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- Anmerkungen zum Text
Das ist die Geschichte die in der Johnny IX veröffentlich wurden und damit die erste Geschichte von mir die es in gedruckter Version gibt :-)
Dein wahres Gesicht
»Masken! So ein Schwachsinn! Ich versteh‘ gar nicht, was Frau Bartsch von uns will!«
Tim saß am Küchentisch und schürzte die Lippen. Er musste für den Kunstunterricht eine afrikanische Maske basteln. Aus Pappmaschee. Als wäre das nicht schon schlimm genug, auch noch ein Referat halten. Er hasste basteln, er hasste den Kunstunterricht und überhaupt hasste er die Schule.
Er stotterte, wenn er nervös wurde, und seine Klassenkameraden verspotteten ihn mit Sätzen wie: “Lern‘ doch erst mal Sprechen“ oder „In der Vorschule ist bestimmt noch Platz für dich, du Baby“,
dadurch wurde es nur schlimmer. Er hasste das Brennen in den Augen, wenn sie sich mit Tränen füllten, und es fiel ihm schwer, sie zu verbergen. Sobald er versuchte, sich zu wehren, stotterte er nur noch mehr und sie würden ihn weiter verspotten. Also ertrug er es einfach und sparte sich die aktive Beteiligung am Unterricht. Dadurch litt nicht nur seine mündliche Note, die Versetzung in die nächste Klasse war ebenfalls gefährdet, denn auch schriftlich war er nicht besonders gut. Das Theoretische lag ihm einfach nicht.
»Hast du denn schon eine Idee, wie deine Maske aussehen könnte?«, fragt Mama.
»Nein.«
»Habt ihr euch denn in der Schule schon mal welche angeschaut?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie, du weißt nicht? Du musst doch wissen, ob ihr euch Bilder oder Zeichnungen angeschaut habt.«
»Keine Ahnung.«
Tim stützte seinen Kopf auf die Hand. Seine Augen ruhten auf der Schüssel mit Bastelkleber.
»Komm, dann schauen wir jetzt mal, was wir so im Internet finden.«
Mit hängenden Schultern schlurfte er hinter seiner Mama her.
Nach einer Weile, in der er regungslos auf den Monitor des Computers schaute und die Worte seiner Mutter nur noch als Flüstern wahrnahm, fiel ihm ein Bild auf, das ihn aus seinen Gedanken riss.
Die Maske war aus kastanienbraunem Holz gefertigt. Sie hatte Öffnungen für die Augen und einen schief gezogenen, leicht geöffneten Mund, in dem vereinzelt die Ansätze von geschnitzten Zähnen erkennbar waren. Mit ihren schlichten Verzierungen auf der Stirn und dem gold-weißen Schimmer um die Augen faszinierte sie ihn auf den ersten Blick.
Mama und er begannen zu recherchieren. Masken wurden bei den afrikanischen Stämmen getragen, um die Gegenwart der Ahnen, der Geister oder anderen übernatürlichen Wesen hervorzurufen. Sie haben zumeist ausdruckslose oder erschreckende Züge, sind verzerrt oder abstrakt. Die Maske, die Tims Blick so gefangen hatte, gehörte zum Stamm der Baule, die sich am Rande der Elfenbeinküste niedergelassen haben.
Mit jedem Satz rutschte Tim näher an den Monitor. Er stützte seinen Oberkörper auf den Unterarmen ab und saugte jedes Wort in sich auf.
Die Masken werden von Personen getragen, die die Toten verkörpern sollen. Meistens finden sie bei Riten oder Tänzen Verwendung. Mit dem Aufsetzen der Maske kann es passieren, dass sich die Psyche des Trägers verändert, weil er, in einer Art Trance, das Wesen des Geistes annimmt.
Tim schaute sich noch einmal das Bild der Maske an, sprang auf, suchte sich einen Ballon. Eifrig begann er ihn fein säuberlich mit dem getränkten Toilettenpapier zu bekleben.
Seine Augen funkelten und seine Mundwinkel zogen sich immer weiter in Richtung Ohren, während er Schicht um Schicht das getränkte Papier auf den Ballon klebte und glatt strich.
Nach ein paar Tagen war die Maske so stabil geworden, dass er sie bemalen konnte und das so nah am Original, wie seine ungeschickten Finger es hinbekamen.
Das Funkeln in seinen Augen, welches nicht mehr verschwunden war, seitdem er das Bild von der Maske gesehen hatte, war jetzt, als er sie fertig bemalt in Händen hielt, heller denn je. Zu guter Letzt bohrte er an den Seiten noch je ein Loch für ein Gummiband hinein und dann konnte er sie endlich aufsetzen. Sie war unbequem, aber die Baule haben ihre Masken auch nur aus Holz geschnitzt, ohne sie zu polstern, also beschwerte er sich nicht.
