Der alte Kornspeicher
Als Knabe bin ich in einem kleinen Dörfchen auf dem Lande fernab vom Weltgebrause aufgewachsen. Auf einer Weide stand ein alter Kornspeicher in dem ich mich gerne versteckte wenn ich alleine sein wollte. Dort, im schummrigen Licht, besuchte ich in eine mystische Welt.
Hoch oben auf den Dachpfettenbalken herrschte das Reich der Säcke. Sie lagen dort in hohen Stapeln. Nahe der Türe die Neuen und Jungen, dann die Gebrauchten und dann ganz, ganz hinten, ganz, ganz oben die ganz, ganz alten Säcke. Sie lagen dort schon seit unabsehbaren Zeiten, hoch mit grauem Staub bedeckt und ihnen oblag die Last der Herrschaft über das Reich der Säcke. Wie alt sie wirklich waren, wie sie dort hin gekommen waren und wann sie das letzte mal benutzt worden waren, das wussten eigentlich nur noch sie selbst. Und Sie wussten um große Geschichten, hehre Gesetze und letzte Wahrheiten, die sie trefflich zu erzählen vermochten und die sie die anderen lehrten. Nun waren die anderen oft leer und schlapp von der vielen Arbeit und hingen müde von den Pfettenbalken, letztlich froh, dass ihnen die Herrschaftspflichten nicht auch noch aufgebürdet wurden. Brav gehorchten Sie den Geboten und Lehren der alten Säcke wenn sie ihnen auch manchmal wunderlich oder grausam vor kamen. Schließlich waren es ja die alten Säcke, die diese beraten, erwogen und beschlossen hatten und die wussten immerhin so viel von der Weisheit der Säcke, dass man ihnen glauben musste. Manchmal, aber nur manchmal widersprach ihnen ein Sack oder verweigerte gar den Gehorsam. Da war die Aufregung groß im Reich der Säcke. Die Ordnung, der Friede, das Gesetz, ja die ganze Welt der Säcke war in Gefahr! Hier nun mussten die alten Säcke Ordnung schaffen. Meist waren es junge, noch wilde und starke Säcke, die unter dem Einfluss dessen was sie bei der Arbeit gesehen und in der Welt gehört hatten, in ihrer ungebärdigen Kraft und bei ihrer geringen Erfahrung die falschen Schlüsse zogen. Was wussten sie denn schon was das Leben ist! Nassforsch und anmaßend waren sie! So mussten die alten Säcke diese jungen wilden Übeltäter, wenn sie mildem Zureden, freundlichen Ermahnungen oder einem strengen Verweis nicht zugänglich waren, kräftig ausklopfen, durchschütteln oder gar waschen lassen bis sie zur Einsicht kamen. Weit seltener aber weit schlimmer war es wenn ein älterer gestandener Sack ausfällig wurde. Von ihm konnte man erwarten, dass er das Leben eines Sackes und seinen Platz kannte. Mag schon sein, dass er müde, schlaff und löchrig war, ihm das eine oder andere schwer fiel, aber ein gestandener Sack muss wissen was sich gehört! Wenn er also rebellisch, schlimmer noch ein Nestbeschmutzer wird, dann muss zum Schutze des Ganzen hart durchgegriffen werden. Entweder muss er vom Speicher fliehen oder er wird in den Ofen geworfen und verbrannt! Dies auch zum schauerlichen Exempel den anderen, damit sie fürderhin vor solchen Irrlehren und dem Revoluzzertum gefeit seien.
