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- Anmerkungen zum Text
Dieser Text ist inspiriert von einem gleichnamigen japanischen Märchen
Das Seegespenst
Kimitaka
Immerhin haben sie sich satt essen dürfen. Der Kahn liegt im Wasser, erbärmlich nackt ohne die aufgestellten Angeln. Ein angemessenes Boot für einen Lügner, einen Dummen und einen Wasserscheuen. Seit Kimitaka es gesehen hat, ist ihm klar, wie wenig die Leute im Dorf an ihren Erfolg glauben. Aber wenn sie die Wahrheit wüssten, wäre es nicht einmal dieses hier geworden. Ein Boot, das vollläuft, geht unter, ob es eine Nussschale ist, oder groß und prächtig, wie das, was er bis vor wenigen Tagen besessen hat.
Nach ihm springt Yoshi jauchzend an Bord. Am Ufer stehen Yoshis Eltern. Im Blick des Vaters liegt dieselbe Verwirrung wie in den Augen der anderen Männer von Tosa. Immerhin hat er es zum Strand geschafft. So viele liegen fiebernd zu Hause, starren die Risse in den Decken an, sehen Dinge darin, zucken zusammen, wenn jemand lacht. Aber es wird nicht mehr viel gelacht in Tosa. Erst die erwachsenen Männer, dann die Jungen. Nur solche wie Isamu und Yoshi sind verschont geblieben, solche, die sie nicht dabei haben wollten auf dem Meer.
Yoshi winkt den Eltern zu, streckt seinen Rücken, nickt feierlich, verbeugt sich, nickt, verbeugt sich, nickt immer noch, als er nach den Rudern greift. Kimitaka geht ans Steuer.
Als Letzter kämpft sich Isamu an Bord, sucht überall Halt, bleich wie der Geist, der dort draußen auf sie wartet. Vielleicht ist es ein Fehler, ihn mitzunehmen.
Isamu
Alles schwankt, der Boden, die Horizontlinie, der Kompass im Bauch, Übelkeit. Die Wellen zerfallen in Linien, die sich immer wieder anders entscheiden. Höhnisches Glucksen am Boot, kalte Spritzer auf der Haut. Schon als Isamu zum ersten Mal das Meer sah, im Tragetuch der Mutter, hat er geschrien vor Entsetzen. Sie hat es ihm später erzählt, während er half, Fische auszunehmen, würgen musste vom Geruch. Der Vater hatte da schon lange nicht mehr mit ihm gesprochen.
Nur heute hat er sich aufgerichtet, hat ihn angesehen, bevor das Fieber ihn wieder auf das Lager warf. Kein Fisch mehr im Haus. Etwas Reis noch für die hungernden Geschwister. Die Mutter hat er seit Tagen nicht essen sehen.
Doch jetzt, wo er den Boden unter den Füßen verloren hat, jetzt weiß er, dass er lieber verhungert wäre. Es ist nicht egal, wie man stirbt. Kimitaka, finster hinten am Steuer, wird ihn nicht zurückbringen. Auf Kimitaka setzen sie ihre Hoffnung. Weil er geschworen hat, dass es leicht sein wird, ganz leicht, deshalb sitzt Isamu hier in diesem Boot. Doch jetzt hat Kimitaka schon dreimal vom Sake getrunken und sieht nicht so aus wie jemand, der von einem Gott auserwählt worden ist. Er schweigt, seit sie losgerudert sind. Ganz im Gegensatz zu Yoshi.
„Isamu, gehst du unter, wenn du ins Wasser fällst?“
„Mag wohl sein.“
„Gehst du dann tot?“
„Halt den Mund.“
Aber Yoshi hält niemals den Mund. Er lässt die Ruder sinken und dreht sich zu ihm. Seine Augen rollen unruhig in den Höhlen umher und dann platzt es wieder aus ihm heraus.
„Papa hat gesagt, wer nicht schwimmen kann, geht unter wie ein Stein. Ich kann schwimmen.“
„Ich weiß.“
„Ich bin ein starker Mann.“
„Dann rudere und sei still.“
Für einen Moment zieht Yoshi vor ihm die Ruder durch das Wasser. Ein Kind im Körper eines Helden.