Er fühlte sich stark und unbesiegbar.
Maskiert lief er in die Küche. Seiner Mama huschte ein Lächeln über die Lippen, als sie ihn sah. »Wow, die sieht ja klasse aus.«
Sie war hier und da etwas kantig, die Augenöffnungen nicht passend für Tims Gesicht und der Mund hing mehr auf Kinnhöhe, aber sie musste zugeben, dass sie das nicht von ihrem Sohn erwartet hatte.
»Lass sie mich mal anschauen«, aber bevor sie ihn berühren konnte, sprang er zurück.
»Nein! Das darfst du nicht. Nur auserwählte Männer dürfen sie tragen.«
»Ich möchte sie nicht tragen, ich möchte sie mir nur mal anschauen. Die ist wirklich gut geworden.« Tim wich langsam zurück, wobei er anfing, leise eine Art Gesang von sich zu geben, bis er sich blitzschnell umdrehte und davonlief.
Seine Mama schaute ihm kopfschüttelnd und mit hochgezogenen Brauen hinterher.
Sie kannte die Laute, die Tim gemacht hatte, aus den Videos, die er sich am Computer angesehen hatte. Darin wurde gezeigt, wie die Masken zum Einsatz kamen. Sie ging in die Küche und beobachtete Tim mit krauser Stirn, die Hände fest auf die Arbeitsplatte gepresst.
Es versetzte ihr einen Stich in der Magengegend, als sie erkannte, dass Tim sich seitdem er das Bild sah, verändert hatte.
Er war ein schüchterner und zurückhaltender Junge und trat eher unauffällig auf. Die Tatsache, dass er anfing Gesänge nachzumachen und im Garten im Kreis zu hüpfen, als wäre er auf einem Tanz der Baule der Ehrengast, sah ihm gar nicht ähnlich.
Langsam wurde es Abend. Tim hüpfte immer noch im Garten herum und ahmte den Gesang der Baule nach. Er hatte sich einen langen Ast gesucht, den er wie einen Spazierstock in einer Hand hielt.
»Kommst du bitte rein? Es gibt Abendbrot,« doch Tim reagierte nicht.
»Tim, hörst du? Es gibt Abendbrot, komm bitte rein und wasch dir die Hände.«
Keine Reaktion.
Ihr Gesicht wurde warm und sie hörte das Blut in den Ohren rauschen. Langsam, kaum wahrnehmbar, ballten sich ihre Hände zu Fäusten und sie stapfte auf ihn zu.
»Tim Häge! Ich sag‘ es jetzt zum letzten Mal. Komm rein und wasch dir die Hände, wir wollen essen.«
In dem Moment drehte er sich mit einem lauten Huh zu ihr um. Beinahe hätte er sie mit dem Stock getroffen, doch sie wich gerade noch aus.
»Jetzt ist hier aber Feierabend,« zischte sie mit feuerrotem Kopf.
Sie packte ihn am Arm und versuchte, ihm die Maske abzunehmen. Nachdem es ihr schließlich gelang, blickte sie in das verdutzte Gesicht ihres Sohnes.
»Was ist denn heute in dich gefahren?«, fragte sie mit tief gezogenen Brauen.
»Na toll, jetzt hast du sie kaputt gemacht.«
Tim starrte auf die Maske.
»Morgen muss ich das Referat halten und jetzt ist sie kaputt. Super gemacht, Mama!«
Noch bevor sie sich entschuldigen konnte, rauschte Tim an ihr vorbei und verschwand in seinem Zimmer. Mama saß allein am Tisch. Tim ist nicht wieder herausgekommen. Nachdem sie alles weggeräumt hatte, nahm sie einen Teller und ging zu seiner Tür.
»Tim?«, fragt sie vorsichtig und klopft an die Tür, »darf ich reinkommen?«
Keine Antwort.
»Ich hab dir zwei Leberwurstbrote gemacht.«
Immer noch keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Er saß auf dem Bett, die kaputte Maske in den Händen.
»Tim, es tut mir leid. Ich wollte sie nicht kaputt machen, ich wollte doch nur …«
»Du hättest auch einfach was sagen können, anstatt sie kaputtzumachen«, unterbrach er sie schniefend, ohne seinen Blick zu heben.
»Ich habe dich dreimal gerufen, du hast überhaupt nicht reagiert und dann hättest du mich fast noch mit dem Stock gehauen.«
Tims Kopf blieb gesenkt.
