Das Suizidproblem
Wir haben ja häufiger Suizidgeschichten hier und meistens kommen die eher bescheiden an. Ich hab ein wenig nachgedacht, weshalb. Das Ganze hat weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch Richtigkeit, sondern sind nur ein paar Überlegungen, mit denen ich das Thema für mich zu erschließen suche. Für Anregungen, Anmerkungen etc. bin ich daher dankbar.
1. Erzählperspektive
In den meisten Fällen wird der Suizid aus der Ich-Perspektive angegangen, was gleich zwei Probleme nach sich zieht: der Erzähler stirbt im Laufe der Handlung und erzählt doch; die Glaubwürdigkeit leidet stark und die Geschichte wird schnell wehleidig. Ersteres kann man noch halbwegs ignorieren, weil es sich mehr um eine Konvention handelt.
Bei der Glaubwürdigkeit dagegen hört’s damit auf, weil sich der Autor in den meisten Fällen schlichtweg übernimmt. Suizid ist eines der ganz schweren Themen, eine der ganz schweren Fragen: Warum tötet ein Mensch sich selbst? Bei diesem Thema bedeutet die Wahl eines Ich-Erzählers: Ich weiß da eine Antwort drauf, ich kann nachvollziehen, warum jemand spring oder sich die Kugel gibt und, was wohl am schwierigsten ist, ich kann das auch darstellen. In den meisten Fällen klappt das nicht.
Die wenigstens (hoffe ich mal) werden konkrete Erfahrungen mit dem Thema haben und können somit nicht auf ihren eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen; und sich in eine solche Person einzufühlen, bedeutet ein Maß an Empathie, das ich mir beispielsweise nicht zutraue. Unabhängig vom persönlichen Vermögen sich einzufühlen oder Gefühle zu imaginieren, ist es, denke ich richtig zu sagen: Ich-Erzähler bei Suizidtexte sind einfach sakrisch schwer.
Zu dem neigen Ich-Erzähler ohnehin dazu, zu sehr um sich selbst zu kreisen, zu sehr die eigenen Welt darzustellen und den eigenen Schmerz. Und bei Selbstmord folgt daraus häufig eine Aufzählung von Qual und Schmerz, die ich als Leser überhaupt nicht nachvollziehen kann, weil alles nur abstrakt bleibt.
Letztlich ist es so: Mir geht’s scheiße – lässt mich kalt, ganz gleich wie sehr das ausgeführt wird. Was mich dagegen mitnimmt, sind Situationen und Handlungen, in denen ich das Leid der Figur indirekt vermittelt bekomme. Ein nicht sonderlich innovatives Beispiel, das aber seinen Zweck erfüllen sollte: Die leidende Figur ist eigentlich ein Naturfreund (was mir vorher auch vom Autor gezeigt wurde) und sieht einen tollen Sonnenuntergang, einen Schmetterling auf taufeuchtem Gras etc. und es lässt ihn völlig kalt. Sein Schmerz nimmt ihm die Fähigkeit das zu sehen, was ihm früher Freude bereitet hat.
Setzt man das ganze subtiler und besser um, als bei mir im Beispiel, hat man die für mich beste Möglichkeit Gefühle zu vermitteln.
Aber gerade dieses von Außendarstellen, dieses subtile Andeuten wird schwierig mit einem Ich-Erzähler, dem es halt scheiße geht. Der wird eher direkt sein – was zu dem eben beschrieben Problem führt.
Zusammengefasst: Wenn man Suizidtexte schreiben möchte, sollte die Ich-Perspektive vermieden werden. Es sei denn, man ist sich seiner Fähigkeiten sehr sicher.
2. Abstrakt und Konkret
Das Leid durch bloße Schilderung nicht erfahrbar wird, sprich abstrakt bleibt, ist Teil eines weiteren Aspektes vieler Selbstmordgeschichten hier: Der Selbstmord ist die einzige konkrete Handlung.
Vorher wird entweder nur das Leid beschrieben und selbst, wenn es eine der Geschichten ist, die diese Problematik umgeht, passiert vorher häufig kaum etwas. Vielleicht geht die Hauptfigur zur Arbeit: alles scheiße. Sie geht zum Einkaufen: alles scheiße. Sie geht nach Hause: alles scheiße und niemand ist da. Dann erinnert sie sich an die letzten 10 Jahre: alles scheiße. Gleiches gilt freilich für die Zukunft, folglich bringt sich die Hauptfigur um.
Damit ist aber der Suizid das einzig Konkrete, was passiert. Nur in diesem Moment handelt die Figur, vorher wird quasi nur eine Einleitung geliefert, die Rahmenbedingungen werden abgesteckt und in dem Moment, da es eigentlich losgehen sollte, ist für immer Schluss.
Letztlich sind aber Geschichten mit Handlung, mit Entwicklung viel einfacher zu schreiben. (Auf die Diskussion, ob sie generell besser sind, lasse ich mich nicht ein, da gibt’s genügend Beispiele für und wider.)