„Ich bin ein starker Mann.“
„Ja, du bist stark.“
Yoshi freut sich so, dass er auf und ab wippt. Das Boot reagiert. Isamu würgt. „Verdammt, hör auf damit!“
„Isamu, gehst du unter, wenn du ins Wasser fällst? Ich will nicht, dass du totgehst. Gehst du tot?“
„Du bist so dumm. Du kapierst es einfach nicht.“
Yoshi
Mama hat geweint, als Papa gesagt hat, Yoshi wird ein Held sein. Niemand sonst traut sich jetzt auf das Meer, nur Kimitaka, Isamu und er. Warum Mama wohl geweint hat? Es ist so still auf dem Boot. Mama. Er muss nochmal Isamu fragen.
„Gehst du unter, wenn du ins Wasser fällst?“
Isamu fängt an zu schimpfen und Yoshi erschreckt sich, aber er ist auch froh, dass es nicht mehr so still ist.
Kimitaka trinkt Sake, das ist gut. Der Wein hilft ihm, wenn er traurig ist, sagt Papa. Und Kimitaka ist bestimmt sehr traurig, weil sein wilder Sohn Akio vielleicht stirbt und weil Akios Mama eine Kitsune war, eine Fuchsfrau, die weggelaufen ist, als Akio ganz klein war. Ja, Kimitaka braucht Wein.
„Hilft dir der Wein, wenn du traurig bist?“ fragt er ihn.
Kimitaka zuckt mit den Schultern.
„Lass gut sein, Yoshi.“
Yoshi will nochmal fragen, da hört er Isamu hinter sich erbrechen. Das schöne Essen. Fisch und Brot haben sie bekommen, weil sie Helden sind. Isamu würgt alles heraus, er hat aufgehört zu rudern, krallt sich an den Bootsrand und Yoshi muss sich noch mehr anstrengen. Gut, dass er so stark ist.
Isamu stöhnt und ruft ganz laut: „Warum sind sie alle irre geworden, Kimitaka? Was hat der Geist mit ihnen gemacht?“
Kimitaka sagt zu der Flasche: „Das Lachen. Es ist schlimm.“
„Was?!“, schreit Isamu.
„Das Lachen ist schlimm“, hilft Yoshi, weil Kimitaka schon wieder trinkt.
Isamu taucht ächzend hinter ihm die Ruder ins Wasser. „Du warst doch dabei. Warum bist du verschont geblieben?“
Kimitaka schweigt und Isamu redet weiter, mit einer neuen frechen Stimme: „Ich sag dir was, Kimitaka. Du hast nichts mitbekommen, weil du betrunken warst. Der Sakegott hat dich geschützt.“
„Nicht streiten.“ Yoshi laufen Tränen aus den Augen. „Kimitaka ist der Älteste. Man muss Respekt haben, sagt Papa. Man muss Respekt haben.“
Endlich ist Isamu ruhig. Yoshi wischt sich die Nase am Ärmel ab. „Man muss Respekt haben,“ sagt er noch einmal und es fühlt sich ganz richtig an.
Da sagt Isamu: „Wenn Kimitaka weiter so viel trinkt, finden wir die Stelle nicht.“
Kimitaka lacht: „Keine Sorge. Wir sind es, die gefunden werden.“
Kimitaka
Er wird Isamu im Auge behalten. An Land duckt er sich, auf dem Meer dreht er durch. So viele Schläge, und doch hat er bisher niemals ein Boot betreten, man sollte ihn nicht unterschätzen.
Jetzt starrt er mit offenem Mund das an, was jeder Mann in Tosa kennt und liebt: das von Bonitos aufgewühlte Meer. Es wäre der Fang ihres Lebens gewesen, wenn sie Angeln dabei gehabt hätten. Doch das einzige, was sie haben, liegt verborgen unter Kimitakas Bank. Der Schöpflöffel. Der Geist wird nach ihm verlangen. Tief wird er ihn ins Meer tauchen, um ihr kleines Boot mit Wasser zu füllen. Was für eine Freude es ihm bereitet, Menschen im Meer zappeln und schreien zu sehen.
Die erwachsenen Männer ließ er noch ziehen, da sie keinen Löffel bei sich führten. Doch das Boot, das die jungen Burschen nahmen, war gut ausgestattet. Sein Boot. Dort gab es den Schöpflöffel, der ihnen zum Verhängnis wurde. Am Ende war nichts mehr übrig von dem Geprahle, das Gespenst zu finden, das ihre Väter so erschreckt hatte. Sie mussten um ihr Leben schwimmen.
