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Das Suizidproblem

Kew

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26.05.2009
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Das Suizidproblem

Wir haben ja häufiger Suizidgeschichten hier und meistens kommen die eher bescheiden an. Ich hab ein wenig nachgedacht, weshalb. Das Ganze hat weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch Richtigkeit, sondern sind nur ein paar Überlegungen, mit denen ich das Thema für mich zu erschließen suche. Für Anregungen, Anmerkungen etc. bin ich daher dankbar.
1. Erzählperspektive
In den meisten Fällen wird der Suizid aus der Ich-Perspektive angegangen, was gleich zwei Probleme nach sich zieht: der Erzähler stirbt im Laufe der Handlung und erzählt doch; die Glaubwürdigkeit leidet stark und die Geschichte wird schnell wehleidig. Ersteres kann man noch halbwegs ignorieren, weil es sich mehr um eine Konvention handelt.
Bei der Glaubwürdigkeit dagegen hört’s damit auf, weil sich der Autor in den meisten Fällen schlichtweg übernimmt. Suizid ist eines der ganz schweren Themen, eine der ganz schweren Fragen: Warum tötet ein Mensch sich selbst? Bei diesem Thema bedeutet die Wahl eines Ich-Erzählers: Ich weiß da eine Antwort drauf, ich kann nachvollziehen, warum jemand spring oder sich die Kugel gibt und, was wohl am schwierigsten ist, ich kann das auch darstellen. In den meisten Fällen klappt das nicht.
Die wenigstens (hoffe ich mal) werden konkrete Erfahrungen mit dem Thema haben und können somit nicht auf ihren eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen; und sich in eine solche Person einzufühlen, bedeutet ein Maß an Empathie, das ich mir beispielsweise nicht zutraue. Unabhängig vom persönlichen Vermögen sich einzufühlen oder Gefühle zu imaginieren, ist es, denke ich richtig zu sagen: Ich-Erzähler bei Suizidtexte sind einfach sakrisch schwer.
Zu dem neigen Ich-Erzähler ohnehin dazu, zu sehr um sich selbst zu kreisen, zu sehr die eigenen Welt darzustellen und den eigenen Schmerz. Und bei Selbstmord folgt daraus häufig eine Aufzählung von Qual und Schmerz, die ich als Leser überhaupt nicht nachvollziehen kann, weil alles nur abstrakt bleibt.
Letztlich ist es so: Mir geht’s scheiße – lässt mich kalt, ganz gleich wie sehr das ausgeführt wird. Was mich dagegen mitnimmt, sind Situationen und Handlungen, in denen ich das Leid der Figur indirekt vermittelt bekomme. Ein nicht sonderlich innovatives Beispiel, das aber seinen Zweck erfüllen sollte: Die leidende Figur ist eigentlich ein Naturfreund (was mir vorher auch vom Autor gezeigt wurde) und sieht einen tollen Sonnenuntergang, einen Schmetterling auf taufeuchtem Gras etc. und es lässt ihn völlig kalt. Sein Schmerz nimmt ihm die Fähigkeit das zu sehen, was ihm früher Freude bereitet hat.
Setzt man das ganze subtiler und besser um, als bei mir im Beispiel, hat man die für mich beste Möglichkeit Gefühle zu vermitteln.
Aber gerade dieses von Außendarstellen, dieses subtile Andeuten wird schwierig mit einem Ich-Erzähler, dem es halt scheiße geht. Der wird eher direkt sein – was zu dem eben beschrieben Problem führt.
Zusammengefasst: Wenn man Suizidtexte schreiben möchte, sollte die Ich-Perspektive vermieden werden. Es sei denn, man ist sich seiner Fähigkeiten sehr sicher.

