Mitglied
- Beitritt
- 07.10.2015
- Beiträge
- 515
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 35
Der Anfang, das Ende, die Liebe
Die Sonne sticht vom weißen Verputz. Überall sitzen sie in den Cafés. Ein Geschäftsmann im Hawaiihemd hält eine Muschelkette in den Fingern und schaut sich wie ratsuchend um. Ein Kind dreht einen Postkartenständer. Eine Dame im gepolsterten Blazer wischt dem Gatten einen Krümel vom Mund. Unter gläsernen Vitrinen türmt sich Eis. Eine Feder wippt an einem Hut. Zwei schmale junge Leute, die sich seit heute kennen, küssen sich.
Die Saison ist bald zu Ende. Am Strand vorhin sind die Menschen schon weniger gewesen, an der Hafenpromenade findet sich Pascal noch immer im Gedränge. Er will einmal ganz um den Hafen herum, dann auf der anderen Seite bei der Steilküste wieder ans Meer. So viel Zeit darf er sich an diesem Nachmittag lassen.
Eine junge Frau stellt sich ihm in den Weg und reckt das Kinn vor. Sie hält ihm eine Kamera hin. Ob er sie fotografieren könne, hier so: Sie zeigt mit dem Arm rückwärts, ohne hinzusehen, wedelt mit der Hand, die Finger gespreizt. Ihre Freundinnen stehen dort bei einem Poller. Hinter ihnen ragen die Masten der Segelboote in die Höhe. Das Mädchen streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, hoch bis über die Stirn, hält sie dort fest und schirmt die Augen gegen die Sonne ab. Durch die Finger hindurch fällt Licht auf ihren Mund. Pascal lässt sich die Kamera geben.
Für jetzt ist er ganz Teil des Schwarms, der hier flaniert, der sich nicht sorgen muss, auf Zeit hierher gehört, die späten Sommertage genießt, eine Yacht hat am Hafen. Er lässt sich durch die Menge treiben, ohne viel zu säumen. Vor Sonnenuntergang möchte er zurück.
Alles hier erscheint ihm neu. Weiße flache Häuser, warm beschienen, frisch und glänzend. Poliertes Pflaster, über das er schreitet. Das alles gab es damals noch nicht.
Am Ende der Fußgängerzone aber quert eine Straße, dahinter führt eine Treppe wenige Meter nach unten durch das Kliff zu einem schmalen Streifen Sand. Man steht und staunt: mit einem Mal ganz Wildnis, sobald man nur hinuntergestiegen ist.
Hier unten platziert Pascal die Schuhe auf einem Felsen und geht barfuß ins Meer. Er ist angekommen, am Anfang von allem. Er kennt das alles noch, genau so. Den wie hingeflossen geschichteten Fels, die Abbruchkante der Grasnarbe darüber. Den Sand und das Meer, die hier ihre Namen bekommen haben. Damals war das größer, wilder, echter, aber es muss die Stelle sein, er will es so. Ein Schiff hat er durch die Wellen gezogen und Ball gespielt mit dem Vater. Sonst weiß er nichts Genaues mehr: Der Ort, die Dinge sind da. Sie haben eine Bedeutung, ragen in ihn hinein und bringen gleichwohl nichts mehr ans Licht. Trotzdem gehört das hier herum mehr zu ihm, als alles, was später kam und etwa Anspruch auf Heimat oder Zuhause machen wollte. Das Leben reicht zurück, so weit die Erinnerung reicht. Seins hat hier begonnen.
Pascal kneift die Augen zusammen und schaut in den Himmel. Die wiederkehrende Strömung gräbt schleichend seine Fersen in den Sand. Nun also wirklich wieder hier. Er würde vor Rührung weinen wollen, wenn er nur genauer wüsste, warum.
Es ist ein kleiner Strandabschnitt im Halbrund der Klippen. Die junge Frau steht nicht weit von ihm, als er sie sieht. Die von vorhin: die mit den Sonnenstrahlen auf dem Mund. Sie hält das Kleid mit einer Hand aufgeschürzt und ruft ihren Freundinnen hinter sich etwas zu. Während sie sich dreht in der Hüfte, baumeln die Schuhe an ihren Händen.
Als sie herüberschaut, sieht er eilig wieder dem flachen Wellenschlag zu, der über seine Füße streicht.
