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Das Testament meines Bruders
Das Leben war schwierig geworden, seit die Terrorgruppe in der Stadt aufgetaucht war. Hanna getraute sich kaum mehr aus dem Haus. Einige ihrer Bekannten und Freunde waren geflohen und Emmely, ihre beste Freundin, spurlos verschwunden.
Hanna hatte man mit dem Tod gedroht, sollte sie nicht zum Islam konvertieren oder Schutzgeld bezahlen.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Seit Generationen lebten Moslem und Christen in ihrem Viertel friedlich zusammen. Man hatte sich respektiert und nun das! Gegenseitiges Misstrauen war gewachsen. Jeder hatte Angst um sein Leben.
Hanna schaute sich in ihrer Wohnung um. Manche Gegenstände und Fotos erinnerten an glücklichere Tage. Sollte sie das alles aufgeben und auch weggehen? Ein Feigling war sie noch nie gewesen; aber jetzt hatte sie Angst.
In einer Stunde fand wieder das Treffen mit den wenigen Christen statt, die es im Ort noch gab. Das Risiko hinzugehen, wurde von Mal zu Mal grösser.
Hanna öffnete den Kleiderschrank und nahm den langen Rock und das Kopftuch heraus. So kleideten sich die Moslem-Frauen. Ob sie damit ihren Glauben verleugnete? Aber hatte nicht Jesus einmal gesagt, man solle klug sein wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben?
Bevor sie die Kellertreppe hinab stieg, warf sie nochmals einen Blick zurück. Vielleicht war es das letzte Mal.
Vom muffigen Geruch im Keller wurde ihr übel. Seit Tagen hatte hier niemand mehr gelüftet. Sie zwängte sich durch das schmale Fenster, das in den Hinterhof hinaus ging. Kein Mensch war zu sehen. Hanna atmete tief durch und ging mit gesenktem Kopf und raschen Schritten zur Strasse.
Der Weg zum Treffpunkt hatte sie schon tausendmal zurückgelegt; aber heute erschien er endlos. Die Strasse war Menschen leer. Nur eine Katze lief an ihr vorbei und verschwand hinter der nächsten Häuserecke.
Bei der Brücke stellten sich ihr plötzlich zwei bewaffnete Männer in den Weg. "Wohin gehst Du? Was hast Du vor?" Misstrauische Blicke massen sie von oben bis unten. Hanna durchfuhr es heiss. Sie schaute kurz nach rechts und nach links. Es war niemand da, der ihr helfen konnte. Und sie wusste, sie sass in der Falle. Was sollte sie antworten? Ihr Kopf war leer. "Jesus, hilf mir", seufzte sie im Stillen. Und plötzlich hörte sie sich sagen: "Mein Bruder ist gestorben und heute wird sein Testament verlesen. Ich gehe hin, um zu erfahren, ob er mir etwas hinterlassen hat."
Einen Augenblick lang sagte keiner ein Wort. Hanna kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie fühlte, wie ihre Beine zitterten. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.
Endlich sagte eine raue Stimme: "Geh!"
Hanna war zu überrascht, um sofort reagieren zu können. Alles kam ihr vor wie ein Traum.
"So geh endlich", rief der Mann nochmals.
Hanna schaffte es bis zu einer Bank, die ausser Sichtweite der Männer war. Ihre Beine gaben nach und sie musste sich setzen. Und dann sass sie einfach nur da und staunte vor sich hin. Langsam hörte das Zittern auf.
Als sie später beim Versammlungsort ankam und ihren Freunden erzählte, was sie erlebt hatte, war die Freude gross. Sie hatten bereits mit dem Schlimmsten gerechnet, als Hanna nicht zur festgesetzten Zeit da war. Plötzlich stimmte einer das alte Lutherlied an:
Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen.
Sie fassten sich bei den Händen und bildeten einen Kreis. Hanna schaute sich um. Ihr Blick wanderte von einem zum andern und blieb an Jakob und Klara hängen. Die Terroristen hatten vor kurzem ihr Haus angezündet. Zum Glück fanden sie bei Freunden Unterschlupf. Und dann war dort Paul, der Gemischtwarenhändler. Sein Sohn wurde vor seinen Augen erschossen, weil er kein Schutzgeld zahlen wollte. Seiner Frau Rosa, die neben ihm stand, liefen die Tränen über die Wangen und doch versuchte sie mitzusingen:
Mit unserer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.
Es streit' für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist? Er heisst Jesus Christ, der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott; das Feld muss er behalten.
Auch Hanna stiegen die Tränen in die Augen. Ein warmes Gefühl der Zusammengehörigkeit erfasste sie und die Angst fiel von ihr ab.