2. Abstrakt und Konkret
Das Leid durch bloße Schilderung nicht erfahrbar wird, sprich abstrakt bleibt, ist Teil eines weiteren Aspektes vieler Selbstmordgeschichten hier: Der Selbstmord ist die einzige konkrete Handlung.
Vorher wird entweder nur das Leid beschrieben und selbst, wenn es eine der Geschichten ist, die diese Problematik umgeht, passiert vorher häufig kaum etwas. Vielleicht geht die Hauptfigur zur Arbeit: alles scheiße. Sie geht zum Einkaufen: alles scheiße. Sie geht nach Hause: alles scheiße und niemand ist da. Dann erinnert sie sich an die letzten 10 Jahre: alles scheiße. Gleiches gilt freilich für die Zukunft, folglich bringt sich die Hauptfigur um.
Damit ist aber der Suizid das einzig Konkrete, was passiert. Nur in diesem Moment handelt die Figur, vorher wird quasi nur eine Einleitung geliefert, die Rahmenbedingungen werden abgesteckt und in dem Moment, da es eigentlich losgehen sollte, ist für immer Schluss.
Letztlich sind aber Geschichten mit Handlung, mit Entwicklung viel einfacher zu schreiben. (Auf die Diskussion, ob sie generell besser sind, lasse ich mich nicht ein, da gibt’s genügend Beispiele für und wider.)
Wichtig für eine Suizidgeschichte ist demnach, dass man nicht erst dann anfängt, wenn alles schon geklärt ist, alles schon entschieden, sondern vorher; dass man die Entwicklung aufzeigt vom Erträglichen zum Unerträglichen zum Suizid. Das Figuren auftreten und interagieren. Die gibt’s nämlich in Suizidtexten hier ebenfalls erstaunlich selten. Meistens werden sie nur kurz erwähnt - die verlorenen Freunde, die verlorene Liebe, die bösen Kollegen – ohne je wirklich aufzutreten, je Farbe und Tiefe zu erhalten. Sie bleiben abstrakt, bloßes Pappmaché.

3. Thema
Mir ist aufgefallen, dass in den meisten Suizidtexten der Selbstmord gar nicht das eigentliche Thema der Geschichte ist. Häufig geht es um Liebeskummer oder Einsamkeit.
Die Figur kommt mit ihrem Leben nicht zurecht, hat Probleme, leidet an der Welt oder sich selbst. Und darin liegt das eigentliche Thema der Geschichte, das sollte ausgearbeitet werden, darauf sollte der Fokus liegen. Stattdessen kommt der Suizid daher und überrollt alles.
Dabei dient der Selbstmord häufig nur als Beweis: Seht her mir geht es wirklich schlecht, ich bringe mich sogar um. Er kommt also zum Einsatz, wenn andere Mittel der Überzeugung versagt haben oder nicht bedacht wurden. Der Leser soll auch wirklich verstehen, dass der Verlust der ersten Liebe schrecklich ist, dass zehn Jahre Einsamkeit und verpfuschtes Leben irreversibel sind.
Weil aber Suizid so ein wichtiges/starkes Thema ist oder einfach nur ein rotes Tuch für manche von uns, bleibt er nicht bei dieser (sicherlich nicht sonderlichen tollen) Rolle, sondern verdrängt das eigentliche Thema. Das Ergebnis: Weder ist das eigentliche Thema richtig bearbeitet noch der Suizid. Die Geschichte verkommt im Halbgaren.
Was lernen wir daraus: Entweder ich bleibe bei meinem Thema des Leidens und lass das Umbringen weg. Oder ich konzentriere mich auf den Selbstmord und stelle den in die Mitte und kümmere mich wirklich drum und setzte mich damit auseinander.