Manchmal verirrte sich ein Mäuschen auf die Balken des Kornspeichers. Es krabbelte mal hierhin mal dorthin, schnüffelte und kratzte und ganz, ganz selten landete es ganz, ganz hinten in der Ecke des Kornspeichers auf den alten Säcken. Die waren dick mit grauem Staub bedeckt und das Mäuschen musste schauerlich niesen wenn es schnüffelte und kratzte und machte sich dann schnell davon. Den anderen Säcken wurde dann schon einmal wunderlich zu Mute, wenn sie genau hinschauten wo das Mäuschen gekratzt und geschnüffelt hatte. Die alten Säcke waren nicht grau und leer - nein – manche waren schwarz, manche waren braun, manche waren gülden, andere wieder blutig rot. Aber alle alten Säcke waren recht prall und nicht verschlissen. Seltsam wie sie sich doch von den anderen Säcken unterschieden. Ganz selten geschah es, dass ein alter Sack von der Pfette stürzte und zerriss. In einer großen Staubwolke kamen dann so seltsame Dinge zum Vorschein. Zum Beispiel verkohlte Knochen, geronnenes Blut, Kruzifixe oder Ritterkreuze, alte Bücher und Papiere, Gold, Weihrauch, Myrrhe und Edelsteine, Seelen von Kindern, Frauen und Männern, Waffen, Peitschen und Fesseln. Doch schnell legte sich wieder der dicke, graue Staub über die Dinge und alles war wie vorher. Den alten Säcken war das peinlich wenn unter ihrer Grauheit so etwas sichtbar wurde und es gehörte zum guten Ton darüber hinwegzusehen. Keiner wollte es sich mit den mächtigen alten Säcken verderben. Manchem der älteren, gebrauchten Säcke, die näher bei den alten Säcken lagen schwante dann etwas, was er vor langer Zeit von einem damals schon abgearbeiteten Sack bei der Arbeit unter dem Siegel der Verschwiegenheit gehört, aber nicht weiter geglaubt hatte. Ja es hatte schwarze Zeiten gegeben in denen alle Säcke schwarz sein mussten und in denen die Säcke, die nicht schwarz sein wollten, in den Ofen geworfen worden waren. Ja es hatte rote Zeiten gegeben in denen alle Säcke rot sein mussten und in denen die Säcke, die nicht rot sein wollten, in den Ofen geworfen worden waren. Ja es hatte braune Zeiten gegeben in denen alle Säcke braun sein mussten und in denen die Säcke, die nicht braun sein wollten, in den Ofen geworfen worden waren. Und hatte es nicht zu allen Zeiten güldene Säcke gegeben? Säcke, prall voll, die nie zur Arbeit hinaus mussten? Aber das wagte von den wenigen Säcken, die das wussten niemand weiterzudenken. Schließlich hatten sie alle Angst vor dem Ofen und müde waren sie, so müde von der vielen schweren Arbeit, und die alten Säcke wussten so viele schöne und weise Geschichten zu erzählen, hehre Gesetze und letzte Wahrheiten, das man schnell vergaß.
Aber das alles ist auch schon lange her. Wer braucht heute noch Säcke? Heute hat man Silos und Container und arbeitet in weltweitem Maßstab mit viel effektiveren Methoden. So war man irgendwann des alten Kornspeichers überdrüssig und hat ihn kurzerhand mitsamt den Säcken niedergebrannt und mit ihnen ihre vielen schönen und weisen Geschichten, ihre hehren Gesetze und ihre letzten Wahrheiten. Sicherlich sind noch einige pralle alte Säcke vorher von den Leuten mitgenommen worden und liegen nun in ihren Häusern in verborgenen Winkeln, träumen und erzählen heimlich von vergangenen herrlichen Zeiten. Einige sollen sogar in Argentinien, Chile, Paraguay und Amerika gesehen worden sein.
Auch ich habe damals einen der älteren, leeren und ausgebeulten Säcke, der von dem Balken herabgefallen war, mitgenommen. Er liegt irgendwo auf meinem Dachboden, grau und voller Staub. Wenn ich im schummrigen Licht meines Bodens stehe, dann höre ich ihn raunen vom Reich der alten Säcke und ihren vielen schönen und weisen Geschichten, ihren hehren Gesetzen und ihren letzten Wahrheiten und mich schaudert bei manch unglaublichen Erinnerungen.