Er muss ja auch los. Reibt sich den Sand von den Sohlen, bindet die Schuhe. Dann geht er auf die junge Frau zu, denn dort hinter ihr muss er die Treppe hinauf. Er führt die Augen entlang dem Wellensaum, schaut im letzten Moment nur auf und tatsächlich begegnet er ihrem Blick noch knapp. Und öffnet sie nicht den Mund, als sie ihn ansieht und leckt sich die Lippen? Hebt sie nicht die Hand? Sie will etwas sagen! Da ist er an ihr vorbei. Er nimmt ihr Bild mit sich, um an sie zu denken heute Nacht, sie heimlich mit sich zu vereinigen, wenn er allein ist. Sie wird ihm fehlen.
Wieder hinauf denn, wieder über das geleckte Pflaster. Dann durch wenige Straßenzüge moderner, mondäner, schick und gewöhnlich scheinender Wohnquartiere. Er lässt auch das hinter sich, geht den grünen Hügel hinauf, um dahinter die Straße zu finden.
Bald schon stochert er ohne Weg vorwärts. Ungefähr aus dieser Richtung muss er auch am Mittag gekommen sein. Im Gras stehen Kugeldisteln neben Margeriten. Die Sonne hält sich noch überm Horizont. Er tritt hinweg über grobe Grasbüschel und widerborstiges Kraut. Die Schuhe bleiben in einer Schlinge aus Stängeln und Blättern hängen, die er mit einem Ruck zerreißt. Uneben und manchmal unvorhersehbar ist der Boden, die weit ausgreifenden Schritte sacken ab, wenn hohes Gras eine fußballgroße Grube verborgen hielt.
Pascal aber geht leichtfüßig, wie wenn er die von vorhin neben sich mitführte und seine und ihre Hand im Rhythmus der Schritte mitschwingen ließe. Er nährt und genießt den Trennungsschmerz wie einen Teil von ihr, der ihm geblieben ist.
Das Rauschen der Autos von der Schnellstraße gibt ein Gefühl von Weite. Von hinten leuchtet immer noch die tiefergehende Sonne. Der Duft der Wiese mischt sich mit dem Duft von Salz, das ihm auf der Haut liegt. Die Luft ist feucht und dicht. Frei und leicht geht er, wie eingewoben in ein beginnendes Glück, als sei das Mädchen noch immer neben ihm, als streife der Stoff ihres Sommerkleids seine Fingerspitzen.
Die Richtung muss in etwa stimmen, das Meer liegt ihm im Rücken. Weiter vorn kommt ein Tunnel. Pascal steigt über die Leitplanke, stellt sich auf und hält den Daumen auf Hüfthöhe. Wieder an der Straße. Der Wind weht lau. Grillen lärmen im Ginster. Pascal meint, den Asphalt zu riechen. Er muss nicht weit, dennoch ergreift ihn voll die bekannte Verwegenheit: Autostopp, ganz wie immer, als wäre er so frei wie noch im letzten oder vorletzten Jahr.
Die Autos kommen die Böschung herauf, sind schnell. Man sieht ihn spät und hat dann in der beginnenden Kurve nur den Seitenstreifen. Halten dürfen sie hier nicht, aber jemand wird es tun, das ist immer so. Unklar auch, wohin die Straße führt. Immerhin weg vom Meer, ganz falsch kann es nicht sein. Eine Straßenlaterne geht über ihm an.
Es gibt diese Möglichkeit: Wenn das Mädchen von vorhin vorbeikäme mit seiner Clique. Solche Zufälle hat es hier und da gegeben. Wie das wäre, wenn ein Auto hielte, dann eine Tür aufginge, und er muss sich dann zu ihr und ihren Freundinnen hineinzwängen, ganz dicht neben das Mädchen, weil eigentlich kein Platz mehr frei ist. Der Wunsch gewinnt Kontur, drängt sich vor, als wäre mit ihm etwas zu erreichen.
Es ist bisher nicht kalt. Die Autos fahren zu schnell. Irgendjemand wird ihn dennoch mitnehmen, er kennt das.
Oder aber: wenn niemand ihn mitnimmt wird er umkehren müssen, ein Zimmer finden für die Nacht. Und dann wird er sie vielleicht dort wieder treffen, die eine. Sie werden sich gegenüberstehen, werden verstehen müssen, dass das Schicksal es nicht anders wollte, werden lachen und dann sich gehören für diese Nacht, ohne an eine Zukunft denken zu müssen. Fast wünscht er, dass niemand hält.
