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Der alte Straßenkehrer auf dem Spielplatz
Theo nimmt den verwelkten Strauß aus der Vase, schüttet die stinkende Brühe weg und füllt mit der Gießkanne frisches Wasser nach. Es ist Mitte Oktober und ihre Lieblingsblumen blühen noch immer. Die hochstieligen Sonnenblumen mit den herzförmigen Blättern und den leuchtend gelben Blüten bilden einen schönen Kontrast zu der weißen Granitplatte. Weiß und gelb - katholisch, Hannelores Kirchenfarben. Sein Blick wandert zum Grabstein mit dem Flügelrelief eines Engels. Ein Hauch von Blütenstaub hängt in den filigran gehauenen Federn. Von den Brennnesseln am Bahndamm, denkt er. Theo nimmt die Gießkanne und lässt Wasser über den weißen Granit laufen. Ockerfarbene Rinnsale fließen aus den Steinfedern, sammeln sich zu einem trüben See auf der Grabplatte. Glitzernde Wassertropfen bleiben in der bronzenen Beschriftung hängen. Er nimmt ein Tuch und trocknet sorgsam Buchstabe für Buchstabe.
Hannelore Lasser
12.03.1959 - 28.9.2011
Anschließend wischt er die Grabplatte mit dem Lappen trocken. Zufrieden verabschiedet er sich: „Bis bald meine Liebe."
Mit ausholenden Schritten läuft er über den Kiesweg zum Ausgang.
Dreißig Jahre lebten sie miteinander. Nach der Silberhochzeit der Befund - Multiple Sklerose. Hanne tröstete ihn. „Es gibt Menschen, die MS haben und trotzdem alt werden." Sie gehörte nicht zu ihnen. Die Schübe wurden von Mal zu Mal heftiger. Die Entzündung schritt schnell voran. Sie wurde immer weniger. Zum Schluss war Hanne so schwach, dass er ihren Rollstuhl schieben musste. Ihr geschwächter Körper verlor den Kampf gegen eine Lungenembolie.
Sorgsam schließt er das schmiedeeiserne Friedhofstor, holt den Autoschlüssel aus der Hosentasche und verstaut Gießkanne und Putzeimer im Kofferraum. Kurz denkt er daran, nach Hause zu fahren, um den Rasen zu mähen. Doch die Lust, an diesem schönen Spätsommertag einen Spaziergang zu machen, ist stärker. Die Gartenarbeit muss warten.
Er läuft über den Marktplatz, sein Blick bleibt an den achtlos weggeworfenen Kippen hängen, die auf dem Kopfsteinpflaster liegen.
Wie oft hat er hier mit Schaufel und Besen den Platz gekehrt und zwischen den Steinen die Zigarettenstummel herausgepult? Theo erinnert sich … an seinen ersten Arbeitstag. Um sechs Uhr hieß es anfangen. Der Chef drückte ihm eine Holzschippe in die Hand und er schaufelte Parkbuchten und Bushaltestellen frei. Zu der Zeit gab es noch viel Schnee. Wenn die Buben mittags von der Schule kamen, bauten sie Iglus in die zur Seite geräumten Schneemassen.
Gedankenversunken geht er weiter. Links, in der Parkbucht, sieht er einen Bauwagen stehen. Theo denkt an die vielen Stunden, die er mit seinen Kollegen darin verbrachte. Immer, wenn das Wetter stürmisch wurde und der Regen kübelweise vom Himmel fiel, saßen sie im Bauwagen.
„Bei Sauwetter", so hatte der Chef erklärt, „lieber ein paar Stunden nix tun, als krank werden!“ Ja, dachte Theo, der war halt selbst auf dem Bau, nicht wie heut, da sind das lauter Studierte.
Sein Kollege und er waren froh, einen solchen Chef zu haben. Theo seufzt bei dem Gedanken an den alten Kumpel. Vierzig Jahre hatten sie zusammengearbeitet. Zwei Wochen, nachdem sein Freund in den Ruhestand ging, half er dem Schwiegersohn auf der Baustelle. Dabei fiel er kopfüber vom Gerüst. Nicht ein einziges Mal hielt er seine Rente in den Händen.
