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- 19.02.2006
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Das Wolkenmädchen
Der Wunschlandwächter hatte den Jungen schon von Weitem beobachtet. Er sah, wie der Bursche durch die Wüste stolperte und kaum größer wurde, je näher er kam.
Als Wächter der Grenze musste der Wolfsmensch jedem, der die Wüste bezwang, einen Wunsch erfüllen. Er ahnte, dass dieses Ritual mit dem Jüngling besonders spaßig sein würde. Er rieb sich die Klauen und rückte die Schale kalten Wassers zurecht; daneben drapierte er saftige Früchte auf einem Teller. Als der Junge heran war, trat der Wolfsmensch aus dem Schatten des Felsens, der die Grenze zur Wunschwelt bildete. Der Junge atmete schwer und seine Stimme war so dünn wie er selbst. »Ich bin auf der Suche nach dem Wolkenmädchen.«
»Wir sind alle auf der Suche nach etwas«, beschied ihm der Wächter und lächelte.
»Hast du das Wolkenmädchen gesehen?«
»Weißt du denn nicht, wo du bist?«
Der Junge sah sich um, als nähme er seine Umgebung erst jetzt wahr. »Ich bin der Spur des Wolkenmädchens gefolgt«, sagte er anstatt einer Antwort.
»Dein Mädchen flieht vor dir?«
»Nein«, der Junge schüttelte den Kopf. »Es weiß gar nicht, dass es mich gibt.«
»Jeder, der die Wüste durchquert, ist auf der Flucht«, sagte der Wolfsmensch.
»Ich fliehe nicht, ich bin auf der Suche«, stellte der Junge richtig.
»Der Suchende flieht erst recht«, behauptete der Wächter. »Du zum Beispiel, mein dürrer Freund, du suchst etwas, weil du meinst, ohne es nicht glücklich zu sein. Ist es nicht so? Also fliehst du vor der Unzufriedenheit.«
Der Junge dachte über die Worte nach. »Das mag stimmen«, gab er zu. »Ohne das Wolkenmädchen kann ich nicht glücklich sein. Ich muss es finden.«
Der Wolfsmensch grinste. »Da hast du Glück - es ist hier vorbeigekommen.«
Die Augen des Jungen leuchteten auf, die Erschöpfung fiel von ihm ab.
»Du hast sie knapp verpasst.« Der Wächter schnalzte bedauernd mit der Zunge.
»Dann muss ich sofort los! Ich danke dir vielmals.«
»Moment, Moment.« Der Wolfsmensch machte eine beschwichtigende Geste. »Weißt du denn nicht, dass ich der Grenzwächter bin und du an mir vorbei musst, wenn du ins Wunschland möchtest?«
»Nein«, gestand der Junge. »Das wusste ich nicht.«
»Dann ist heute wirklich dein Glückstag; denn wenn ich auch niemanden die Grenze passieren lassen darf, der mich nicht bezwingt, so muss ich dir dennoch einen Wunsch erfüllen, weil du es bis zu mir geschafft hast.«
Der Wächter verzog das Gesicht zu einem wölfischen Grinsen und legte dem Jungen einen Arm um die Schulter. »Aber wie siehst du überhaupt aus? Willst du so deinem Mädchen gegenübertreten? Halb verhungert, durstig und dreckig? Sieh, ich habe frisches Wasser gegen den Durst und um dich zu waschen. Und diese köstlichen Früchte werden dich erquicken.«
Der Junge wollte nach den Speisen greifen, doch der Wolfsmensch hielt ihn zurück. »Du musst mich schon darum bitten!«
»Entschuldige meine Manieren.« Er lächelte, wie nur die Unschuld der Jugend lächeln kann, und fragte: »Dürfte ich bitte von deinem Wasser und den Speisen kosten?«
»Dein Wunsch sei dir gewährt.«
Der Junge aß von den Früchten und trank von dem Wasser und wusch sich den Staub aus dem Gesicht. Gestärkt stand er auf. »Ich danke dir für alles, aber nun muss ich gehen.«
»Ich wünsche dir Glück«, sagte der Wolfsmensch, machte aber keine Anstalten, den Weg freizugeben. »Entschuldige«, sagte der Junge - ihm war anzusehen, wie unangenehm es ihm war, abermals seine Manieren vergessen zu haben. »Würdest du mich bitte vorbeilassen.«
»Nein.«
Das Lächeln fiel aus dem Gesicht des Jungen. »Aber ich muss doch das Wolkenmädchen finden.«
»Und dabei wünsche ich dir viel Glück. Aber ich kann dich nicht passieren lassen.«
»Wie ... meinst du das?«
»Nur die, deren Wünsche wahrhaftig sind, erhalten Einlass ins Wunschland.«
»Aber mein Wunsch ist wahrhaftig!«, begehrte er auf. »Niemals habe ich mir etwas sehnlicher gewünscht!«
»Wäre das der Fall, hättest du den Wunsch genutzt, um an mir vorbeizukommen.«
»Du hast mich ausgetrickst!«
Der Wolfsmensch gab ein kehliges Kichern von sich. »Da hast du recht. Betrachte es als Prüfung.« Übergangslos wurde er ernst. »Und du hast sie nicht bestanden.«
»Gibt es noch einen anderen Weg ins Wunschland?«
»Nein.«
»Der Weg führt nur an dir vorbei?«
»Ich fürchte ja.«
»Dann tut es mir leid ...«
Mit diesen Worten sprang er den Wolfsmenschen an. Der Wächter pflückte ihn lachend aus der Luft und schleuderte ihn zurück in die Wüste. Der Junge schüttelte sich. Abermals rannte er auf den Wächter zu, täuschte einen Sprung an und wollte ihm durch die Beine schlüpfen.