4. Die Hauptfigur
Was ich weiter oben übrigen Figuren geschrieben habe, trifft auch auf die Hauptfigur zu: Sie bleibt häufig sehr, sehr flach. Und gerade hier, da es so viel zu erklären, soviel zu motivieren gibt. Schließlich bringt sich die Figur um. Und damit der Leser das abnimmt, muss er viel über die Figur wissen.
Woher kommt sie? Was ist ihr wichtig? Was verursacht ihr Leid? Und letztlich weshalb tötet sie sich selbst? Die Antwort auf diese Frage muss zum einen herausgearbeitet werden, damit die Handlung nachvollziehbar ist. Zum anderen darf’s nicht so simpel sein wie: Unglücklich verliebt. Nicht, dass Liebe nicht zu Selbstmord führen kann, aber das muss dann ausgearbeitet sein, mit Details, mit Fleisch, mit Leben. Nicht nur kurz erwähnt.
Womit wir letztlich wieder bei der Tatsache sind: Selbstmordgeschichten sind, sollen sie gut sein, extrem schwer.

5. Distanz
Mein vorerst letzter Punkt: Je weiter ich von der Figur weg bin, desto einfach wird’s für mich als Autor. Das klingt jetzt wie ein Widerspruch zu Punkt 4. An einem Beispiel lässt es sich hier denke ich am besten Zeigen. Wenn ich meine Figur eine Zeitung lesen lasse und dort steht etwas über einen Suizid, hab ich kein Problem. Die Distanz ist so groß, dass es als wahr hingekommen wird, dass ich nichts erklären muss. Und das Prinzip gilt, denke ich universell. Je peripherer die Figur, desto weniger Arbeit muss ich in ihren Abgang stecken. Wenn eine Nebenfigur stirbt, bin ich als Leser, wie die Hauptfigur, nur am Rande dabei. Ich verstehe, wie sie, nicht alles, kann nur Vermutungen anstellen und erwarte auch gar keine klare Antwort auf die Frage nach dem Warum. Ich nehme es hin, weil die Hauptfigur diese Wahrheit erfährt: Die Figur ist tot.
Selbst wenn ich jetzt einen Grund bekomme, brauche ich da keinen sonderlich ausgefeilten, um ihn hinzunehmen. In diesem Fall funktioniert die Erklärung: unglücklich verliebt, auch ohne große Ausführung und ohne viel Finesse.
Stirbt dagegen die Hauptfigur wird’s wieder kritisch. Da will ich alles wissen, da lasse ich mich nicht mit Halbheiten abspeisen. Trotzdem ist es auch hier, meines Erachten nach, am besten Distanz zu wahren, der Erzähler sollte der Figur nicht zu sehr in ihr Innenleben blicken, sondern die letzten Momente, die letzten Erklärungen verschwiegen oder nur von außen andeuten.
Fazit: Opfert eure Randfiguren, lasst sie sterben wie die Fliegen. Aber bei den Hauptfiguren seit Vorsichtig. Der Leser will einen guten Grund, warum er sie verliert.

Gruß,
Kew

 

Hallo Illusionist,

Suizidgefährdete Personen leben oft in einer abgeschlossenen Welt, die einer ganz eigenen Logik folgt und sich den meisten anderen Menschen völlig entzieht, weil auch der Versuch sie zu verstehen als unerlaubter Eingriff empfunden wird.
Ist auch schwierig. Auf die Frage, darf ich da Eingreifen, muss ich da Eingreifen, wenn sich jemand die Absicht hat, sich selbst zu töten, gibt's ja keine letztgültige Antwort. Klinisch wird ja damit argumentiert, dass Überlebende eines Suizidversuchs im nachhinein froh sind, Hilfe erhalten zu haben - Eingriffen werden da als legitim angesehen.
Sich in das Weltbild eines Suizidenten einzudenken ist sicher auch eine heftige Aufgabe, sowohl von der Denkleistung her, als auch emotional - es handelt sich ja nicht gerade um die fröhlichste Materie - aber der Versuch sollte gemacht werden. Gerade literarisch. Weil da ist man ja nicht daran gebunden, dass man einer betroffenen Person eigentlich helfen möchte, sprich dass man nicht völlig ihren Standpunkt einnehmen darf, weil man sonst leicht sagt, ja, mach doch - es ist als Gedankenexperiment möglich sich der Materie so weit zu nähern, wie es für einen nicht Betroffener machbar ist.

