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Der Abgrund
„Ich liebe Dich.“
Der Liebesschwur hallte noch deutlich in Iris´ Ohren, als sie die Steilwand hinab sah. Joachim sah nicht größer aus als ein Spielzeugmännchen, den Kopf in den Nacken gelegt, das Sicherungsseil in der Hand haltend.
Oh ja, eigentlich ein toller Typ. Athletisch, gut aussehend, vermögend.
Iris wusste, viele Leute beneideten sie. Beneideten sie wegen der Beziehung, die aus der gemeinsamen Liebe zum Klettern geboren worden war. Doch niemand ahnte, dass von der Traumbeziehung nicht mehr als ein erloschener Vulkan übrig war.
Er ist falsch – genauso falsch wie sein daher geredeter Liebesbeweis, der mich nur beruhigen soll.
Wie ist es überhaupt soweit gekommen? War es nur „die eine Sache“, die alles zerstört hat?
Sie blickte wieder nach oben. Es war nicht mehr weit bis zum Gipfel des Felsens. In Gedanken zählte sie die nächsten Bewegungsabläufe. Ja, mit vier Schritten sollte ich es schaffen ...
Iris drückte ihren Körper an den schroffen Fels. Die Muskeln an ihrem narbenübersäten Unterarm schmerzten – kein Wunder, hielt sie sich doch nur mit sieben Fingern und ihren Füßen an der Wand.
Nie hat er gefragt, warum ich mich ritze – nicht ein einziges, verdammtes Mal sah seine Miene so aus, als wolle er es mich fragen. Abgewendet hat er sich, jedes Mal, und ist zu ihr – der Nachbarin. Jeder Schnitt ein Besuch - jede Narbe eine Erinnerung an die Tränen.
Vorsichtig löste Iris ihre rechte Hand. Tastend glitt sie über das Gestein, bis sie eine Öffnung erreichte, die groß genug war. Wie Haken klammerte sie ihre Finger in die Ritze.
„Du schaffst das!“ Joachims Stimme war nicht mehr als ein fernes Wispern.
Und ob ich das schaffe!
Mit einem Ruck zog sie sich hoch. Unter der Anspannung hoben sich die wulstigen Narben auf ihrem Arm. Ein Ekelgefühl überkam Iris, als sie daran dachte, mit dem Kern des Übels noch über das Seil verbunden zu sein.
Noch drei Anstiege ...
Unvermittelt blies ihr eine Windböe Staub ins Gesicht.
„Bitte nicht jetzt“, flüsterte Iris.
Sie drehte den Kopf zur Seite, sodass ihr Haar neben ihrer Wange flatterte wie eine Fahne. Blinzelnd schielte sie nach oben – und war erleichtert.
Nur einen halben Meter über sich erblickte sie einen kleinen Vorsprung und direkt darüber noch einen. Beide lagen im Schatten eines kleinen Baumes, der an der oberen Felskante wuchs.
So gut es ging, versuchte sie einen Moment zu entspannen und ließ den Kopf sinken. Mit gespreizten Beinen hing sie an der Wand – dazwischen das blaue Sicherungsseil.
Vorsichtig drückte Iris ihr Becken ein Stück weiter ab, um besser sehen zu können. Tief unter sich, die mit gelbem Löwenzahn bewachsene Wiese – und Joachim. In der einen Hand hielt er das Seil, doch in der anderen ...
Telefoniert er etwa mit ihr? Wut kochte in Iris hoch.
Klettere weiter. Schau nicht hin.
Sie zog ihre rechte Hand aus dem Riss. Sofort begann sie zu pendeln.
Reiß dich zusammen, Iris!
Aus den Augenwinkeln fiel ein weiterer Blick in die Tiefe. Joachim stand noch immer, Richtung Tal gewandt, telefonierend am Fuße des Berges, das Seil achtlos in seiner freien Hand haltend. Als ob er ein Hündchen Gassi führt.