Er wurde gepackt und fand sich rücklings in einem Sandhaufen wieder. Der Junge schaffte noch drei Anläufe, bis ihm vor Erschöpfung die Sicht verschwamm.
»Wie ...«, keuchte er außer Atem, »wie ... hat es das Wolkenmädchen an dir vorbeigeschafft?«
»Gar nicht.« Der Wächter klatschte sich den Sand aus den Pranken. »Ich sagte, es ist vorbeigekommen, nicht, dass es die Grenze passiert hat. Ich habe dem Mädchen einen Wunsch erfüllt, dann ist es seiner Wege gezogen.«
Schnaufend setze sich der Junge auf den Hosenboden und sah sich um. »Wohin ist sie gegangen?«
»Sie ist ein Wolkenmädchen - wohin glaubst du, ist sie gegangen?«
Der Junge schaute in den Himmel. Weiße Watte fegte über den Horizont. Der Wächter folgte seinem Blick. »Und wenn du dein Wolkenmädchen gefunden hast«, wollte er wissen, »was dann?«
Der Junge überlegte, noch immer den Blick in den Himmel gerichtet. Er konnte sein Wolkenmädchen nicht sehen, aber er spürte, dass es irgendwo dort oben war. Schließlich antwortete er ehrlich: »Ich weiß es nicht.«
Da lachte der Wolfsmensch ein raues Lachen. »Ihr im Herzen Durchbohrten, ihr seid doch alle gleich.«
Ähnliches Gelächter hatte der Junge auf seiner Suche oft ertragen müssen. Es schien ihm sonderbar, dass niemand begriff, was er fühlte. Die Menschen schüttelten nur den Kopf, wenn er von seinem Mädchen erzählte. Die Mienen wurden mitleidig, sobald er offenbarte, das Wolkenmädchen nur ein einziges Mal erblickt zu haben. Der Junge fand darin nichts Mitleidiges, denn er spürte, dass dieses eine Mal einen Anker in die Ewigkeit gesetzt hatte; er wusste, dass sie füreinander bestimmt waren. Die Leute aber sagten, er sei ein Träumer und dass er den Kopf aus den Wolken ziehen solle, weil er sonst stürzen würde. Und ein Sturz aus dieser Höhe, das hinterließe einen bleibenden Schaden. Der Junge starrte in den Himmel und kein Sturz schreckte ihn. Ein Leben ohne das Wolkenmädchen, das ahnte er, würde einen niemals endenden Fall bedeuten.
»Welchen Wunsch hast du dem Wolkenmädchen erfüllt?«, wollte er vom Wächter wissen.
»Den Weg nach oben.«
Da sprang der Junge auf. »Und mich?«, rief er, »kannst du auch mich nach oben bringen?«
Der Wolfsmensch schüttelte seinen zotteligen Kopf. »Du hast deinen Wunsch verspielt.«
»Gibt es denn nichts, was ich für dich im Gegenzug tun könnte?«
Der Wächter rieb sich das Kinn und beäugte den Jungen, als würde er ihn zum ersten Mal erblicken. »Du willst etwas für mich tun?«
»Alles, was du willst!«
»Vielleicht will ich viel«, gab er zu bedenken.