Dann aber doch: Ein Auto kommt weit hinten auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Der Fahrer setzt sogleich zurück, beugt sich zur Beifahrerseite und öffnet ihm schon die Tür. Es ist wie immer: Wenn es muss, geht es.
„Béziers?“
„Monte, je te ramène.“
Auf der Beifahrerseite hängt die Sonnenblende lose im Gelenk. Im Fach hinter dem Schalthebel klemmt eine Dose Limo. Das Innenlicht geht nicht mehr ganz aus, von oben kommt es schummrig, auch nachdem die Türen geschlossen sind. Das Lenkrad hat Spiel. Ganz dunkel ist es jetzt draußen. Er sieht im Lichtkegel der Scheinwerfer einige Meter voraus, seitlich dagegen nichts, nur sich selbst schwach in den Scheiben. Pascal lehnt sich in den Sitz.
Er bringe ihn hin, hat der Mann gesagt. Wohin führt aber dann die Straße?
Der Fahrer sitzt krumm hinterm Lenkrad und lächelt gewinnend mit seinen verrotteten Zähnen. Scheu und fast ängstlich. Er nickt ein zweites Willkommen, dann langt er mit einem Arm herüber und versucht, die Sonnenblende zu fixieren, ohne dabei den Blick von der Straße zu nehmen.
Gleichförmig ziehen sie dahin. Es schläfert fast ein, jedenfalls regen sich Träume. Das Meer, die Bedeutung des Ortes und die verflogene Begegnung verschwimmen in ein Gefühl, von dem Pascal wünscht, es möge nicht so bald enden, wenngleich es im herkömmlichen Sinn nicht freudvoll ist.
Er hätte nicht an dem Mädchen vorbeigehen sollen. Was könnte dann sein, stattdessen! Er könnte in diesem Moment, genau jetzt könnte er an ihrer Seite stehen. Ihre Füße dicht neben seinen könnte sie mit den Zehen Halbkreise ins Wasser schreiben, könnte dann aufschauen und etwas sagen. Sie hat ja doch wirklich gelächelt, als er an ihr vorbeiging. Er malt sich aus, was hätte sein sollen: Wie sie seine Hand nimmt. Wie sie beieinander stehen, bis zu den Knien ins Meer gehen und sich hastig aneinander klammern, wenn die Wellen über die hochgekrempelten Kleider schlagen. Wie er ihr erzählt, dass hier, an genau dieser Stelle, sein Leben begonnen hat. Immer noch meint er, Salz auf seinen Lippen schmecken zu können.
Aber so ist es nicht, sondern jemand bringt ihn im Auto zurück zu seinem Hotel, und auch das ist ja gut so. Es läuft. Der Fahrer versucht, das Gelenk der Sonnenblende in die Verankerung zu drücken.
Dann aber: Pascal fährt auf, wehrt ab, ohne zu berühren, da hat der Mann beide Hände bereits wieder am Lenkrad. Auch Pascal sitzt augenblicklich wieder steif. Dazwischen war etwas, und es ist schnell gegangen. Noch mal von vorn: Ist es so gewesen, dass der Fahrer seine Hand auf Pascals Schenkel gelegt und zärtlich darüber hinweggestrichen hat? Und dann hat doch Pascal einen Laut ausgestoßen, hat doch einen dieser Laute hervorgebracht, die man mehr sieht als hört, und hat die Arme gehoben, nicht hoch, als wollte er Ungeziefer abschütteln und mit derselben Absicht, die Hand auf seinem Bein nur ja nicht anzufassen. Und hat er dabei nicht eine entrüstete, angewiderte, zornige, panische Grimasse gezeigt, eine bei Lichte besehen peinlichen Fratze, die das alles zugleich ist, und von der er jetzt hofft, niemand habe sie gesehen. Längst ist die fremde Hand wieder fort, ein wohl entschuldigendes Gemurmel ist vielleicht zu hören gewesen und hat es ungeschehen machen sollen. Pascal sitzt unbeweglich, aufrecht wie zum Sprung. Es ist doch eben so geschehen. Man sitzt noch immer da, unverändert derselbe, aber mit einem Mal weiß man nicht mehr, was kommen wird.
Pascal sieht auf die kurze Spanne Wegs, die der Lichtkegel der Scheinwerfer ausleuchtet. Aus dem Dunkel hervortretende, dann näher kommende Schilder zieht er mit den Augen an, als könnte er so die verbleibende Strecke verkürzen. Da: Béziers! Rechts ab. Der Fahrer blinkt nicht. Schon sind sie vorbei.
