Das Versprechen
Das Versprechen
Er war nur ihretwegen zurückgekommen. Die Stadt war ihm immer fremd gewesen, und es gab sonst nichts außer ihr, das ihn hierherzog. Nur sie. Claire, die zarte und geheimnisvolle. So geheimnisvoll, wie der Name, den er ihr gegeben hatte, denn ihr wirklicher Name war ein anderer.
Es war kein Tag vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hatte. Seine Firma hatte ihn überall hingeschickt, und er war mit ihr in seinen Gedanken in der ganzen Welt herumgereist. Er hatte sich immer gesagt, daß er irgendwann zurückkommen und ihr beim Abschied geschworen, daß er sie eines Tages holen würde.
Am Anfang hatten sie viele Briefe gewechselt. Leidenschaftliche Briefe, die voll waren von Zusammenseinwollen. Doch dann, ganz allmählich, hatte sie zu schreiben aufgehört, und jetzt war er da, um sein Versprechen einzulösen.
Er war jetzt im Ruhestand und hatte in der Nähe des Viertels, wo sie wohnte, eine Wohnung gemietet. Als er vom Bahnhof kam, regnete es. Es war grau und düster, und zunächst saß er in der noch leeren Wohnung mit den Bildern von ihr auf dem Boden. Er sah sich alle Fotos an. Claire am Strand mit wehenden Haaren. Claire überall. Es war so lange her.
Er legte die Bilder in einen alten Schuhkarton zurück. Er war natürlich älter geworden. Seine Stirn lichtete sich bereits, und er überlegte, wie sie jetzt wohl aussehen mochte. Sie mußte fast sechzig sein. Bestimmt erinnerte nichts mehr an das fröhliche Mädchen mit den dunklen Haaren und den haselnußbraunen Augen. Er wußte nicht, was aus ihr geworden war. Vielleicht war sie ja verheiratet. Schon Großmutter, oder sogar drogenabhängig, ein Schandfleck der Gesellschaft.
Oder aber Claire, die zarte und geheimnisvolle.
Er öffnete die Tür der Wohnung und trat in den Regen hinaus. Fröstelnd steckte er die Hände in die Manteltaschen und fühlte mit den Fingern den kalten Gegenstand aus Metall.
Zunächst ging er in die Straße, in der sie gewohnt hatte und dessen Name sie zuletzt auf die Briefumschläge geschrieben hatte. Doch schließlich stand er vor der Tür ihres Hauses und konnte auf den Klingelknöpfen ihren Namen nicht lesen.
Er klingelte irgendwo.
Eine alte Dame betätigte den elektrischen Tueröffner und blickte ihn fragend an, als er im Treppenhaus vor ihm stand.
"Ich suche eine Frau mit dem Namen Liz Schmidt."
Wie nüchtern dieser Name klang. Nicht wie 'Claire', so wie er sie immer genannt hatte.
Die Frau nickte. "Sie wohnt hier nicht mehr. Schon seit langem ist sie umgezogen."
"Wohin?" fragte er.
"In ein ziemlich zweifelhaftes Viertel", erwiderte sie leise. Und als er sie immer noch fragend ansah, erklärte sie ihm mit gedämpfter Stimme, wo ihre Wohnung lag.
In einem alten und sehr vernachlässigten Haus wohnte Liz zur Untermiete. Er klingelte ungeduldig, und die Vermieterin sah ihn unfreundlich an, als sie öffnete.
"Ich möchte zu Liz", sagte er.
Sie blickte ihn geringschätzig an und antwortete: "Wenn Sie sie finden wollen, dann müssen Sie ins 'Tivoli' gehen!"
Er stand fragend vor ihr. "Tivoli? Was ist das Tivoli?"
"Eine Nachtbar!" Sie lachte schrill.
Er erkundigte sich schüchtern nach dem Weg.
