Das Versprechen
Er war völlig außer Atem, als er die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinaufstieg, doch er zwang sich, noch einen Schritt zuzulegen und nahm mehrere Stufen auf einmal. Der Grund für seine Eile war das Aufgebot an Polizeiwagen und Polizisten, die die Hofeinfahrt des Plattenbaus in dem er wohnte blockierten. Inständig hoffte er, dass es sich nicht um einen Einbruch handelte - erstrecht nicht in seiner Wohnung. Als er endlich seine Etage erreichte, sank ihm das Herz kurz in die Hose und er schluckte schwer, zwar waren die Polizisten wohl nicht wegen ihm hier, doch die Wohnungstür seines Nachbarn und guten Bekannten stand sperrangelweit offen und Stimmen drangen aus der Wohnung.
Er wusste nicht, was er tun sollte und so stand er unschlüssig vor der Tür seines Nachbarn und wartete bis jemand herauskam, den er fragen konnte was passiert war. Lange musste er nicht warten, ein unrasierter, gehetzt aussehender Polizist kam aus der Wohnung und blickte ihn fragend an.
"Ich wohne hier" sagte er und nickte zu seiner Wohnung "und... was ist passiert?"
Der Polizist musterte ihn eindringlich und kramte einen Notizblock heraus.
"Sagen Sie mir bitte zunächst Ihren Namen?"
"Simon Höf."
"Gut, gut. Herr Höf, “ murmelte er und schrieb Simons Namen in seinen Block, „Ihr Nachbar, Joshua Davis, ist gestern Nacht ermordet worden."
Simon wurde blass und musste einen Moment darum ringen, seine Stimme wiederzufinden. Nach Halt suchend tastete er nach der Wand.
"Wer?" krächzte er, "Wissen Sie, wer es getan hat? Und warum?" Der zunächst forschende Blick des Polizisten wurde zusehends weicher und mitfühlender, als er bemerkte, wie geschockt Simon war.
"Nein, wir wissen noch gar nichts. Standen Sie und Herr Davis sich nahe?"
"Naja, wir waren zwar keine Freunde, aber... er war ein guter Mensch..." Simon wandte sich ab und rief sich das Bild von Davis ins Gedächtnis, er konnte kaum glauben, dass er ihn nie wieder sehen würde, "... er hat mir immer die Zeitung geklaut." flüsterte er in Gedanken versunken und der Polizist lächelte traurig.
"Wir werden unser Bestes tun, um den Mörder ausfindig zu machen." sagte er und legte Simon seine schwere Pranke auf die Schulter. "Es tut mir Leid. Ihnen ist gestern und heute Nacht auch nichts Besonderes aufgefallen, oder?" Simon schüttelte langsam den Kopf und der Polizist seufzte. "Gehen Sie jetzt besser in Ihre Wohnung. Wir werden Sie später zu der ganzen Sache nochmal befragen müssen, es wäre gut, wenn Ihnen vielleicht doch noch etwas einfallen würde."
"Sicher." murmelte er tonlos, ging zu seiner Wohnungstür, öffnete sie und spürte den Blick des Polizisten auf sich, als er seine Wohnung betrat. Eine Wand aus staubiger und etwas muffiger Luft kam ihm entgegen, er musste dringend lüften, oder er würde hier noch ersticken, doch einige Minuten lang konnte er sich nicht rühren. Hatte er etwa einen Schock, fragte er sich, schüttelte jedoch gleich den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken und ging in die Küche, um das Fenster dort zu öffnen. Als er dabei nach draußen in den Hof blickte, sah er einige Polizisten neben ihren Wagen stehen und diskutieren. In der Ferne hörte er die Kirchenglocke schlagen.
Luisa beobachtete, wie die Leiche ihres Freundes aus der Wohnung getragen wurde. Sie war es, die den leblosen Körper auf dem Boden in einer Blutlache entdeckt und die Polizei gerufen hatte. Erstaunlicherweise war ihr Kopf dabei völlig klar gewesen, erst jetzt, nachdem man ihre Personalien aufgenommen und sie angewiesen hatte, nach Hause zu gehen und dort zu warten, wusste sie plötzlich nichts mehr mit sich anzufangen. Sie wollte nicht alleine sein, aber auch nicht in Gesellschaft von Polizisten oder Psychologen.