Wie eben noch die bloßen Füße im Sand steckten, von den Wellen flach umspült: Ganz gegenwärtig scheint das. Als müsste er es packen und zurückholen können.
Der Mann am Lenkrad ist nicht groß, er sieht schwächlich aus, weit eher unbeholfen als kaltblütig.
Pascal richtet den Blick nach vorne ins Freie hinter der Scheibe, die sein Gesicht spiegelt. Seine Sinne sind geweitet. Im Augenwinkel will er genau wissen, was der Fahrer tut.
Wieder leuchtet ein Straßenschild auf. Pascal bemerkt seine Hände, die sich am Sitz festkrallen, löst sie und legt sie sich auf den Schoß, deutet dann nach vorn, nur mit dem Kinn. Es soll doch jedenfalls nicht furchtsam klingen, wenn er nun sagt: „Béziers.“
Noch immer rechts ab. Wieder vorbei.
Der Mann am Lenkrad wischt mit der Hand geradeaus: „Non, non, c’est plus vite.“ Dann schaut er Pascal an, kümmert sich für Sekunden nicht um die Fahrbahn. Er schaut ihn an, lacht breit, nimmt sich die Zeit. Pascal weiß plötzlich, dass er einmal nur diese Zähne in Erinnerung behalten wird, fleckig und lang, ohne Zahnfleisch. Für einen Moment ist er außen, sieht sich und den Mann wie von oben: Später, wenn es vorbei sein wird, wird er sich an die Zähne erinnern, so denkt er in diesem Moment, als wäre die Last schon abgelegt. Dann ist die kurze Freiheit wieder weg. Er sitzt hier, die Hände im Schoß und es scheint gar nicht, dass das je wieder anders wird. Vollständig füllt es aus. Wann biegt der Mann endlich ab?
„Du bist ganz jung.“ Der Mann grinst wieder rüber.
So einer haust in einem elenden Loch, unaufgeräumt, siffig, ohne Zweifel, ganz wie die abgelebte Karre, in der sie gefangen sitzen. Ein dreckiger Mensch. Das sind Leute, die dir in der Menge hinterherlaufen, um dir von hinten an die Eier zu fassen. Die dich unter die Brücke ziehen wollen, ums da zu treiben. Dass auch so einer ich zu sich sagt!
„Dreißig.“ Es kostet keine Überwindung, aufzurunden.
„Oh. Ich dachte: neunzehn.“
Pascal lacht oder hustet wie entschuldigend, ohne den Mann anzusehen. Er hat ihn im Augenwinkel, und es stimmt, er ist schmächtig.
Sie überholen niemanden, kaum einer kommt entgegen. Rechts und links ist wenig zu erkennen, es ist dunkel, er sieht es nicht genau, anscheinend Wald. Die Sonnenblende wippt schief im Gelenk.
Ein Straßenschild, und wieder eins: Béziers. Zweimal. Unverändert rechts ab.
Ein absurdes Bild steigt vor ihm auf: Wie der Mann seinen Körper danach und noch diese Nacht ins Meer wirft, dort bei den braunen Klippen. Wie sie dann alle kommen, Mutter! Vater!, suchend herumgehen und niemanden mehr finden. Es ist Unsinn und der Spuk bleibt nicht lang. Pascal wünscht nur, dass auch die Hitze, die ihm ins Gesicht gestiegen ist, ihn wieder verlässt.
Der Mann schaut ihn groß an, schaut wieder voraus auf die Straße, dann wieder herüber zu ihm: „Ich bin kein Strizzi.“
Es tönt fast echt, als Pascal erneut lacht statt einer Antwort. Das erleichtert, obwohl es klemmt zwischen Brust und Kehle. Angst? Kein Gedanke. Haha. „Nur weil …ähm…“ An die Stelle von Worten setzt er eine beidhändige, weit ausgreifende, undeutlich erklärende Geste. Man fragt sich nur eben, so erläutert die Geste: Da geht es zum Ziel, fragt man sich. Warum biegt einer dann nicht ab. Man interessiert sich, das ist alles. Pascal sieht seine wedelnden, abwiegelnden Hände vor seinem Gesicht als gehörten sie nicht mehr zu ihm, und dann muss er denken, wie lange er sie noch frei wird bewegen können. Er will raus.
„Verstehe“, sagt der Mann entgegenkommend.