Iris presste die Lippen aufeinander. Tief ein- und ausatmend streckte sie ihren Arm aus, ließ ihre Finger über den Vorsprung gleiten, bis sie die richtige Position fand. Wirklich die richtige Position?
Iris versteifte. Angst kroch aus einem tiefen, schwarzen Loch empor und wollte die Kontrolle übernehmen. Wie so oft in letzter Zeit.
Ein weiterer, tiefer Atemzug, dann wagte sie den Aufstieg.
Noch zwei.
Ihr Atem ging stoßweise. Ist es die Wut - oder nur Anstrengung? Iris vermochte es nicht zu sagen. Ihr Kopf fühlte sich leer an.
Ein Kind will er! Hat er letztes Jahr gesagt.
Iris schaute wieder auf ihre Narben. Die jüngste von letzter Woche - die älteste, die blassrosa direkt über ihrem Handgelenk verlief, knapp elf Monate alt.
Wie schön es wäre, all die quälenden Gedanken einfach dem Wind überlassen zu können.
Iris hörte ein Schaben, das in ein Poltern überging. Es dauerte eine Sekunde, bis sie registrierte, was passierte. Da war das hellgraue Etwas, das auf sie zuschoss – der Stoß auf ihrer Schulter. Iris riss die Augen auf, ihr Herz setzte für einen Schlag aus.
Zur Seite, schrie ihre innere Stimme gegen die Panik an, die ihr einen eisigen Schauer bescherte.
Sie sah hinauf zu dem verdorrten Baum, unter dessen Wurzeln sich Steine lösten, als der Wind an den knorrigen Ästen zerrte und ihn schüttelte. Angsterfüllt warf sie einen erneuten Blick in die Tiefe – auf Joachim, der noch immer telefonierte.
Vergiss ihn, schrie die Stimme. Der Vorsprung ...
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Über ihr lösten sich immer mehr Steine, die in die Tiefe fielen - und die dem einen großen Brocken, der zwischen der Wurzel hing, mehr und mehr Halt nahmen. Knirschend bewegte er sich auf den Rand zu.
Ohne nachzudenken, verlagerte Iris ihr Gewicht – spannte sich wie eine Feder und griff nach dem nächsten Vorsprung. Es fühlte sich an, als würde ihr Schultergelenk aus der Pfanne gezogen, als sie, an vier Fingern frei baumelnd, an der Wand pendelte.
Noch bevor sie die Entscheidung bereuen konnte, passierte es. Für einen Sekundenbruchteil herrschte Stille, bevor der handballgroße Steinbrocken neben ihr in die Tiefe rauschte.
Iris schrie auf, schrie, wie noch nie in ihrem Leben. Deutlich hörte sie die harten Schläge, als der Brocken gegen die Felswand donnerte.
„Iris ...“.
Sie blickte nach unten, sah Joachim hochschauen – das Telefon noch in der ausgestreckten Hand.
Nur noch einen ...
Iris schwang ihren malträtierten Arm nach oben, griff in die Grasnarbe und zog sich über die Felskante. Sich auf den Ellbogen abstützend robbte sie vorwärts, bis sie in Sicherheit war. Der Geruch der blühenden Wiese zog in ihre Nase. Ich lebe.
Sie spürte ein Ziehen an dem Seil.
Zu dir zurück? Niemals!
Ihre Hand fuhr in die Hosentasche und zog ein Taschenmesser hervor. Mit zittrigen Händen öffnete sie es.
Und jetzt, Iris?
Da war der Wald, der unmittelbar vor ihr lag. Ungewiss, ob es dort einen Weg gab und wohin er wohl führen würde, doch alles war besser, als einfach weiterzumachen – als eine Rückkehr zu ihm.
Die Schneide blitzte in der Sonne auf, als sie sie langsam auf das Seil zubewegte, um den ersten Schnitt zu machen – den ersten von vieren.