"Sie fahren mit dem Bus direkt zum Bahnhof", erklärte die Vermieterin gelangweilt, als ob er nicht der erste wäre, der danach fragte. "Wenn Sie an der Endstation aussteigen und immer geradeaus gehen, stoßen Sie schon mit der Nase drauf!"
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er in dem Bus saß. Eine halbe Stunde später hatte er das 'Tivoli' gefunden. Er stand auf der anderen Straßenseite und betrachtete die rote Leuchtschrift über dem Eingang.
Es kam ihm seltsam vor, daß er in dieser fremden Umgebung nach Claire suchen sollte.
Schließlich setzte er sich in ein Café, das schräg gegenüber der Bar lag und wartete.
Es wurde dunkel.
Unzählige Male öffnete sich die Tür des Tivolis, und Männer traten ein und aus. Aber irgendwann, gegen elf, sah er sie. Seine Claire, die leicht schwingend aus der Bar kam. Er hatte gedacht, daß sie alt geworden wäre. Falten im Gesicht und graue Haare. Doch sie war fast jung geblieben. Ihre Haare waren natürlich gefärbt, und ein grelles Make-up verbarg die Falten sicherlich so gut es ging. Doch den jugendlichen Gang hatte sie behalten, und sie ging federnd und eilig die Straße entlang.
Er folgte ihr. Sie ging immer weiter, bis sie in eine unbelebte Gegend kam.
Das Nachtleben hatten sie ein paar Straßen hinter sich gelassen, und hier war es still.
Sie bog in eine enge Seitengasse ein, die an beiden Seiten von hohen Fabrikwänden begrenzt wurde.
"Claire!" rief er.
Sie blieb stehen. "Ja?"
Er stand vor ihr und sah in ihre braunen Augen. Er war überrascht. Sie war fast überhaupt nicht älter geworden und sah noch so aus, wie auf den Fotos, die er betrachtet hatte.
Aber sie erkannte ihn nicht mehr.
Er wühlte nach dem kalten Gegenstand in seiner Tasche.
"Claire!" rief er und holte den Revolver hervor.
Ihr Blick gefror.
"Claire! Bitte geh' nicht! Warum hast du nicht auf mich gewartet?"
Sie blickte ihn entsetzt an.
Er schoß. Dreimal ließ er den Hahn der Pistole nach vorne schnellen.
Er machte sich keine Gedanken darüber, ob ihn jemand gehört oder gesehen hatte. Er wollte nach Hause gehen, um die Pistole noch einmal für sich selbst zu laden. Sie wären wieder zusammen, er und Claire, die nicht auf ihn gewartet hatte.
Er ging die Straße zurück. Als er an der Bar vorbeikam, stockte er. Er konnte nicht vorbeigehen, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben.
Er öffnete die Tür. Dunst, gemischt aus billigem Parfüm und Zigarettenrauch, schlug ihm entgegen. Eine Frau stand hinter dem Tresen mit einem billigen Satinkleid bekleidet, und er ging langsam auf sie zu.
Plötzlich erstarrte er. Er wurde kreideweiß, als ihn der Blick der Frau hinter dem Tresen traf.
"Claire! Meine kleine Claire!"
Sie sah ihn minutenlang an. Sah ihn an mit haselnußbraunen Augen. Sie war doch älter geworden, er hätte sie fast nicht erkannt.
"George!" rief sie fassungslos. "George, warum bist du nie gekommen?"
"Ich habe immer gewartet", sagte er leise.
"Ich habe jede Minute gehofft, daß du zurückkommst", antwortete Liz. "Aber du bist nie gekommen."
Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: "Wie anders wäre mein Leben doch verlaufen, wenn du bei mir geblieben wärst. Ich habe eine Tochter. Sie ist vor einer halben Stunde gegangen. Ich habe sie Claire genannt. So wie du mich immer gerufen hast."
Er schwieg. Er sah nur ihre haselnußbraunen Augen...