»Du hast mich nicht gerufen«, sagte er leise.
»Tim, bitte. Ich würde niemals etwas behaupten, was nicht stimmt, das weißt du. Du hast dich heute Nachmittag ja auch schon so seltsam verhalten. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber es wirkt, als wärst du nicht du selbst.«
Tim blieb stumm und schaute auf seine Maske. Er wusste nicht, was passiert war. Er wusste nur, dass Mama sie ohne Grund kaputt gemacht hat.
Am nächsten Morgen packte er seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg in die Schule. Seine Maske hatte er notdürftig repariert, so, dass man den kleinen Riss an der Seite nicht sah. Die Schulglocke läutete die erste Stunde ein. Kunst bei Frau Bartsch. Tim war der dritte, der seine Maske vorstellen musste. Noch bevor er anfing, fragte der dicke Lars aus der ersten Reihe: »Bekommen wir eine Übersetzung für den Spinner?«
Von Jakob folgte: »Geil, wenn er jetzt dran ist, ist die Stunde eh gleich zu Ende, so lange wie der braucht.«
Von den anderen folgte lautes Gelächter und Frau Bartsch hatte große Mühe, für Ruhe zu sorgen.
Noch während die anderen lachten, begann Tim mit seinem Vortrag.
»D... D... Dies ist die Ma... Ma... Maske von dem Sta... Sta… Sta... Stamm ...«
Wieder hagelte es Beleidigungen seiner Mitschüler und er verstummte. Er stand da, vor der Klasse. Schweigend und den Blick auf den Boden gerichtet, als würde er auf ein Wunder hoffen, das ihn aus dieser schrecklichen Situation befreite. Eine gefühlte Ewigkeit wirbelten seine Gedanken im Kreis, als durch seine Finger ein Gefühl wie ein Stromschlag zuckte. Sein Blick wanderte, ohne dass er den Kopf bewegte, zu den Händen. Die Maske schien sich zu bewegen, als würde sie nicken und ihm zuflüstern: Los, setz mich auf, ich weiß, dass du es willst. Ich beschütze dich und du bist stark und unbesiegbar.
Seine Brauen zogen sich zusammen, als er sie an starrte, dann bewegte er sie langsam in Richtung seines Kopfes. In dem Moment, wo sie seine Haut berührte, veränderte sie sich und schmiegte sich perfekt an sein Gesicht.
»So, jetzt hört ihr mir mal zu!«
Mit einem Schlag war Totenstille. Seine Mitschüler starrten ihn mit offenen Mündern an und selbst Frau Bartsch hatte die Augen weit aufgerissen.
»Ich hab es satt, dass ihr euch immer über mich lustig macht! Damit ist jetzt Schluss! Ich werde nicht mehr euer Spielball sein und solltet ihr mich nicht in Ruhe lassen, werdet ihr sehen, was ihr davon habt!«
Er drehte sich zu Frau Bartsch um und sagte: »Und Sie sind auch nicht besser! Lassen es zu, dass die ganze Klasse auf einem Einzelnen rumhackt. Nicht ich bin derjenige, der sich schämen sollte, sondern Sie!«
Er schmiss ihr seine Ausarbeitung vor die Füße, rauschte aus dem Raum und ließ seine immer noch schweigenden Mitschüler zurück. Wie erstarrt blickten sie in Richtung Tür, durch die Tim verschwunden war.
Frau Bartsch war die Erste, die das Standbild durchbrach. Sie hob die Zettel auf und blätterte und las darin. Tim hatte sich wirklich Mühe gegeben mit seiner Ausarbeitung. Schließlich folgte sie ihm auf den Schulhof.
Sie kam genau im richtigen Moment auf den Schulhof. Tim, der die Maske nicht abgenommen hatte und der kleine Sammy aus der Fünften standen Nase an Nase auf dem Schulhof. Sammy hatte Tim als „Baum auf kurzen dicken Beinen” betitelt. Tims Nasenlöcher weiteten sich und seine Kieferknochen malten sich stark vom eher rundlichen Gesicht ab, so stark biss er die Zähne aufeinander.
Er holte gerade aus als…, »Tim, was ist denn in dich gefahren?« Frau Bartsch drängte sich dazwischen. Mit zusammengepressten Lippen sah sie auf Tim hinab, dann richtete sie sich an Sammy.
»Sammy, ich habe das Gefühl, du solltest eigentlich in deiner Klasse sein, oder? Los, geh!«
»Sie können mir gar nichts. Ich bin unbesiegbar«, polterte es aus Tim heraus.