Genug der trüben Gedanken, mahnt sich Theo. Er umrundet die hohe Thujahecke, die den Spielplatz umschließt. Vor langer Zeit hatten seine Kinder hier herumgetollt. Damals war der Platz erfüllt von Geschrei, Lachen und den besorgten Rufen der Mütter. Jetzt ist es still. Er schaut sich um. Alles wurde erneuert. Da ist eine größere Schaukel. Die alte Rutsche ist weg, an ihrer Stelle steht jetzt ein Holzturm Sein Blick bleibt an dem Sandkasten hängen, der sich noch an der gleichen Stelle befindet wie damals. Theo freut sich darüber, setzt sich auf eine Bank in der Nähe. Ein einzelnes Kind kniet zwischen Eimern und Förmchen im Sand.
„Viola! Der Papa kommt gleich und holt uns ab." Die junge Mutter sitzt auf einer Bank gegenüber.
Theo hebt grüßend die Hand. Die Frau beachtet ihn nicht. Ihr Blick ist auf das Mädchen gerichtet. Die Kleine nickt als Zeichen, dass sie ihre Mutter verstanden hat. Voller Eifer und mit geröteten Wangen backt sie einen Sandkuchen nach dem andern. Sie erinnert Theo an seine Tochter Lara. Wie sie Förmchen um Förmchen füllte. Den ganzen Nachmittag konnte sie im Sandkasten verbringen. Das kleine Mädchen hat die gleichen blonden Locken wie Lara, als sie in dem Alter war. Ihm fällt auf, dass die junge Frau ihn mustert. Ihr Blick ist auf seine Knie gerichtet, nein … zwischen seine Beine! Theo folgt ihrem Blick, sein Reißverschluss steht offen. Langsam werde ich senil, denkt er. Peinlich berührt zieht er den Hosenladen zu. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie die Frau auf ihn zukommt. Theo hebt den Kopf, als sie vor der Bank steht. Ihr Gesicht macht ihm Angst.
Ihre Augen sind weit aufgerissen, mit starrem Blick schaut sie auf ihn hinunter.
"Hau bloß ab!", schreit sie. "Was fällt dir ein, meine Tochter so anzuglotzen."
Entsetzt starrt Theo die Frau an. Warum ist sie so wütend auf ihn? Er steht auf. Nur weg von dieser hysterischen Furie.
„Papi, Papi!"
Die Frau dreht sich um. Auch Theo sieht jetzt den Vater, der mit großen Schritten den Spielplatz überquert.
„Gut, dass du da bist. Dieser alte Perverse hat gerade seine Hose zugemacht. Er hat die ganze Zeit unsere Tochter beobachtet."
Der Mann verstellt Theo den Weg.
„Ich, ich …" Theo weiß nicht, was er sagen soll.
„Er soll verschwinden! Typen, wie der haben auf dem Spielplatz nichts zu suchen", sagt die Frau und stemmt die Hände in die Hüften.
„Geh mit Viola ins Auto", unterbricht sie der Mann. „Ich regle das hier schon."
Seine Augen sind zu Schlitzen zusammengepresst. Theo ist wie gelähmt vor Angst, starrt auf die Schlagadern am Hals des Mannes, die eisblau hervortreten.
„Verschwinde! Sofort! Und wenn ich dich noch einmal hier sehe, dann prügle ich dich windelweich." Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gibt der Mann Theo einen Stoß, dass dieser nach hinten fällt und hart mit dem Kopf auf der Bank aufschlägt.
Sandra Nolke schlägt die Tageszeitung auf. Sie erschrickt, als sie den Polizeibericht liest.
Für den Vorfall, der sich letzte Woche auf dem Kinderspielplatz in der Hahngasse ereignet hat, werden Zeugen gesucht. Ein 69-jähriger Rentner wurde von einem Mann (ca. 40 Jahre, braunes Haar, ca. 1,85 m groß, Brillenträger) gestoßen und hat infolge des Sturzes schwere Kopfverletzungen erlitten. Wer Angaben machen kann …
Sandra lässt die Zeitung sinken.
