Mitglied
- Beitritt
- 12.03.2020
- Beiträge
- 525
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 20
Das Schloss
Vor mir erstreckte sich eine Allee; zwischen den Bäumen ragten Straßenlaternen empor und verströmten oranges Licht. Ich eilte voraus mit dem sehnlichen Wunsch, endlich das Schloss zu entdecken. Doch vergeblich: Je weiter ich lief, desto dichter wurde der Nebel um mich, bis ich nur noch gedämpftes Licht wahrnahm. Daraufhin beschleunigte ich meinen Gang noch weiter und meine Gedanken rasten. Der alte Mann hatte mir gesagt, dass die Lösung meines Problems im Schloss zu finden sei. Doch wie sollte ich in dieses Schloss eintreten, wenn kein Weg dorthin führte?
Ich stieß mir den Kopf, taumelte zurück und griff mir an die schmerzende Stelle. Daraufhin ging ich behutsamer vor und ertastete mit meiner Hand Holzmaserungen. Als ich mich dagegenstemmte, gab das Holz nach und Licht strömte mir entgegen. Ich fand mich in einem Werkraum wieder: An den Wänden standen Bücherregale, auf einer großen Arbeitsplatte lagen Notizbücher und Zeichnungen, auf denen ich Schlösser erkannte. Rasch las ich die ersten Zeilen in den Notizbüchern; es handelte sich um Beschreibungen von Schlössern. Ich vertiefte mich in die Lektüre, nahm mir ab und an die Zeichnungen zur Hand, um die Ausführungen besser verstehen zu können. Eine Ahnung stieg in mir auf, dass ich selbst das Schloss bauen musste. Mir war schleierhaft, wie das gehen sollte. Immer wieder griff ich nach dem Bleistift und einem leeren Notizbuch, um durch das Schreiben meine Gedanken zu ordnen, und kritzelte eilig auf Papier, um dann alles wieder durchzustreichen. Mein Gedankenfluss kam zum Stillstand. Der Alte hatte mich betrogen.
Ich hätte es wissen müssen. Die Methoden des Alten waren mir von Anfang an falsch vorgekommen – trotz seiner horrenden Rechnungen. Benommen verließ ich die Werkstätte und diesmal hatte ich freie Sicht. Auf dem Kopfsteinpflaster der Allee lag ein dunkel violetter Umhang. Als ich ihn aufheben wollte, glitt er mir wie Sand durch die Hände und verschwand. Ich schaute über die Schulter, doch schon verschluckte mich der Nebel.
Hinter mir hörte ich eine Stimme: „Das ist die falsche Richtung.“
Ich wand den Kopf wieder zurück und sah den Prinzen. Er trug einen goldenen Stirnreif mit einem leuchtenden Rubin in der Mitte, sein weißes Wamst war mit Blumenmustern verziert und über seinen Schultern lag der dunkel violette Umhang. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten, symmetrisch.
„Ich suche mein Schloss“, sagte ich.
„Hier wirst du dein Schloss nie finden. Ich kann es dir zeigen. Vertraust du mir?“, fragte der Prinz und streckte mir seine Hände entgegen. Ich zögerte. Wieder dachte ich an den alten Mann. Ich hatte ihn aufgesucht, um eine Lösung gegen meine seelische Unruhe zu finden. Seit der Trennung schlief ich schlecht und hatte nervöse Zustände, die mir jegliche Freude nahmen. Angefangen hatten unsere Beziehungsprobleme, nachdem ich einen großen Auftrag an meinen Konkurrenten verlor. Sie insistierte, dass ich nicht so einfach aufgeben könne und eine Zeit des Kämpfens gekommen sei. Ich folgte ihrem Rat, stellte meinen Konkurrenten zur Rede und verlor meine Beherrschung. Unglücklicherweise belauschte uns ein Journalist. Die folgende öffentliche Demütigung beendete unsere Beziehung.
„Bist du real?“, fragte ich den Prinzen.
