es wagen. Ich steige auf die Bäume, so wie in Kindertagen und pflücke sie. Der Apfeldieb rechnet sicher nicht damit." Zwar wusste er, dass solche Klettereien nichts für einen alten Mann sind, doch es lassen? Nein, dazu klang das Abenteuer zu verheißungsvoll.
Er stellte am darauffolgenden Tag einen Korb unter den ersten Baum, kletterte hinauf und warf die Äpfel einzeln hinunter. Schnaufend wiederholte sich die mühselige Arbeit und nach einiger Zeit keuchte er: „Gleich habe ich es geschafft. Dann mache ich erst mal eine Pause."
Er kletterte den letzten Stamm empor und pflückte die verbleibenden Äpfel. Nur der letzte hing besonders weit oben, sodass ihm mulmig wurde. Achtsam und vorsichtig wagte er sich auf den höchsten Ast und setzte sich in die Baumkrone. Er biss in die süße Frucht und ließ die Beine baumeln. „Welch schöne Aussicht", begann der Alte zu träumen und blickte in die Ferne.
Ein leises Knacken ließ ihn auf den Boden sehen. Dort schlich eine Gestalt um den Baum, nahm den Korb und rannte hinfort. Der Bauer wollte hinabklettern, doch er war alt, seine Beine müde und so konnte er dem Dieb nur nachschauen, wie er verschwand. Da hob er seine rechte Hand, ballte sie zur Faust und rief:
„Apfeldieb du Bösewicht, dieses Jahr bist du mir entwischt.
Doch nächstes Jahr, das sei dir gewiss - da krieg ich dich!"
Ein Jahr später wollte der Bauer den Dieb fassen. Als die Äpfel reif wurden, spannte er sein Zelt, legte sich Tag und Nacht auf die Lauer und hielt Ausschau. Im Dunkeln entzündete er ein Feuer und sein treuer Freund, der Hahn, gesellte sich zu ihm. Gemeinsam bestaunten sie das knisternde Feuer und der Mann fragte den Gockel: „Wann saß ich zuletzt an einem Lagerfeuer, alter Freund? Ich weiß es nicht, zu lang ist es her. Schön tänzeln die Flammen, nicht?" Zustimmend krächzte das Tier. Am dritten Tag lagen die Äpfel auf dem Boden, doch vom Dieb war nichts zusehen. So sammelte der Bauer die Früchte ein, schaffte sie zu seinem Hof und legte sich schlafen. Spät am Abend erwachte er, und dachte nach. Nach einer Weile holte der Alte seinen Hahn und gemeinsam gingen sie in das Dorf.
Dort angekommen, klingelte er am ersten Haus. Ein junger Mann öffnete die Türe. „Wer stört so spät?"
„Der Bauer. Bist du der Apfeldieb?"
Der Bewohner war verwirrt. „Nein, welch‘ Unverschämtheit. Ich bin kein Apfeldieb."
Beim zweiten, dritten, vierten und fünften Male wiederholte sich das Spiel. Stets fragte der Bauer „Bist du der Apfeldieb?" Die Antworten waren allesamt ähnlich. „Nein, nein." „Niemals." „Ich? Ich stehle keine Äpfel."
Je später es wurde, desto unfreundlicher wurden die Menschen. Irgendwann kam der Bauer zum letzten Haus. Es lag abgelegen. Riesige grüne Pflanzen wuchsen über den verrosteten Zaun, das Gartentor stand offen. Der metallene Briefkasten hatte viele, kleine Löcher. Ein Name war darauf nicht zuerkennen. Der alte Mann lief vorsichtig durch den Garten und erkannte ein einzelnes Fenster, welches mit einem Holzbrett zugenagelt war. Das Glas fehlte. Die mit Edding beschmierte Fassade schimmerte im Mondlicht. Der Bauer kratzte sich am Kopf, schüttelte denselbigen und klopfte an der Haustüre, denn eine Klingel gab es nicht.
Bumm. Niemand öffnete. Er klopfte nochmals.
Bumm, bumm. Niemand öffnete. Ein letzter Versuch.
Bumm, bumm, bumm. Keine Reaktion.
Als der Bauer sich umwandte, um zu gehen, quietschte die Tür. Ein magerer Mann mit Krücken humpelte hinaus: „Was gibt's?"
„Ich suche den Apfeldieb. Bist du der Apfeldieb?"
Da blickte der Mann auf den Boden und erwiderte: „Ja, ich bin der Apfeldieb. Doch dieses Jahr gibt es keine Äpfel für mich. Ich kann mir keine kaufen. Und weil ich mir mein Bein gebrochen habe, kann ich auch keine pflücken."
Der Bauer kehrte wortlos zu seinem Hof zurück. Dort angekommen, nahm er einen kleinen Korb und füllte diesen mit der Hälfte seiner Äpfel. Er schrieb einen Zettel, legte ihn zu den Früchten und ging zurück in die Stadt. Den Korb stellte er vor die Tür des letzten Hauses, klopfte laut und verschwand. Bumm, bumm, bumm. Der Kranke trat hinaus, sah den Korb und las den Zettel:
„Apfeldieb du Bösewicht, dieses Jahr bist du mir entwischt.
Doch nächstes Jahr, das sei dir gewiss - da krieg ich dich!"