Akio, sein eigener Sohn, wieder mal der Rädelsführer. Morgens lachte er ihm noch ins Gesicht, bevor er heimlich das Boot nahm. Jetzt kämpft er mit dem Tod und das geschieht ihm recht. Seine Wildheit, seine dummen Ideen, die ihm nur gebrochene Knochen und und den Spott des ganzen Dorfes brachten. So viel hat er verdorben, aber das mit dem Boot ist das Schlimmste. Wobei, hat er nicht vielleicht schon die Mutter vertrieben, mit seinem Geschrei? Kimitaka fährt sich übers Gesicht, das feucht ist vom Nebel. Was macht er hier eigentlich?
„Was hat der Drachengott dir verraten?“, schreit Isamu. „Was sind das für Worte, die den Geist besänftigen sollen? Weißt du sie noch?“
Isamu
Etwas ist falsch mit Kimitaka. Seine Augen sind glasig. Er ist genauso irre wie die anderen. Wie hat Isamu das nur übersehen können? Keiner hat es bemerkt, weil sie alle zu viel Respekt vor ihm hatten. Er war schon vorher nicht mehr ganz richtig im Kopf. Wie auch. Die Frau weggelaufen. Der Sake. Und jetzt: das Boot zerstört. Akios langer Körper an den Strand gespült, sein Gesicht mit der schiefen Nase, dem spöttisch verzogenen Mund, zerschunden, seine ewig fahrigen Hände schlaff im nassen Sand. Erst als sie ihn auf die Schultern luden, merkten sie, dass er noch lebte. Kimitaka stand regungslos, als sie ihm den Sohn brachten, so erzählte es Miyu, die Nachbarin. Sie war es, die ihn auszog, ihn salbte, ihm ein wenig Fischsud einflößte, seinen Kopf hielt.
Und dennoch haben sie Kimitaka geglaubt, dass der Drachengott ihn ausgesucht hat. Isamu krampft die Hände um die Ruder. Seine Kleidung klebt am Körper, wo sich Salzwasser und Schweiß mischen. Was, wenn keiner von den anderen Kimitaka geglaubt hat? Haben sie sie geopfert? Das schäbige Boot. Drei Esser weniger. Er versucht sich an die Gesichter derer zu erinnern, die am Strand standen, fast alles Frauen und Kinder. Hat da nicht ein Ausdruck von Schuld in den Gesichtern gelegen?
Wellen schlagen ans Boot, der Wind dreht, es pfeift in seinen Ohren. Das Meer triumphiert. Kimitaka ist irre oder er hat gelogen. Er säuft so viel, wie will er noch ein Wort wissen? Den Spruch lallen?
Yoshi
Er spricht die Worte leise für sich: „Mama, Papa, Mama, Papa. Ich bin ein starker Mann. Ich kann schwimmen. Papa hat gesagt …“
Isamu schreit Kimitaka an und der holt noch eine Flasche aus dem Beutel unter seiner Bank. Yoshi will lieber wieder zurück. Aber sie wollten doch den Geist besänftigen mit den Worten, die der große Drachengott Riujin Kimitaka geschenkt hat. Der Himmel hat sich verdunkelt. Eine Welle schlägt von vorne gegen den Bug. Da rutscht etwas unter Kimitakas Bank hervor. Kimitaka schiebt es mit der Hacke zurück. Aber Yoshi hat den Stiel von einem Löffel gesehen. Von einem Schöpflöffel. Das versteht Yoshi nicht. Isamu hat es auch gesehen und heult auf. Ob Kimitaka sie alle drei umbringen wolle?
Yoshi ruft, doch niemand hört auf ihn. Dabei sieht er es genau. Das Meer schäumt lila und es gibt einen Stoß und Kimitaka schwankt und Isamu schimpft und Yoshi schreit noch mal, so laut er kann, dass da was hochkommt aus dem Wasser, dass da ein Strudel ist. Kimitaka dreht sich um und langt nach dem Schöpfer, der rutscht auf dem Boden, wieder ein Stoß und Kimitaka fällt einfach ins Meer, sein Kopf taucht auf, er klammert sich an das Boot und er ruft, dass sie den Holzschöpfer nehmen sollen. Isamu flucht hinter ihm, doch dann lacht das, was da aufgestiegen ist, es lacht so schlimm, dass Yoshi sich sofort in die Hose macht. Er betet so laut er kann, er fleht zu den Göttern, er hält sich die Augen zu, linst zwischen den Fingern durch, fährt zurück, denn der Geist hat sich heruntergebeugt und grinst wie ein toter Hund, er säuselt mit glitzernden Augen, „Yoshi“, säuselt er, „leih mir den Schöpflöffel“, und Kimitaka schreit, an das Boot geklammert, dass sie ihm den verdammten Schöpfer geben sollen. Isamu heult hinter ihm, dass der Geist sie alle ertränken wird, wenn er den Schöpfer bekommt. Und Yoshi weiß nicht was er tun soll, er beißt sich in die Faust, schwingt vor und zurück und der Geist wächst hoch bis zu den Wolken und seine Stimme schmerzt in den Knochen. Er hält eine kleine Hand auf dort oben, wie kann ein so großer Geist eine so kleine Hand haben, aber er befiehlt, dass Yoshi ihm den Holzschöpfer zuwirft. Yoshi zerrt schluchzend den Löffel unter der Bank hervor.