„Ich bin genauso real wie das Schloss, der Werkraum und der alte Mann.“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Doch ich war mir sicher, dass ich nicht träumte.
„Ohne den Alten hätte ich mich hierauf niemals eingelassen. Du bist doch nur ein Fantasiegespinst in meinem Kopf.“
„Und du meinst, nur weil ich in deinem Kopf bin, wäre ich nicht real?“
Darauf wusste ich keine Antwort.
„Vertraust du mir?“, fragte mich der Prinz erneut.
Diesmal nickte ich und legte meine Hände in seine. Ich hatte nichts zu verlieren. Langsam ging er rückwärts, ich schaute ihm in die Augen und folgte.
Der Prinz führte mich eine Treppe hinab. Die Absätze seiner Stiefel klackerten auf Stein, während meine Turnschuhe kein Geräusch erzeugten. In der Luft lag ein modriger Geruch. Wir kamen auf einer ebenen Fläche an. Der Untergrund bestand aus vertrocknetem, braunem Gras. Ein Mann mit blassem Gesicht starrte uns an, die Zähne schwarze Stumpen, der Rücken gebeugt, die Rippen sichtbar; er erinnerte mich an Golum – doch der Prinz setzte seinen Weg unbeirrt fort, schaute nicht einmal zur Seite.
„Wo sind wir?“, fragte ich.
Doch der Prinz schüttelte den Kopf. „Vertrau mir einfach“, sagte er und drehte sich das erste Mal um. Er hielt mich noch immer an einer Hand und wieder ertönte das klackernde Geräusch. Wir erstiegen eine neue Treppe. Als ich nach oben schaute, sah ich das Undenkbare: Die Treppe führte wie bei einem Looping hoch über unsere Köpfe hinweg.
„Einfach Stufe für Stufe. Dir wird nichts passieren, ich gehe vor“, sagte der Prinz und ich glaubte ihm.
Der Körper des Prinzen geriet in Schieflage, aber er fiel nicht. Stattdessen setzte er seinen Weg unbeirrt fort: Schon stand er kopfüber auf den Stufen. Als ich nach unten schaute, sah ich den Anfang der Treppen und das braune Gras. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit erfüllte mich, so mussten sich Astronauten im All fühlen. Wir gingen immer weiter, bis wir wieder in der Horizontalen angekommen waren. Es folgten noch mehrere solcher Loopings, die sich wie eine Spirale immer weiter in die Höhe hoben.
„Wir sind gleich da“, sagte der Prinz, und wirklich ich sah das Ende der Treppen. Das Klackern hörte auf und wir befanden uns auf einer Brücke. Ich konnte die andere Seite sehen, doch in der Mitte der Brücke klaffte ein Loch von einigen Metern.
„Dort müssen wir rüber“, sagte er.
„Da ist ein Loch. Wie sollen wir da rüberkommen?“ Ich stand jetzt am Rand der Lücke und unter mir sah ich blaues Nichts.
„Ich hab Angst“, flüsterte ich.
„Vertraust du mir?“
„Ich will nicht fallen, das ist mir zu viel.“
„Ich gehe vor“, sagte der Prinz und setzte seinen Fuß ins Nichts.
Beide Füße des Prinzen standen im Nichts, als er sich zu mir umdrehte. Er streckte mir seine beiden Hände entgegen und lächelte. „Vertrau mir wie bei den Treppen.“
Ich ergriff seine Hände und setze meinen Fuß nach vorne. Es fühlte sich wie gefrorenes Wasser an, doch da war nichts unter mir. Ich zog den zweiten Fuß nach. Schritt für Schritt überbrückten wir die Lücke, bis wir die andere Seite erreichten.
„Dein Schloss wartet auf dich“, sagte der Prinz und legte mir seinen dunkelvioletten Umhang über die Schulter. Er nickte mir lächelnd zu, dann war er verschwunden. Nach einigen Metern ragte vor mir ein runder Turm empor, die Zinnen waren deutlich zu erkennen. Ich ging weiter und betrat mein Schloss, das ich so dringend benötigt hatte.