Dann klackert der Blinker und sie biegen ab, wirklich auch rechts. Aber jetzt ist da nichts mehr, kein Leitpfosten, kein Schild. Die Räder rumpeln über Kopfsteinpflaster. Am Straßenrand eine lange Mauer ohne Tor, dann wieder nichts als Gebüsch, das an der Karosserie kratzt. Auf dem Beifahrersitz Pascal: Schlank, sportlich, groß gewachsen. Klebrige Finger, pochender Puls. Die Pupillen geweitet, das kommt vom Dämmerlicht. Er ist jung, gesund, nur das Herz schlägt zu schnell. Er kann noch viele Jahre leben.
Ein heftiger Drang ergreift ihn aus der Mitte seines Körpers. Es erscheint ihm mit einem Mal verlockend wie ein befreiendes Weinen, allen Anstand fahren zu lassen, sich zu erniedrigen, bloßzustellen, und den Mann um Schonung anzuflehen. Sich im Betteln mit ihm gemein zu machen. Loszulassen, die starre Anspannung über Bord zu werfen, etwas tun, wenigstens heulen wie ein Kind oder ein Tier. Er bleibt aber still, atmet nur tiefer, noch hält der Damm.
Dann ist es vorbei. Wie wenn du vom Sprungturm springst und dann ist unten das weiche Wasser. Wenn du fällst ohne Boden, und der Fallschirm öffnet sich. Lichter sind da: Straßenlaternen, Behausungen. Leichtes, fröhliches Dasein rundum. Gleich sind sie oben am Platz bei der Kathedrale. Wie klein die Stadt ja doch ist! Da drüben sieht Pascal auch das Hotel, schlicht, billig, zentral, er deutet darauf. Einen Augenblick lang ist es eine neue Geburt. Im nächsten Moment schon war es nie anders. Das Auto steht noch nicht, da ist bereits alles Böse aus seiner Nähe abgefallen, lachhaft und unecht geworden, kaum schon mehr denkbar.
Pascal hat den Rucksack aufgesetzt, beugt sich zum Abschied wieder ins Auto hinein, quer über den Beifahrersitz ein letztes Mal zu dem Mann, gibt ihm die Hand und drückt fest, jetzt endlich doch von großer Dankbarkeit erfüllt für alles, was ihm nicht geschehen ist. Der Mann schaut Pascal lange an, als wollte er sich sein Bild für immer einprägen. Er weiß, dass es nicht erlaubt ist, dem Jungen noch einmal, auch nur zum Abschied, zart über die Wange zu streichen, und er reibt sich nur selbst mit dem Handballen an der Schläfe. „Bonne Chance“, sagt er dann, und reißt sich los.
Pascal schlendert über den erleuchteten Platz zum Fastfood, Leuchtreklame weist ihm den Weg. Beim Gehen summen ihm plötzlich die Knie, während doch alles schon so fern, so vorbei ist und die geschäftige Zivilisation den Mensch längst wieder hat.
In den weißgekachelten Raum und ins Licht tritt er, steht dann an der Theke und nennt seinen Wunsch. Lässig steht er da, eine Hand am Tresen, einen Fuß auf der Stufe eines Barhockers, sicher und gewöhnlich, als sei es wie jeden Tag. An einem Tisch in der Ecke kauert ein Mann mit verlebtem Gesicht und wischt träge über sein Smartphone. Ein Siebzehnjähriger steht breit in der Tür, jetzt kommen auch seine Freunde und stellen sich forsch und federnd mit ihm in der Reihe an. Jemand setzt sein Glas auf den Tisch und wird wohl gleich gehen. Der Stolz des Abenteurers wirft einen unbestimmten Abglanz auf Pascal, der einen erhabenen Moment hat, als ihm klar wird, wie sie alle hier nicht ahnen, dass er eben noch hart am Abgrund gestanden hat.
Der Mann hinter der Theke reicht ihm den Burger. Es schmeckt nicht gut, aber vertraut.
Pascal denkt wehmütig an das Mädchen, deren Bild jetzt verblasst.
Der Mann mit den schlechten Zähnen ist unterdessen auf dem Weg nach Hause. Er muss denselben Weg zurück. Er biegt auf die Schnellstraße ein, drückt die Sonnenblende in die Verankerung und legt dann schwer die Hand auf den leeren Beifahrersitz. Für einen Moment schließt er die Augen und spielt mit dem Gedanken, sie einfach nicht mehr zu öffnen, so lange, bis etwas passiert. Aber das wagt er nur, weil er genau weiß, er könnte es gar nicht, selbst wenn er wollte.