»Alles, was in meiner Macht steht, sofern ich dafür in die Wolken gelange.«
Der Wolfsmensch rieb sich das Kinn. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich werde dir helfen. Aber dafür übernimmst du meinen Wächter-Dienst für ein Jahr und einen Tag.«
Der Junge nickte sofort.
»Das ist eine lange Zeit, mein eifriger Freund. Was, wenn dein Wolkenmädchen nicht auf dich wartet?«
Nun war es an dem Jungen, ein Kichern auszustoßen. »Sie weiß gar nicht, dass es mich gibt - wie kann sie da auf mich warten?«
»Und das gibt dir nicht zu denken?«
»Ein Jahr Dienst schreckt mich nicht, sofern der Weg zum Wolkenmädchen mein Lohn sein wird«, versicherte der Junge, ohne die Ironie zu verstehen.
»Ich sehe, dir ist es ernst. Aber auch mir ist es ernst. In der Frist deines Dienstes musst du sieben Wünsche sammeln, damit ich dir helfen kann. Obwohl viele Menschen das Wunschland suchen, bezwingen nur wenige die Wüste. Du wirst demnach selten Besuch erhalten. Drum hüte dich davor, jemanden durch das Tor zu lassen, denn dies gilt als ein verlorener Wunsch, den ich dir nicht anrechnen darf.«
»So wollen wir es halten.« Der Junge schlug ein in die Pranke des Wolfsmenschen.
Der Wolfsmensch winkte zum Abschied und schlüpfte durch jenen Riss im Fels, den der Junge nun für ein Jahr und einen Tag bewachen musste.
Die Tage vergingen und wurden zu Wochen. Der Junge lag im Schatten und beobachtete die Wüste. In seinem Kopf entwarf er Szenarien, wie er die Suchenden abwimmelte. Als die Wochen sich zum ersten Monat stauchten, überkam ihn Unruhe. Was, wenn niemand die Wüste durchquerte, in der Abwesenheit des Wolfsmenschen? Nach dem zweiten Monat geschah es. Ein großer Mann stapfte aus der Wüste. Er lief gebückt und schnaufte schwer. In seinem Blick lag etwas Gehetztes. Der Junge bot ihm vom Wasser und den Früchten an, so wie es ihn der Wolfsmensch gelehrt hatte. Der große Mann fiel auf den Trick herein, doch als der Junge ihm den Weg versperrte, fegte ihn dieser einfach beiseite und schritt über die Grenze. Der Junge schluckte seinen Ärger herunter und sagte sich, er habe noch genügend Zeit, um sieben Wünsche zu sammeln. Was war schon ein einziger, der ihm durch die Lappen ging?
Einen weiteren Monat später erschien eine Frau. Er erblickte sie erst, als sie direkt vor ihm stand, denn sie war so dünn und durchscheinend wie Papier. Sie sprach kein Wort. Aber das war auch nicht nötig, denn auf dem Papier, das ihre Haut war, stand mit blutigen Lettern eine noch blutigere Geschichte geschrieben. Sie erzählte von einem fremden Land, in dem ein Krieg tiefe Krater in die Erde und die Seelen der Menschen gerissen hatte. Krater, tief genug, um die gesamte Familie der Papierfrau darin zu begraben. Der Junge hatte Angst, dass das Wasser sie aufweichen, das Gewicht der Früchte sie zu Boden schmettern würde. Er zeigte ihr den Weg durch den Spalt und wünschte ihr alles Gute.
Eine lange Zeit kam niemand durch die Wüste. Der Junge träumte in dieser Zeit viel.
Er saß gemeinsam mit seinem Mädchen auf einer Regenwolke. Sie ließen die Beine über den Rand baumeln und sahen auf das von Krieg und Zerstörung gemarterte Land der Papierfrau hinab. Die Erde war ausgetrocknet und rissig, öliger Qualm stieg auf. Das Wolkenmädchen spürte den Schmerz des Jungen und zog ihn auf die Füße. Sie umschlang ihn und verführte ihn zu einem sanften Tanz. Aus wiegenden Schritten wurden schwungvolle Bewegungen. Sie wirbelten über die Wolke, zuckten und stampften und lachten. Bald hüpften sie auf und ab und warfen sich immer und immer wieder mit ihrem gesamten Gewicht in das flauschige Grau. Schließlich erbarmte sich die Regenwolke und schüttete ihre Last über dem zerfurchten Land aus. Es regnete eine Ewigkeit und der Regen wusch die Kriegstreiber aus dem Land, spülte sie in schlammige Flüsse, die sie in das Meer des Vergessens spien.