Ein Ich-Erzähler müsste demnach, um glaubhaft zu bleiben, erzählerisch in seiner Welt bleiben. Das ist ein Kunstück, das einem erst einmal gelingen will, denn gleichzeitig will man als Autor ja auch die Außenwelt und die Außenstehenden schildern.
Ein solcher Erzähler gibt nur einen sehr begrenzten Blick auf das Geschehen frei und man müsste eine Möglichkeit finden, die toten Winkel auszuleuchten.
Das ist wirklich schwer. Ein gutes Beispiel finde ich da Nabokov mit Lolita und der Zauberer. Da wird ja aus der Sicht des Pädophilen geschrieben und das wird so konsequent gemacht, dass man als Leser immer moralisch immer gegenhalten muss - was die Figur da tut ist nicht korrekt.
Aber den Grad zu finden, dass man zum einen ein geschlossenes Bild hat, zum anderen dieses Bild für den Leser noch interessant bleibt, ist eine harte Nuss.

Zwischen der Entscheidung sich umzubringen und dem Selbstmord liegt oft ein sehr langer Zeitraum und es ist eine Zeit, in der man (bei ihm war das buchstäblich so) ein "Engelsgesicht" aufsetzt - weil alle Konflikte gelöst sind und der Weg klar ist
Dass es diesen Effekt gibt, dass Betroffene kurz vor dem Suizid glücklicher wirken als davor, den kannte ich, aber der lange Zeitraum ist neu für mich.

und die Suizid-Pointe ist letzlich nur ein literarischer Anstrich für oft sehr persönliche Schriften, und damit der erste zaghafte Schritt hinein ins literarische Schaffen.
Die Sichtweise ist interessant und mir neu. Danke dafür. :)

Gehe ich als Kritiker sachlich an die Geschichte heran, ist mein Urteil wahrscheinlich vernichtend. Viele Autoren wollen aber denke ich eine Rückmeldung ganz anderen Art, sie gewichten anders.
Ja, das ist heikel. Weil prinzipiel will ich den Autor ja nicht verschrecken. Der soll ja nciht aufhören, sondern weiter machen und dazu lernen. Gleichzeitig ist es aber, häufig nicht wirklich was da, was man jetzt loben könnte. Ist halt ein Anfängertext, da hilft nur verwerfen und üben, üben, üben.
Wenn dann noch eine persönliche Problematik rein kommt ... Da kann ich ja als Kritiker nicht wirklich was machen, also zum einen unterscheiden, was ist echt, was fiktional und helfen geht sowieso nicht. Als Kritiker bin ich ja dem Autor völlig fremd.

Kennt jemand denn eine KG oder einen Roman, die/der sich mit dieser Thematik beschäftigt?
Also einen Roman, indem es nur um den Selbstmord geht, kenne ich nicht. Nur welche in denen Randfiguren Suizid begehen. (Manns Doktor Faustus, Nabokovs Ada oder das Verlangen.)
Ein philosophisches Buch, das ich persönlich sehr gut finde, Jean Amery: Hand an sich legen: Diskurs über den Freitod.

Bei anderen Perspektiven ist es kein Problem, aber auch hier schildert man selten den Tod selbst, sondern blendet vorher aus. Der Tod ist beliebt, aber das Todesmoment ist ein absolutes Tabu-Thema. Ich denke, dass diese Tabu-Thematik auch eine gewisse Distanz erzwingt.
Das ist halt eine Sache, da wird man schnell nicht mehr für voll genommen, wenn man da zuviel schildert. Weil jeder sagt, das kannst du nicht wissen, das ist ausgedacht. Der Tod bleibt eben ein Geheimnis und das muss man wohl auch in der Literatur beibehalten, wenn man seinen Bedeutungsgehalt aufrechterhalten möchte. In so Fantasysachen, wo es auferstehung gibt und Geister, verliert der Tod ja schnell an Schrecken/Tiefe.
Bei nicht Ich-Erzählern sieht man die Sache halt von außen: Wie im Film. Oder aber diese, seine Gesichtsfeld verblasste (was es bei Krimis häufiger gibt.)