Als sie in das Treppenhaus hinaustrat fiel ihr Blick auf die Wohnungstür von Simon. Sie hatte vorhin seine Stimme gehört und wusste, dass der Polizist ihm so gut wie alles erzählt hatte. Wie ferngesteuert lief sie nun zu seiner Tür und klingelte.
Luisa kannte ihn schon seit langer Zeit, einst war er sogar in sie verliebt gewesen, doch sie hatte ihm einen Korb gegeben. Danach hatten sie sich einige Jahre nicht mehr gesehen, bis sie Joshua einander vorstellte, als sie im Treppenhaus aufeinander trafen. Sie erkannte Simon sofort, doch er schien sie längst vergessen zu haben, denn er verhielt sich so, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ein wenig enttäuscht war sie schon darüber, doch sie ließ sich nichts anmerken, denn sie wollte keine alten Wunden auffrischen. Zumal sie damals nicht gerade freundlich zu ihm gewesen war.
Als er ihr nun die Tür öffnete, wusste sie nicht was sie sagen sollte, in ihrem Kopf spukten Bilder von Joshua in seinem Blut herum. Unkontrolliert liefen ihr plötzlich Tränen über die Wangen und Simon sah sie einen Moment lang zögernd an, dann drückte er sie an sich. Kurz hielt er sie in den Armen, dann löste er sich von ihr und murmelte: "Möchtest du einen Tee?"
Sie nickte und folgte ihm in seine Wohnung.
Einige Minuten später saßen sie sich in Simons Wohnzimmer gegenüber, Luisa hielt ihre Tasse mit dem viel zu heißen Inhalt fest und brachte immer noch kein Wort hervor. Ihr war, als würde ihre gesamte Welt auseinanderbrechen, ihr Freund war tot und sie war nun allein mit einem Haufen von Problemen. Sie spürte schon wieder die Tränen in ihren Augen aufsteigen, doch Simon riss sie aus ihren Gedanken.
"Hast du ihn gefunden?" fragte er mit sanfter Stimme.
"Ja, es war... schlimm. Überall war Blut und... er..." Luisa schüttelte den Kopf um die Bilder zu verdrängen, während Simon sie mitfühlend musterte.
"Es tut mir leid... aber sag mal, hatte Joshua Probleme?"
"Nein, nicht das ich wüsste. Aber ein Einbruch war es wahrscheinlich nicht, er hat wohl jemandem die Tür aufgemacht, wurde", Luisa zögerte kurz und schluckte schwer, "umgebracht und dann ist der Mörder abgehauen. Oh Gott, Simon, ich weiß nicht was ich tun soll..." Sein Blick war hilflos und sie hatte das Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen. Vielleicht erkannte er sie nicht mehr, aber sie wusste noch von früher, dass er ein guter Mensch war, dem man vertrauen konnte.
„Wenn es irgendwas gibt, was ich für dich tun kann, sag Bescheid, ich mache es gerne.“ sagte er und sie nahm das als ein Zeichen dafür, dass sie ihm alles erzählen sollte. Vielleicht könnte er ihr tatsächlich helfen.
„Ich habe ein Problem, Simon. Wenn ich es dir nun erzähle, versprich mir bitte, dass du nicht sofort falsche Schlüsse ziehst und zu der Polizei gehst. Bitte.“ Fest sah sie ihm in die Augen und er nickte. „Die von der Polizei haben gesagt, dass Joshua gestern Nacht umgebracht wurde… erstochen, mit einem seiner eigenen Küchenmesser. Das Messer habe ich in derselben Nacht noch benutzt. Meine Fingerabdrücke sind darauf. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es ein Einbruch war und ich bin die Einzige, die einen Schlüssel zu seiner Wohnung hat… oder der Joshua im Schlafanzug die Tür aufmachen würde.“ Luisa hielt inne um zusehen wie Simon reagierte, doch er ließ sich keine Gefühlregung anmerken.
„Luisa, du bist, warst, seine Freundin, es ist ganz normal, dass du dort überall Fingerabdrücke hinterlassen hast. Die sind doch nicht so blöd und schieben dir deswegen den Mord zu. Mach dir keine Sorgen.“ Er sagte es in einem beschwichtigenden Tonfall, doch sie schüttelte energisch den Kopf und lachte leise.