Wimmernde Kinderstimmen rissen den Jungen aus seinem Tagtraum. Ein Junge und ein Mädchen standen in sicherer Entfernung vor ihm. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen und verharrten in geduckter Haltung, jederzeit bereit, wegzulaufen.
Sie hielten sich an ihren Händchen fest und bettelten mit runden Augen um Essen und Trinken. Der junge Wächter gab ihnen bereitwillig und die Art und Weise, wie sie sich über die Früchte hermachten, erzählte mehr als tausend Worte. Der Junge brachte es nicht über sich, den Zwillingen das Wunschland zu verwehren. Er war sich sicher, dass selbst der Wolfsmensch bei diesen beiden eine Ausnahme gemacht hätte.
Den nächsten Besucher abzuweisen, würde leicht werden. Es handelte sich um einen hässlichen Zwerg, der schielte und schlecht roch. Das eine Auge war ständig in Bewegung, das andere sah an dem Jungen vorbei. Mit seinen kurzen Armen zog er eine schwere Last hinter sich her. Um was es sich dabei handelte, konnte der Junge nicht erkennen, denn der Gegenstand wurde von einem staubigen Tuch verhüllt. Doch was immer es war, das Ding musste ein beträchtliches Gewicht haben; eine tiefe Furche im Wüstensand zeichnete den Weg, den der Kleinwüchsige gekommen war.
Der Zwerg stotterte eine Sprache, die der Junge nicht verstand. Routiniert gab er ihm Wasser und Früchte. Als er den Zwerg abweisen wollte, kam er ins Grübeln. Durfte er jemanden den Eintritt verweigern, wenn dieser gar nicht die Regeln des Handels verstand? Während der Junge noch überlegte, zog der Zwerg das staubige Tuch von seinem Gepäck. Darunter kam ein Topf mit Gold zum Vorschein. Die Münzen blitzten und funkelten in der Sonne und blendeten den jungen Wächter. Als er sein Staunen überwunden hatte, stellte er fest, dass der Zwerg bereits durch das Tor humpelte. Er winkte kurz mit einem Stummelärmchen, dann war er verschwunden.
Der Junge grummelte. Was sollte er mit einem Topf voll Gold anfangen? Sein Wolkenmädchen machte sich daraus nichts. Ob er das Gold beim Wolfsmenschen gegen sieben Wünsche eintauschen konnte? Denn genau so viele fehlten ihm noch. Beim nächsten Anwärter würde er härter sein, das schwor er sich. Einem Mantra gleich, sagte er sich das Tag für Tag auf. Beinahe fünf Monate brauchte es, bis er endlich Gelegenheit erhielt, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen.
Ein alter Mann zitterte ihm entgegen. Wortreich erzählt dieser seine Geschichte, doch der Junge verschloss seine Ohren und sein Herz. Dankbar nahm der Alte Trank und Speisen an. Als er um Durchgang bat, wäre der Junge beinahe weich geworden, so großväterlich wirkte der Mann auf ihn. Doch er straffte sich. Wie wollte er das Wolkenmädchen für sich gewinnen, wenn er seinen eigenen Vorsätzen nicht treu blieb? Entschlossen schickte er den Alten zurück in die Wüste. Mit stolz geschwellter Brust stand der Junge da und sah dem kleiner werdenden Schatten nach. Als er die angehaltene Luft ausstieß, entwich auch aller Stolz. Er wusste, dass sein Wolkenmädchen diese Härte nie gutheißen würde. Jemand, der so hart war, würde durch die Wolken fallen, wie ein Stein. Er rannte dem Großväterchen hinterher und führte ihn zum Tor.
Entmutigt lehnte sich der Junge gegen den Fels und wartete auf seinen nächsten Gast. Er musste lange warten und in dieser Zeit dachte er über vieles nach. Und mit jedem Tag, der verstrich, wurden seine Gedanken trauriger. Als am letzten Tag seiner Wächter-Frist eine in Lumpen gehüllte Gestalt um Einlass ins Wunschland bat, blickte der Junge kaum auf. Ungefragt erzählte er dem Besucher seine Geschichte. Von seiner Suche nach dem Wolkenmädchen, seinem Handel mit dem Wolfsmenschen, und von seiner mangelnden Wächter-Qualität. »Und deshalb«, schloss er, »brauche ich dir als Einzigen nicht den Zugang verweigern. Mit dir waren es sieben Menschen, die ich hätte abweisen können und bei keinem ist es mir gelungen. Du wärest ein Wunsch von sieben, die ich benötige. Also geh. Ich wünsche dir alles Gute.«
Aber der Verhüllte verschwand nicht, sondern schlug seine Kapuze zurück.