Bin aber echt begeistert von deiner Abhandlung!
Das freut mich. :)

Gruß,
Kew

 

So sehr ich eure Überlegungen nachvollziehen und auch teilen kann, habe ich einen weiteren Aspekt.
Die meisten Autoren von Suizidgeschichten wollen letztlich genau das möglicherweise gar nicht, was die Geschichte glaubwürdig machen würde.
Die meisten beschreiben ja nur die letzten Minuten vor dem Akt als Momentaufnahme. Ziel des Autoren ist es, verstehen zu wollen, vielleicht auch, das Unverständnis auszudrücken, was für ihn von einem solchen Akt ausgeht. Sich in den Suizid verübenden Menschen einzufühlen, seine letzten Schritte mitzumachen und daraus vielleicht selbst zu verstehen. Das Spiel mit Selbstmorgedanken kennt fast jeder, aber eben nur im Affekt, der nur sehr sehr selten wirklich zum Versuch führt.
Wenn ich aber versuche, durch das Schreiben oder dadurch, mich in eine mir fremde Situation hineinzuversetzen, um sie zu verstehen, dass muss ich in den meisten Fällen selbst als empathischer Mensch scheitern. Wie kann ich etwas verständlich machen, das ich selbst nicht verstehe?
Oft bleibe ich dann in der Vorstellung von akuter Verzweiflung stecken. Ich glaube, das ist für viele auch die Ausgangsfrage:*Wie verzweifelt muss jemand sein, der diesen letzten Schritt geht, für den ich vielleicht zu feige oder zu mutig oder zu froh bin.
Die Ich-Perspektive ist aber für den Antrieb des Autors geradezu zwingend, wenn es doch sein Ehrgeiz ist, sich in die Psyche eines Selbstmörders zu versetzen. Ziel ist es oft gar nicht, eine Suizidgeschichte zu schreiben, *Ziel ist es, sich in die Vorstellungswelt zu versetzen, die dazu führt, ohne die erfassen zu können. Die Herausforderung liegt genau darin, diese für einen selbst fremde Vorstellungswelt zu beschreiben und sie darüber zu verstehen. Ein Paradoxon.

 

Hallo Kew

Ich finde es interessant, dass du dir Gedanken über die literarische Darstellung von Suizidenten gemacht hast. Soweit ich es überblicken kann, sind in den letzten Jahren hier im Forum mehrheitlich Geschichten von Jugendlichen zu diesem Thema eingestellt worden. Diese schreiben aus ihrer Position heraus, da dies ein Thema ist, welches sie bewegt. 1991 lag die Zahl erfolgreicher Suizidenten in Deutschland bei 1500 Jugendlichen im Alter von 15- 25 Jahren sowie 100 Kindern. Für Jugendliche gibt es gewisse Auslöser, die ihnen u.U. eine solche Handlung als angezeigt erscheinen lässt. Ihre Motive können aber nicht einfach 1:1 mit denen von Erwachsener gelichgesetzt werden.

Du legst den Fokus auf die Art und Weise wie solche Themen literarisch verarbeitet sollen. Das ist an sich gut, es geht ja darum, wie es bestmöglich fassbar wird. Doch ich würde der Reihenfolge der Gliederung, die weitgehend für alle Geschichten gilt, die Themenwahl vorabstellen. Es scheint mir das Wichtigste, warum jemand sich überhaupt mit diesem Thema auseinandersetzen will! Ist es einfach eine gedankliche Auseinandersetzung, da es doch eine gewisse Aktualität hat? Ist es persönliche Betroffenheit, weil vielleicht im Bekanntenkreis jemand sich das Leben nahm? Oder ist es für jemanden einfach die Unerträglichkeit des Wissens darum? Es gibt da noch zahlreiche andere Auslöser für Autoren darüber zu schreiben. Aber hier muss meines Erachtens erst mal die Überlegung einsetzen, warum dies ihm ein Antrieb ist, den es bestimmt auch die Form und den Inhalt. Manch einer wird da schnell mal zur Erkenntnis gelangen, dass eine Kurzgeschichte für sein Vorhaben nicht die richtige Wahl ist. Wenn doch, wird er sich auf einen knappen Zeitraum einschränken müssen. Dies erlaubt kein tiefes Eingehen auf die Charaktere und zusätzlich die Entwicklungsgeschichte dahin. Also muss er sich klar werden, passt sein Ansatz überhaupt in diesen Rahmen.