Und da fällt ihm etwas Merkwürdiges auf, etwas sehr Merkwürdiges.
Während Isamu hinter ihm brüllt, holt Yoshi aus und schleudert den Löffel bis in den Himmel, wo die kleine schwammige Hand danach greift, den Schöpfer groß werden lässt, größer als ihr Boot.
Isamu
Seit das Gespenst da ist, muss er schreien. Das entsetzliche Gelächter darf nicht in seinen Kopf hinein, er muss lauter sein, er muss seine Hände auf die Ohren pressen, muss eine Wand aus Schreien bauen, er darf nicht nachlassen. Yoshi hat den Löffel geworfen und Isamu weiß, dass das sein Ende ist. Eine Welle schlägt ihm ins Gesicht und er verschluckt sich. Ist es schon losgegangen? Etwas plumpst neben ihm ins Boot und er brüllt wieder, da bekommt er einen kräftigen Tritt vor den Knöchel und Kimitaka neben ihm sagt, er soll verdammt nochmal hingucken. Isamu hebt den Kopf. Der Geist steht vor ihrem Boot wie eine Wand, er schöpft und schöpft, doch der Wasserschwall bleibt aus. Das Lachen hört auf, der Geist zieht den Schöpfer durchs Wasser schneller und schneller, er stöhnt ungeduldig, er wimmert, er keucht, er klagt.
Kimitaka
Ein Schöpflöffel ohne Boden ist nutzlos. Immer hektischer werden die Bewegungen des Geistes, wie rasend zieht er den Schöpfer durchs Wasser, wie er sich müht, wie er kämpft, wie er heult vor Wut. Vergeblich all die Anstrengung und dennoch hört er nicht auf, schöpft und schöpft und schöpft.
Akio, der um sein Leben kämpft, der ihn am dritten Tag zu sich gewunken, ihm ins Ohr geflüstert hat. „Vater, ich weiß, wie es gehen könnte.“ Auf den Knien betet Kimitaka zu Riujin, dem Drachengott, dass er ihm seine Lüge nicht übelnimmt. Die Menschen glauben doch eher den Versprechungen eines Gottes als den Einfällen eines Verlierers. Er fleht, dass Akio noch da ist, wenn er kommt, damit er ihm erzählen kann, dass dieses einzige Mal seine Idee zu etwas Gutem geführt hat.
Yoshi
Auf den Boden des Bootes gekauert sieht er zwischen den Fingern zu dem Gespenst. Seltsam. Es kann nur schöpfen. Ausholen, den Schöpfer durch das Wasser ziehen, auskippen, obwohl gar kein Wasser im Schöpfer ist. Und dann noch mal. Und noch mal. Yoshi flüstert: „Ist das Gespenst vielleicht dumm?“
Isamu
Er lebt. Er ist auf dem Wasser und er lebt. Die Bewegungen des Geistes werden schwächer. Isamu kann durch ihn hindurchsehen, die Küste erahnen, von der sie kommen, die liebliche Küste. Neben ihm schluchzt Kimitaka. Betet er? Jetzt wirft das Gespenst den Schöpfer fort, taucht klagend in den Strudel hinab, der bodenlose Schöpfer wird hochgetrieben, er ist geschrumpft, kreist eine Weile, bis das Wasser sich beruhigt. Die Küste ist jetzt klar zu sehen. Wie er das Land liebt. Er will Erde in den Händen halten, Erde seiner Heimat, fremde Erde. Im Landesinnern soll es Berge geben, Birkenwälder. Die Welt wartet auf ihn.