»Ich hätte es mit denken können«, sagte der Junge, als er dem Wolfsmenschen in die Augen sah. »Du bist der Siebente. Selbst wenn ich alle anderen hätte abweisen können - an dir wäre ich gescheitert. Wieder ein Trick.«
»Das ganze Leben besteht aus Tricks«, belehrte ihn der Wolfsmensch mit heiterer Stimme. »Je mehr du kennst, desto einfacher kommst du durch die Welt. Dir scheint dein Können immerhin einen Topf voll Gold eingebracht zu haben.«
»Und was soll ich damit anfangen?«
»Geld ist eine ganz besondere Trickkiste, aus der man schöpfen kann. Es erleichtert vieles.«
»Aber es bringt mich nicht zu meinem Wolkenmädchen.«
»Nun sei nicht so selbstgerecht!«, fuhr der Wolfsmensch auf. »Es hätte dich wahrlich schlechter treffen können!«
Der Junge reagierte nicht auf den Ausbruch, starrte nur in den Himmel und ließ Sand durch seine Finger rieseln. »Wie ist sie in die Wolken gelangt?«, fragte er schließlich.
»Sie ist auf einem Regenbogen nach oben gestiegen.«
Der Junge stöhnte. »In meiner ganzen Zeit als Wächter hat es nicht ein einziges Mal geregnet. Ich brauche wohl nicht auf einen Regenbogen zu hoffen.«
»Es regnet nur, wenn das Wasser für die Aufgabe des Wächters erschöpft ist.«
»Es füllt sich doch immer von selbst auf. Genau wie die Früchte, am nächsten Morgen ist der Teller wieder bestückt.«
»Da ist etwas Wahres dran«, gab der Wolfsmensch zu und stieß einen langen Seufzer aus. »In der Regel ... Huppala - so etwas Ungeschicktes, jetzt habe ich die Schale aus Versehen umgestoßen!«
Es war kein Wunsch, den er dem Jungen erfüllte, denn das durfte er nicht. Die Regeln waren in dieser Hinsicht eindeutig. Und was kümmerte ihn dieser Junge schon? Aber der Wasservorrat war erschöpft, also ließ er es in seiner Funktion als Wunschlandwächter regnen, um die Schüssel aufzufüllen. Dies war schließlich seine Pflicht. Dass die Sonne gleichzeitig schien und der Junge einen Topf mit Goldstücken besaß - dafür konnte der Wächter nichts.
Sonne und Regen vereinigten sich zu einem prächtigen Farbenspiel, das sich in einem gewaltigen Bogen über den Himmel spannte. Wie es in der Natur von Regenbögen lag, endete das Farbenspektrum im Goldtopf zu den Füßen des Jungen. Der Junge sprang auf und tanzte vor Freude im Regen. Er packte den Wolfsmenschen bei den Pranken und wirbelte ihn lachend im Kreis herum.
»Nun ... Nun«, räusperte sich der Wächter. »Das Glück ist mit den Narren, wie es scheint.«
»Danke, das werde ich dir nie vergessen.«
Der Wolfsmensch hüstelte. »Bedanke dich nicht bei mir - anders werde ich dich ja nicht los.«
»Ich grüße das Wolkenmädchen von dir. Und sei nicht so hart mit den Menschen. Je närrischer sie sind, desto wahrhaftiger sind ihre Wünsche.«
»Quatsch nicht so viel, es wird nicht ewig regnen.«
Der Wolfsmensch sah zu, wie der Junge den Regenbogen nach oben ins Ungewisse kletterte. Das Wasser schwappte bereits über den Rand der Schüssel, doch der Wächter wartete, bis der Junge sicher oben angelangt war. Erst dann ließ er den Regen enden. Er schirmte die Augen mit den Händen ab und blickte in den Himmel. Der Junge winkte ihm zu und der Wächter erwischte sich dabei, wie er zurückwinkte. Verstohlen sah er sich um. Niemand hatte ihn bei dieser Narretei beobachtet. Er schüttelte den Kopf und machte sich an die Arbeit: Er rückte die Schale kalten Wassers zurecht und drapierte den Teller mit den Früchten. Dann lehnte er sich zufrieden gegen den Fels und wartete.