Es stellt sich auch die Frage, inwiefern soll die Geschichte fachlich korrekt abgehandelt werden, wenn jemand darüber schreibt. Im nachfolgenden Kommentar sprach Der Illusionist etwas an, das mich stutzig machte:

Viele Gemütserkrankungen, die damit zusammenhängen, sind kaum oder gar nicht erforscht.

Dem würde ich in dieser Form so nicht zustimmen. Korrekt kann gesagt werden, dass Suizid und Suizidversuche keine eigenen diagnostischen Kriterien darstellen. Sie sind deshalb in den gebräuchlichen diagnostischen Schemata nicht als eigene Kategorien vorgesehen. Hinter einem Suizidversuch können sich sehr unterschiedliche Ursachen verbergen, die im Einzelfall zu klären sind.
In den Kurzgeschichten treten vielfach Schilderungen auf, die in der Fallgeschichte soweit es eine solche wirklich darstellt, fachlich als fragwürdig angesehen werden muss. Es ist da also ratsam, sich an nachvollziehbare Fakten zu orientieren und nicht zu tief gehen zu wollen. In den drei Geschichten, die ich zu dem Thema hier im Forum veröffentlichte, zeigte sich mir, dass es da gut abzuwägen gilt, was für den Leser verständlich und für den Inhalt erforderlich ist.

Soweit Jugendliche dieses Thema literarisch aus ihren Perspektiven verarbeiten, ohne es zu idealisieren oder zu überrissenen Vorstellungen zu präsentieren, finde ich es nicht weiter arg. Dass dabei die hinführenden Faktoren mehr im Vordergrund stehen, darf nicht überraschen, der nackte Tod selbst ist ihnen kein Anliegen.

Soweit meine gerafften Gedanken zur Auseinandersetzung für eine literarische Verarbeitung des Themas.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Kew,

Hut ab vor der Arbeit, die du dir mit dem Thema machst.
Ich habe das bisher viel pragmatischer gesehen. Ich kenne nur Erstlingsgeschichten, die von einem Suizid handeln. Zur Zementierung dieser Aussage kann ich noch beifügen, dass meine erste Geschichte hier auf kg.de auch mit einem Selbstmord endete. Diesen Ausgang der KG habe ich aber dann nach Kritiken geändert. Ich habe aber den Fokus nicht auf dieses grausame Ende gelegt, sondern alle möglichen Konflikte in eine Geschichte gepackt und den Suizid noch als Sahnehäubchen serviert ;).

So, deshalb einmal zwischen den tiefgründigen Gedanken über das Thema einen seichten Grund: Die Geschichte muss bestürzen, packen, traurig und nachdenklich machen. Wie soll das ein Neuer nicht scheinbar einfacher hinbekommen als mit einem Suizid?
Ein frischer Autor kennt ja die aberhunderten Vorläufer nicht.

Von daher ist die kleine kg-Dipl.-Arbeit von Kew und die nachfolgenden Antworten in meinen Augen für Autoren gedacht, die ernsthaft das Thema beackern wollen. Von denen sind mir nicht viele bekannt. Aber vielleicht ändert sich das mit dieser Diskussion. Das wäre ja auch mal eine schöne Challenge-Aufgabe.