„Aber das ist ja noch nicht alles! Gestern Nacht haben wir uns gestritten. Die Liebmann hat gehört wie Joshua und ich uns angeschrien haben und wenn sie von der Polizei befragt wird, wird sie denen das auch erzählen, aber nicht ohne gehörig zu übertreiben, sie hasst mich.“ Tränen kullerten über ihre Wangen, sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Sie hatte schon immer geahnt, dass Sybille Liebmann, eine weitere Nachbarin von Joshua, ihr Schwierigkeiten machen würde. „Sie werden denken, ich hätte Joshua umgebracht!“
Simon schwieg und Luisa hatte das Gefühl, die Stille würde sie erdrücken. Immer noch konnte sie in seinen Augen nichts ablesen und sie fragte sich, was sie tun sollte, wenn Simon ihr nicht glauben würde. Wie könnte sie ihn überzeugen? Würde sie sich selbst überhaupt glauben an seiner Stelle? Sie wusste es nicht und wollte im Grunde auch nicht darüber nachdenken. Das Einzige was sie wusste war, dass sie nach dem Streit mit die Wohnung und den lebendigen Joshua verlassen hatte und erst heute Morgen wiedergekommen war.
„Ich glaube nicht, dass du ihn getötet hast.“ Sagte Simon und Luisa atmete auf. „Aber du hast ein Problem. Hast du niemanden, der bestätigen könnte, dass als du Joshua verlassen hast, er noch lebendig war und du auch danach nicht wiedergekommen bist?“
„Nein. Ich bin Nachhause gefahren und sofort ins Bett, es war ja schon spät.“ Luisa senkte den Kopf und Simon seufzte.
„Vielleicht solltest du mit der Liebmann reden? Im Grunde ist sie gar nicht so übel, sie wird dich schon verstehen…“
„Die schlägt mir die Tür vor der Nase wieder zu, ich habe es dir doch schon gesagt, sie hasst mich… und ich hasse sie auch.“
„Dann gehen wir eben zusammen zu ihr. Die Polizisten sind schon weg, oder?“
„Ja, sind sie.“ Langsam schöpfte Luisa wieder Hoffnung. Wenn Sybille Liebmann der Polizei nichts sagen würde, was Luisa belastete, wären ihre Schwierigkeiten gar nicht so groß. Obwohl sie nicht religiös war, betete sie in Gedanken inständig dafür, dass sie unbeschadet aus dieser Sache rauskommen würde, schließlich war sie unschuldig.
Als die Beiden Simons Wohnung verließen und den Flur durchquerten, fiel ihr Blick auf die versiegelte Wohnungstür von Joshua. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie ihn nie wieder sehen, oder seine Stimme nie mehr hören würde.
Simon wartete schon an der Tür der verhassten Nachbarin und sah sie fragend an, als sie endlich ihren Blick lösen konnte. Luisa nickte nur und drückte auf die Türklingel. Ihre Knie wurden weicher und weicher, ihr kam es vor wie eine Ewigkeit, bis endlich die Tür geöffnet wurde.
„Herr Höf! Schön Sie zu sehen… haben Sie mitbekommen, was passiert ist? Die –“ der anfangs freundliche Gesichtsausdruck und Ton der Nachbarin änderte sich schlagartig, als sie sah, dass Simon nicht alleine war. Giftig blickte sie nun in Luisas Richtung. „Sie! Was wollen Sie von mir?“
„Frau Liebmann, wir möchten gerne mit Ihnen sprechen… über gestern Nacht. Ist Ihnen da etwas Besonderes aufgefallen?“ Simon sprach ruhig und besänftigend auf Frau Liebmann ein, doch es schien sie nicht zu beruhigen.
„Natürlich ist es das, diese Frau hat Herrn Davis getötet! Ich habe alles genau gehört und der Polizei auch gerade erzählt!“ sie wandte sich an Luisa, griff nach ihrem Arm und hielt sie fest; bohrte geradezu ihre Fingernägel in ihre Haut. „Ich habe schon immer gewusst, dass Sie böse sind. Und nun werden Sie ihre Strafe bekommen! Mörderin!“ schrie Sybille Liebmann und Luisa riss ihren Arm mit einem Ruck aus ihrem Griff und machte einige Schritte zurück, um aus der Reichweite der Liebmann zu kommen.
„Simon, das war es wohl. Trotzdem danke für deine Hilfe.“ Brachte sie unter Mühe noch hervor, warf ihm einen kurzen Blick zu und lief weg, noch bevor er etwas sagen konnte.