»Im Moment bist du ein Schüler, der sein Referat abgebrochen, Schüler beleidigt und beinahe einen Jüngeren gehauen hätte. Aber ich glaube, in erster Linie bist du ein missverstandener Junge, dem die Hutschnur geplatzt ist. Komm, wir setzen uns.« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und schob ihn sacht in Richtung Steinumrandung der großen Eiche, die mitten auf dem Schulhof stand.
Frau Bartsch setzte sich und schaute zu Tim, der zögernd, vor der Mauer, stehen geblieben war.
»Möchtest du mal deine Maske absetzen und dich neben mich setzten?«
»Nein.«
»Mh. Gut. Wir machen einen Deal. Du darfst die Maske so lange tragen und so lange stehen bleiben wie du magst, aber spätestens nach unserem Gespräch setzt du sie ab und du versuchst nicht wegzulaufen, okay?«
Tim nickte. »Ja, ist gut. Was wollen sie denn jetzt von mir?«
»Ich glaube, wir sind uns einig, dass das, was gerade passiert ist, nicht in Ordnung ist. Oder? Du hast deine Mitschüler beleidigt und bist einem anderen Jungen gegenüber beinahe handgreiflich geworden. Das ist ein Verhalten, welches ich nicht akzeptiere, okay?«
»Ist ja gut, ich habs verstanden. Sind wir jetzt fertig?« Tims Augen funkelten böse durch die Löcher in der Maske, den Rest seiner Mimik konnte Frau Bartsch nicht sehen aber in seiner Stimme lang die passenden Tonlage zu den Augen.
»Nein, wir sind noch nicht fertig«, sagte sie mit kräftiger aber ruhiger Stimme. »Ich wusste gar nicht, dass du so stark und energisch sein kannst.«
Tims Blick wurde weicher, das Funkeln in seinen Augen änderte von böse in überrascht.
»Du hattest Kraft und Energie und du hast bei deiner Ansprache nicht einmal gestottert.«
Frau Bartsch hielt inne und musterte ihren Schüler. Tim schaute auf den Fuß der Mauer, mehr konnte er nicht sehen, ohne den Kopf zu bewegen dann nahm er zögerlich seine Maske ab und schaute sie an.
»Ich glaube, dass du diese Eigenschaften schon immer gehabt hast, aber irgendwas hindert dich daran, sie auch unmaskiert zu zeigen, verstehst du, was ich dir sagen möchte?«
»Ja, ich glaube, ich verstehe, was sie sagen wollen.«
»Die Maske hat dir Mut und Selbstbewusstsein gegeben. Du hast in deiner Ausarbeitung geschrieben, dass sie die Abbildung des Gründerhäuptlings der Baule ist und somit den tapfersten, mutigsten und stärksten Krieger symbolisiert, den dieser Stamm je hatte. Es scheint so, als hättest du diese Eigenschaften aufgesaugt.«
Für einen kurzen Moment hob er seinen Blick und schaute sie an, bevor er wieder die Maske fixierte. Er hätte nicht gedacht, dass Frau Bartsch noch einen Blick in seine Ausarbeitung wirft, wo er so harsch zu ihr war.
»Es ist gut, wenn man Dinge hat, die einem Mut machen. Schlecht ist, wenn man sich von ihnen abhängig macht, verstehst du?«
Tim hatte den Kopf immer noch in Richtung Maske geneigt, jedoch schien er nicht mehr sie an zu sehen, sondern durch sie hindurch auf seine Schuhe. Sein Blick wurde verschwommen und schlussendlich kullerte ihm eine Träne die Wange hinunter. Er nickte kaum sichtbar.
»Ich habe mich dir gegenüber mit Sicherheit nicht so verhalten, wie es meine Pflicht gewesen wäre und dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen. Ich werde in Zukunft darauf achten, mehr auf dich einzugehen. Aber ich glaube auch, dass wir mit deiner Mutter darüber sprechen sollten und vielleicht finden wir ja eine Lösung, deinen Mut und deine Tapferkeit auch ohne diese Maske zum Vorschein zu bringen. Na, wie klingt das?« Verschmitzt lächelte sie ihn an und knuffte ihn, mit ihrem Ellbogen, in die Seite. Tim fing an zu lächeln, nickte und wischte sich die Träne von der Wange.
»Ja«, schniefte er, »das klingt wirklich gut.«
»Na also, so gefällst du mir schon viel besser. Dann lass uns mal rein gehen und deine Mama anrufen.«
Tim zog die Nase hoch, nickte sachte und schlurfte hinter Frau Bartsch her Richtung Schulgebäude.