 

Hallo Illu

Es ging mir keineswegs darum, deine Meinung irgendwie einzuschränken. Wichtig erscheint mir aber, dass wenn man solche Themen aufgreift, sich bewusst ist, aus welcher Perspektive man sich diesem nähert und keine „populärwissenschaftlichen“ Schnitzer einbaut, die dann weitere Kreise ziehen. Jedermann kennt dieses menschliche Thema, hat seine persönliche Sichtweise dazu. Bleibt ein Autor auf dieser zwischenmenschlichen Schiene, sehe ich da überhaupt kein Problem. Bedient er sich aber fachlicher Ausdrücke oder interpretiert Ursachen, wird es heikel, da ein Laie den Durchblick in diesem Spektrum normalerweise nicht hat. Das Internet ist dafür m. E. ein schlechter Ratgeber, da es ihm schwerfallen dürfte zu beurteilen, was nun fundiert ist oder nicht. Wenn jemand auf den Einbezug fachlicher Kriterien oder Bezeichnungen nicht verzichten will, muss er sich also schon sehr tief in die Materie hineinknien und sich absichern.

Du spiegelst in deinen Zeilen dieses öffentliche Wissen, ich meine dies, ohne zu diskreditieren, aber es belegt, wie schnell man sich vergriffen hat.

Bei den Fällen, die mir persönlich bekannt sind, waren Gemütserkranungen wie Schizophrenie, Depression usw. im Spiel.

„Gemütserkrankungen“ ist ein Begriff, der aus der Fachterminologie seit vielen Jahrzehnten verbannt ist, da es eine höchst unpräzise Aussage darstellt. In der Fachliteratur musste ich bis auf Eugen Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, zurückgreifen, das 1943 erstmals erschien, um den Begriff in solchen Werken zu orten. Desungeachtet hat es vereinzelt Kliniken, die den Begriff gegenüber der Öffentlichkeit noch verwenden.
Es kommt nicht von ungefähr, dass man in diesen Bereichen seit Langem vermeidet, allgemein von Krankheit zu sprechen, sondern sie als Störungen klassiert.
Auch gibt es sowohl bei Schizophrenie als auch bei Depression sich unterteilende Störungsbilder. Die Betroffenen zeigen zudem oft auch Kumulationen mit andern Symptomen. Wenn jemand den zitierten Satz im Alltagsgespräch führt, beisst es nicht, aber wenn es in Literatur einfliesst, beginne ich schon kritisch zu schauen, wem dies in den Mund gelegt wird.

Mein Einwand zielte darauf ab, dass diese Vorgeschichte, und wie sie auf das Gemüt eingewirkt hat, auch dem Fachpersonal weitestgehend verborgen bleibt.

Dies ist eine pauschalisierte Aussage, die mir insofern unbestimmt wirkt, da es die Frage der therapeutischen Behandlung als auch der Kostendeckung einschliesst. Es macht nicht in jedem Fall Sinn, alle Hintergründe einer Syndromentwicklung im Einzelfall zu ergründen. Es gibt Störungsbilder, die nicht einfach „heilbar“ sind, aber durchaus mit Medikamenten auf ein erträgliches Mass für eine normale Lebensführung herabgebrochen werden können, Nebenwirkungen sind dabei aber nicht immer ausgeschlossen. Dass auch Fachleute nicht unbedingt alle Hintergründe einer Fallgeschichte ergründen können, ergibt sich zudem auch daraus, dass es auf die Offenheit und Mitwirkung des Betroffenen ankommt.

Noch als kleine Anmerkung. Es gibt auch Suizidente, die keinerlei Störungsbild aufweisen, deren Handlungsbereitschaft sich einem rein rationalen Akt begründet.

Meine Meinung, dass man in Kurzgeschichten sich an nachvollziehbaren Fakten orientieren und nicht zu tief gehen sollte, kann ich nur nochmals betonen. In ihrem Kommentar hat es bernadette auf einen mir hierfür sinnvoll scheinenden Nenner gebracht: „Die Geschichte muss bestürzen, packen, traurig und nachdenklich machen.“

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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