Luisa traute sich nicht, Nachhause zu gehen. Sie war fest davon überzeugt, dass die Polizei sie dort erwarten würde und so machte sie schon die fünfte Runde um den Schwanenteich. Spaziergänger und Fahrradfahrer kreuzten ihren Weg, alle waren sie unbeschwert, und sie beneidete sie unverhohlen darum. Gestern noch war sie eine von ihnen, heute war sie wahrscheinlich eine Mordverdächtige und es gab nichts, was sie tun könnte.
Auf ihrem Arm brannten die Kratzer von der Liebmann, Luisa war müde und resignierte, als die Sonne langsam unterging und es kühler wurde. Als sie in die Straße in der sie wohnte einlenkte, glaubte sie, sie würde träumen. Vor ihrem Haus standen keine Polizeiautos, alles war ruhig – wie immer eben. Sie lächelte und ihre Schritte wurden leichter, ihre Ängste erschienen ihr auf einmal unbegründet. Wahrscheinlich hatte der Mörder Spuren hinterlassen und die Polizei suchte nun nach ihm, wissend, dass Luisa unschuldig war und die Liebmann einfach übertrieben hatte.
Zuhause angekommen, machte sie sich einen Kaffee und hörte den Anrufbeantworter ab. Nichts, niemand hatte angerufen. Von Minute zu Minute fühlte sie sich besser und schaltete den Fernseher ein. Am liebsten würde sie sich selbst auslachen.
Ein plötzliches Klingeln an ihrer Haustür ließ sie ihre gute Stimmung jedoch wieder vergessen. Angst stieg wieder in ihr hoch und mit schweißnassen Händen lief sie zur Tür und blickte durch den Spion. Was sie sah verstärkte nur ihre Angst; es waren drei Polizisten, einen von ihnen kannte sie schon, er hatte sie in Joshuas Wohnung befragt. Einmal noch atmete sie tief ein und aus, schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dann öffnete sie die Tür.
„Frau Funke, wir müssen sie leider festnehmen. Sie stehen im Verdacht, Joshua Davis und Sybille Liebmann umgebracht zu haben.“ Luisa senkte demütig den Kopf und wollte schon mit den Polizisten mitgehen, als ihr bewusst wurde, was ihr vorgeworfen wurde.
Die Liebmann war tot?
Simon stand in seinem Badezimmer und besah sich sein Spielgelbild. Er hatte tiefe Augenringe und sah einfach nur müde aus, was, wenn man bedenkt, dass am Vortag zwei seiner Nachbarn ums Leben gekommen waren, nicht weiter verwunderlich war. Luisa saß in Untersuchungshaft und er rief sich ihr gequältes Gesicht in Erinnerung, als sie erfuhr, was die Liebmann ausgesagt hatte und verglich es mit dem hochmütig dreinschauenden Gesicht aus seinem Gedächtnis, als sie ihn gedemütigt und ihm eine Abfuhr erteilt hatte.
Simon grinste höhnisch, Luisa würde verurteilt werden, jeder hielt sie für eine Mörderin und niemand glaubte ihr. Alles sprach gegen sie, die Fingerabdrücke auf dem Messer, mit dem Joshua erstochen wurde, Liebmanns Aussage, die Fingerabdrücke an der Türklingel der Liebmann und auch die Kratzer auf Luisas Arm, die nachweislich von der Nachbarin stammten. Auf der Mordwaffe fehlten zwar ihre Spuren, doch Simon war sich sicher, dass das kein allzu großes Problem war. Vor allem da Andere Luisa aus dem Plattenbau haben flüchten sehen.
Außerdem hatte auch Simon gegen sie ausgesagt. Der Polizei hat er – so fand er – äußerst glaubwürdig erzählt, dass er einen Streit zwischen Luisa und der Liebmann mitgehört und als er danach den Flur betrat, die Leiche entdeckt hatte. Luisa war durch die ganze Geschichte anfangs so verwirrt gewesen, dass sie sich nun in ihren eigenen Aussagen verstrickte. Sie beschuldigte jetzt zwar Simon, aber es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er auch nur im Geringsten etwas mit den Morden zu tun hatte.
Simon lachte leise, Luisa hatte es verdient. Vor Jahren hatte er sich selbst damals geschworen, dass sie leiden und er sich rächen würde.
Und er hielt seine Versprechen, egal was es kostete.