Wichtig für eine Suizidgeschichte ist demnach, dass man nicht erst dann anfängt, wenn alles schon geklärt ist, alles schon entschieden, sondern vorher; dass man die Entwicklung aufzeigt vom Erträglichen zum Unerträglichen zum Suizid. Das Figuren auftreten und interagieren. Die gibt’s nämlich in Suizidtexten hier ebenfalls erstaunlich selten. Meistens werden sie nur kurz erwähnt - die verlorenen Freunde, die verlorene Liebe, die bösen Kollegen – ohne je wirklich aufzutreten, je Farbe und Tiefe zu erhalten. Sie bleiben abstrakt, bloßes Pappmaché.
3. Thema
Mir ist aufgefallen, dass in den meisten Suizidtexten der Selbstmord gar nicht das eigentliche Thema der Geschichte ist. Häufig geht es um Liebeskummer oder Einsamkeit.
Die Figur kommt mit ihrem Leben nicht zurecht, hat Probleme, leidet an der Welt oder sich selbst. Und darin liegt das eigentliche Thema der Geschichte, das sollte ausgearbeitet werden, darauf sollte der Fokus liegen. Stattdessen kommt der Suizid daher und überrollt alles.
Dabei dient der Selbstmord häufig nur als Beweis: Seht her mir geht es wirklich schlecht, ich bringe mich sogar um. Er kommt also zum Einsatz, wenn andere Mittel der Überzeugung versagt haben oder nicht bedacht wurden. Der Leser soll auch wirklich verstehen, dass der Verlust der ersten Liebe schrecklich ist, dass zehn Jahre Einsamkeit und verpfuschtes Leben irreversibel sind.
Weil aber Suizid so ein wichtiges/starkes Thema ist oder einfach nur ein rotes Tuch für manche von uns, bleibt er nicht bei dieser (sicherlich nicht sonderlichen tollen) Rolle, sondern verdrängt das eigentliche Thema. Das Ergebnis: Weder ist das eigentliche Thema richtig bearbeitet noch der Suizid. Die Geschichte verkommt im Halbgaren.
Was lernen wir daraus: Entweder ich bleibe bei meinem Thema des Leidens und lass das Umbringen weg. Oder ich konzentriere mich auf den Selbstmord und stelle den in die Mitte und kümmere mich wirklich drum und setzte mich damit auseinander.
4. Die Hauptfigur
Was ich weiter oben übrigen Figuren geschrieben habe, trifft auch auf die Hauptfigur zu: Sie bleibt häufig sehr, sehr flach. Und gerade hier, da es so viel zu erklären, soviel zu motivieren gibt. Schließlich bringt sich die Figur um. Und damit der Leser das abnimmt, muss er viel über die Figur wissen.
Woher kommt sie? Was ist ihr wichtig? Was verursacht ihr Leid? Und letztlich weshalb tötet sie sich selbst? Die Antwort auf diese Frage muss zum einen herausgearbeitet werden, damit die Handlung nachvollziehbar ist. Zum anderen darf’s nicht so simpel sein wie: Unglücklich verliebt. Nicht, dass Liebe nicht zu Selbstmord führen kann, aber das muss dann ausgearbeitet sein, mit Details, mit Fleisch, mit Leben. Nicht nur kurz erwähnt.
Womit wir letztlich wieder bei der Tatsache sind: Selbstmordgeschichten sind, sollen sie gut sein, extrem schwer.
5. Distanz
Mein vorerst letzter Punkt: Je weiter ich von der Figur weg bin, desto einfach wird’s für mich als Autor. Das klingt jetzt wie ein Widerspruch zu Punkt 4. An einem Beispiel lässt es sich hier denke ich am besten Zeigen. Wenn ich meine Figur eine Zeitung lesen lasse und dort steht etwas über einen Suizid, hab ich kein Problem. Die Distanz ist so groß, dass es als wahr hingekommen wird, dass ich nichts erklären muss. Und das Prinzip gilt, denke ich universell. Je peripherer die Figur, desto weniger Arbeit muss ich in ihren Abgang stecken. Wenn eine Nebenfigur stirbt, bin ich als Leser, wie die Hauptfigur, nur am Rande dabei. Ich verstehe, wie sie, nicht alles, kann nur Vermutungen anstellen und erwarte auch gar keine klare Antwort auf die Frage nach dem Warum. Ich nehme es hin, weil die Hauptfigur diese Wahrheit erfährt: Die Figur ist tot.
Selbst wenn ich jetzt einen Grund bekomme, brauche ich da keinen sonderlich ausgefeilten, um ihn hinzunehmen. In diesem Fall funktioniert die Erklärung: unglücklich verliebt, auch ohne große Ausführung und ohne viel Finesse.
Stirbt dagegen die Hauptfigur wird’s wieder kritisch. Da will ich alles wissen, da lasse ich mich nicht mit Halbheiten abspeisen. Trotzdem ist es auch hier, meines Erachten nach, am besten Distanz zu wahren, der Erzähler sollte der Figur nicht zu sehr in ihr Innenleben blicken, sondern die letzten Momente, die letzten Erklärungen verschwiegen oder nur von außen andeuten.
Fazit: Opfert eure Randfiguren, lasst sie sterben wie die Fliegen. Aber bei den Hauptfiguren seit Vorsichtig. Der Leser will einen guten Grund, warum er sie verliert.
Gruß,
Kew