Das kann doch nicht wahr sein. Marco hat diesem Pädophilen doch nur klargemacht, dass er auf dem Spielplatz nichts verloren hat. Geschieht dem doch ganz recht, dass er verletzt ist. Sandra steht auf, läuft unruhig hin und her. Sucht die Polizei schon nach Marco? Hat jemand die Szene auf dem Spielplatz beobachtet? Nein, sagt sie sich. Nein. Da war niemand. Vielleicht hinter einem der Fenster des Wohnblocks? Das wäre möglich. Oh Gott! Verzweiflung steigt in ihr auf. Was, wenn es zu einem Prozess kommt und ihr Mann wegen Körperverletzung verurteilt wird? Bei dem Gedanken wird ihr übel. Dann ist Marco mit Sicherheit seinen Job los. Am Ende sperren die ihn noch in den Knast. Nein. Da war nur eine Platzwunde an seinem Kopf. Harmlos. Wieso schreiben die in der Zeitung — bewusstlos und schwer verletzt? Beruhige dich, mahnt sich Sandra. Denk nicht daran. Denk da jetzt nicht dran! Zwei Schritte und sie steht am Fenster, blickt durch die zugezogene Gardine auf die Straße. Ist die Polizei schon da? Verzweifelt läuft sie ins Schlafzimmer, um auf der anderen Straßenseite nachzuschauen. Nein, es ist kein Streifenwagen, der in die Straße einbiegt. Wütend wirft sie die Lapislazuli-Obelisken um. Die Deko landet krachend auf dem Boden. Was hatte Mama gesagt: „Sie sollen alle Sorgen vertreiben und dich beschützen." Verzweifelt schlägt sie beide Hände vors Gesicht, atmet tief ein. Sie muss zu dem Alten gehen, mit ihm reden. Ihn davon überzeugen, dass Marco ihm nur Angst einjagen wollte.
Sandra hetzt zurück ins Wohnzimmer, greift nach der Zeitung. Hier steht es: Der Mann wurde ins Krankenhaus eingeliefert.
Wie gut, dass heute Oma-Tag ist. Ihre Mutter bringt Viola erst um 18:00 Uhr nach Hause. Bis dahin ist Sandra wieder zurück.
Als Theo wieder zu sich kam, lag er im Krankenhaus. Tastend fühlten seine Hände nach dem Verband um seinen Kopf.
Eine Krankenschwester stand an seinem Bett. „Wie geht es Ihnen? Haben Sie Schmerzen? Der Arzt wird gleich kommen, und die Polizei hat ein paar Fragen an Sie."
Theo spürte einen pochenden Schmerz am Hinterkopf und sein Rücken tat weh. So viele Bilder in seinen Gedanken: Das Kind im Sandkasten, die wütende Frau, der Mann, der ihn gestoßen hat. Die Angst war wieder da.
„Soll ich Ihnen ein Schmerzmittel bringen?“, fragte die Krankenschwester.
Theo hatte eine schwere Gehirnerschütterung, eine Platzwunde am Hinterkopf und Prellungen an der linken Schulter und dem Handgelenk.
So die Diagnose des Arztes. Von den beiden Polizisten erfuhr er: „Zwei Kinder fanden Sie auf dem Spielplatz. Die Eltern hatten uns und den Notarzt verständigt."
Ihm war übel, er musste sich übergeben. Die beiden Polizisten würden wiederkommen.
Ein Klopfen an der Tür lässt Theo aufschrecken. „Herein!" Zu seiner Überraschung waren es nicht die Polizisten, sondern die junge Frau vom Spielplatz, die jetzt eintrat.
„Was wollen Sie hier?", fragt er verständnislos.
„Ich möchte Sie …", setzt die Frau an. Theo sieht sie schlucken und wie sie nervös ihre Hände knetet. „Ich möchte Sie bitten, meinen Mann nicht anzuzeigen", bringt sie den Satz schließlich zu Ende.
Sie war so leise, dass Theo genau hinhören muss, um ihre Worte zu verstehen.
Er versucht sich im Bett aufzusetzen, was ihm Schmerzen bereitet. „Junge Frau, ich bin kein Perverser oder Pädophiler, für was auch immer Sie mich halten. Ich war auf dem Spielplatz, weil meine Kinder dort gespielt haben. Es ist ein Ort der Erinnerung für mich. Ihr Lachen, ihr Spiel. Sie vermitteln so viel Lebensfreude. Meine Tochter und mein Enkelkind leben im Ausland."
„Und warum war dann ihre Hose auf?“, flüstert die Frau.
Theos Lippen verziehen sich zu einem verlegenen Lächeln. „Ein Missgeschick. Ich werde langsam schusselig da oben." Er tippt sich an die Stirn.
Theo sieht, wie erst ihre Lippen, dann der ganze Körper zu zittern beginnen, wie ihr Tränen in die Augen steigen.
„Darf ich mich setzen?"
Seine Hände verkrampfen sich in der Bettdecke. Am liebsten würde er sie über den Kopf ziehen. Stumm blickt er auf das Beben ihrer Schultern, wie sie die Hände auf den Mund presst, um das Schluchzen zu unterdrücken. Haltsuchend lehnt sie sich gegen die Wand. Nach einem letzten tiefen Ausschnaufen beginnt sie zu erzählen.