Das verbrecherische Bild
Das verbrecherische Bild
„Kommen Sie ruhig näher“, sagte der Maler, der den neugierigen Blick des hinter ihm stehenden Passanten bereits seit längerem in seinem Rücken spürte. Die anfängliche Verlegenheit des nun Ertappten, welche sich in einem gezwungen Lächeln äußerte, wurde schnell wieder von der Neugier verdrängt. Der Fußgänger lies sich die Einladung nicht entgehen und betrachtete das unfertige Bild nun aus nächster Nähe. Rasch veränderte sich jedoch der Gesichtsausdruck des Betrachtenden. Aus dem Lächeln wurde eine zornige und empörte Verkrampfung. „Also das ist doch..., das geht wirklich zu..., nein, nein, wie können sie nur!“ Erschrocken suchte der Passant das Weite, nachdem er offensichtlich auf dem Bild etwas entdeckte, dass nun ganz und gar nicht seiner Erwartung entsprach.
Den Maler kümmerte das nicht weiter. Zufrieden arbeitete er wie bisher weiter an seinem Werk. Da es sich bei seiner Wirkungsstätte allerdings um einen ziemlich belebten Platz handelte, wiederholte sich die Szene mit dem Passanten noch einige Male und jedes Mal suchten sie alle empört das Weite, sobald sie Gelegenheit zur näheren Betrachtung des Bildes bekamen. Schließlich standen statt normalen Fußgängern zwei Polizisten hinter unserem Künstler. Ohne auf eine Einladung zu warten, schritten sie direkt auf das umstrittene Werk zu, um es genauer begutachten zu können. (Offensichtlich hatte sich einer der vorherigen Kunstkritiker bei der Ordnungsmacht beschwert, so dass die beiden Gesetzeshüter bereits ahnten, welch scheußliche Dinge sie auf dem Gemälde würden entdecken können.) Und in der Tat waren sie auch sehr schnell von der Unerhörtheit des Abgebildeten überzeugt, so dass sie gleich den Maler samt seinem Bild packten und fortführten. „Dafür wirst du ganz schön Ärger kriegen, mein Lieber!“, „ja, da kannst du dich nicht mehr rausreden.“, versicherten sie beide dem Maler, der jedoch nichts von seiner Ruhe einbüsste und möglicherweise schon mit so einem plötzlichen Ende seiner Arbeit gerechnet hatte.
Es dauerte nicht lange und der Maler erhielt nun seinen verdienten Prozess, welcher auch nicht viel Zeit in Anspruch nahm, denn die Beweislast wahr ja eindeutig und erdrückend. Außerdem leugnete der Angeklagte keinesfalls seine Schuld, sondern verhielt sich geständig und kooperativ, so dass der Richter schnell das Urteil verlesen konnte:
„wenn es nach mir ginge, würde ich sie, Herr Angeklagter, ohne weiteres sofort am nächstem Baum aufhängen lassen, für diese Scheußlichkeit, die sie sich da geleistet haben. Leider haben wir ja ein modernes Gesetz, welches solch ein Urteil verbietet. Dennoch bereitet es mir – und wie ich meine auch allen anderen Prozessbeteiligten – Genugtuung, in diesem Fall die vorgesehene Höchststrafe verhängen zu können. 10 Jahre Gefängnis, ohne Bewährung und ohne Möglichkeit zur vorzeitigen Entlassung. Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, dass es ihnen im Vollzug nicht zu leicht gemacht wird!“
Das Urteil war gesprochen. Die Besucher des Prozesses waren offensichtlich zufrieden mit dem Ausgang. Sie unterhielten sich in gemäßigter Lautstärke, während sie aufstanden und den Saal verließen. Auch der Maler hatte wohl kein anderes Urteil erwartet, den sein Gesicht sah immer noch fröhlich und zufrieden aus, als er schweigend das Urteil vernahm und hinaus geführt wurde.
10 Jahre waren vergangen und der Maler wurde aus dem Gefängnis entlassen. Sein typischer Ausdruck hatte sich trotz dieser langen Zeit nicht verändert – er zeigte immer noch seine scheinbar unerschütterliche Zufriedenheit, auch wenn sein Gesicht nun ein paar Falten bekommen hatte. Das Bild, welches für sein Schicksal so entscheidend war, wurde kurz nach Verkündung des Urteils vernichtet, sein Malwerkzeug gab man ihm aber zurück. Wieder in Freiheit suchte er sich einen hübschen Platz in der Stadt aus, baute seine Utensilien auf und begann von neuem zu malen.