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Dem Licht ganz nahe
dem Licht ganz nahe
Die Nacht breitete ihre Dunkelheit aus, der Vollmond hing wie ein Wächter der Welt am Himmel, ohne wirklich Notiz von ihr zu nehmen. Gleichgültig betrachtete er die Szene, die sich unter ihm abspielte.
Man sagt, dass bei Vollmond mehr Verbrechen und Selbstmorde geschehen, als an anderen Tagen. Lutz nickte dem Mond grinsend entgegen, denn was er vor hatte, war wohl eine Mischung aus beiden, obwohl er sich weder umbringen noch materiell bereichern wollte. Er wollte nur den Kick erleben; die Grenze zwischen dem Dies- und Jenseits spüren. Je näher der Tod ihm war, desto lebendiger fühle er sich danach. Ohne das Schlechte existiert auch das Gute nicht, ohne Hunger ist man nie satt und ohne Tod kann es das Leben nicht geben.
Der rote Regionalexpress rollte langsam an und ließ den Bahnhof Plön hinter sich. Er fuhr dem märchenhaften Vollmond entgegen, der friedlich über dem Plöner See hing und sich in ihm spiegelte. Froh über den Gedanken in Lübeck endlich Feierabend zu haben, dachte Herr Wukler an seine auf ihn wartende Frau. „Nächster Halt: Bad Malente Gremsmühlen“, gab er mit gewohnt freundlicher Stimme über Lautsprecher durch. Ein kleiner, gelber Wagen hielt vor den Schranken. Ein Polo - Genau wie der seiner Frau. Herr Wukler, der von seinen Freunden Teddy genannt wird, lächelte zufrieden an seine Frau denkend vor sich hin.
Lutz konnte die Lichter des erwarteten Zuges erblicken und stellte sich auf die Gleise. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Blick fixierte den auf ihn zurasenden Zug. Langsam fing sein Puls an zu steigen. Ganz deutlich konnte er sein Herz spüren. Nur noch wenige Sekunden und er müsste sich entscheiden: Leben oder Tod? Eine Frage für deren Antwort ihm nur Bruchteile einer Sekunde bleiben würden. Nein, sterben wollte er nicht, aber ohne die Gefahr wollte er auch nicht leben.
Teddy sah einen jungen Mann auf den Gleisen stehen. „Na, du Schlafwandler, sperr mal die Augen auf!“, dachte der nichtsahnende Lokführer und hupte.
Ein gewohntes Geräusch hallte durch die Nacht. Der junge Mann in Lebensgefahr kannte dieses Geräusch. Das machen sie alle, wenn sie den verwirrt aussehenden Lutz auf den Gleisen stehen sehen. Es war sehr laut und schien jedes Mal das Selbe aussagen zu wollen: „Spring!“ Doch wie jedes Mal blieb Lutz stehen.
Der sonst so friedlich und ruhig wirkende Vater von zwei Kindern erschrak, als der junge Mann, auf den er immer noch ungebremst zufuhr, nicht von den Gleisen verschwand. Erst nach dieser Schrecksekunde zog er die Bremse, während er ein zweites Mal hupte. Doch bei dieser kurzen Distanz kam der tonnenschwere Personenzug nicht rechtzeitig zum Stehen.
Der junge Mann auf den Gleisen begann zu schwitzen. Sein Brustkorb hob sich höher als gewöhnlich. Seine Atmung blieb ziemlich ruhig, wurde nur intensiver. Lutz konzentrierte sich auf den richtigen Zeitpunkt. Das war alles, woran er in diesem Augenblick denken konnte. Der bremsende Zug quietschte ohrenbetäubend. Der junge Mann auf den Gleisen schien dem Tode geweiht, der Zug war zu nahe. Nur fünf Meter bevor der Zug seinen Körper berührt hätte, sprang er zur Seite. Beinahe hätte der Zug ihn erwischt. So nahe war Lutz dem Tod noch nie. Der fünfte Personenanhänger hielt vor ihm. Halb auf dem Schotter, halb auf dem Sandweg lag er da, sein Gesicht mit seinen Händen beschützend. Nur einen halben Meter entfernt von dem Wagon. Er blieb liegen. Unbewegt und zitternd. Beinahe hätte er es nicht geschafft. Wie nahe konnte er dem Tod noch kommen? Was wäre, wenn er eines Tages stehen bliebe?
Teddy starrte auf den Mond; einen Himmelskörper, der wie kein anderer für Horror und Schrecken steht. Obwohl der Mond immer noch alles hell erleuchtete, spürte der Lokomotivführer eine kalten Dunkelheit um sich herum. Undefinierbar. Totenstille. Teddys Puls war hoch, seine Atmung schnell. Er ging zum Fenster, guckte vorsichtig raus, sah aber niemanden. Dann die andere Seite. – Wieder nichts. Wie ferngesteuert ließ er den Zug wieder anfahren.
Tausende Kilometer entfernt zog der Mond weiter seine Bahnen, ohne auch nur einen Moment zu zögern.