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Das perfekte Buch (jetzt noch perfekter)
Und für Thoaaaan, die süßeste aller Thorns, die den nötigen Anstoß gab, zu überarbeiten.
von Detlef Piepenkötter
So. Den Anfang hätte ich. Bis hierher keine Probleme, alles läuft wie geschmiert, das Buch schreibt sich praktisch von selbst. Aber Sie wissen ja gar nicht, was ich machen will. Ich als frenetischer Schriftsteller in spe bin mal wieder nur von mir aus- und gleich in medias res gegangen. Erlauben Sie mir, kurz zu resümieren:
Schon von klein auf bin ich ein begeisterter Leser. Ich las wirklich alles: Vom „minderwertigen“ Comic über Jugendliteratur bis hin zum Brockhaus. Ein Buch konnte sich hierbei ganz klar als mein Lieblingsbuch herauskristallieren: „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende. (Für alle Fans des Brockhauses: Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber dieses Buch ist wirklich besser als „Brockhaus Band 15“.)
Langsam begann ich auch mit anderer Lektüre: Terry Pratchetts Scheibenwelt, Stephen King, Mark Twains Tom Say... Sawy... Soja... Huckleberry Finn, Robert L. Stevensons Schatzinsel, John Grisham und auf Empfehlung eines Freundes Ephraim Kishon.
Um auf den Punkt zu kommen: Nach jeder Lektüre dachte ich: „Meine Fresse, warum ist dir das nicht eingefallen?“
Und so habe ich mich jetzt hingesetzt, Papier und Bleistift herausgeholt und werde nun mein eigenes Buch schreiben. Sollte keine Probleme damit haben. Sehen Sie sich nur die Werke der großen Schriftsteller an.
Ich stelle mir das folgendermaßen vor: Ich schreibe hiermit das perfekte Buch und zeige es einem Freund. Dieser wird das Buch so gut finden, dass er mich überredet, das Werk doch einem Verleger zu zeigen. Äh, na ja, dann wird es veröffentlicht, es wird ein Bestseller, ich werde berühmt. Natürlich wird mein Buch mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet werden.
So, jetzt sind Sie auf dem Laufenden.
Wo war ich ... ach ja. Also, Titel und Name habe ich schon. Wie soll’s jetzt weitergehen?
Nun ja. Also. Ähm. Ja. Puh, ist Ihnen auch so warm? Ich sollte das Fenster öffnen. Ah, gleich viel besser. So, Stift in die Hand und weitergeschrieben.
Schwerer als ich gedacht habe. Aber nicht verzagt und frisch ans Werk.
Kein Wunder, dass mir nichts einfällt: Mein Magen knurrt, ich verspüre ein leichtes Hungergefühl, gerade so stark, dass es meine genialen Gedanken blockiert.
Gleich in die Küche und die Lage analysiert. Es ist sehr wichtig, jetzt keinen Fehler zu begehen: Schon die falsche Entscheidung zwischen Vollkorn- oder Weißbrot kann alles zunichte machen. Natürlich hängt die Wahl vom gewünschten Belag ab. Salami, Lyoner, Käse oder einfach nur Butter. Nehmen wir an, ich entscheide mich für Salami. Kann ich dann mein Brot genießen? Mitnichten! Da fängt es erst an, kompliziert zu werden: Truthahnsalami? Lieber nicht, Vogelgrippe. Schweinesalami? Trichinen. Rindersalami? BSE. Also scheidet Kalbslyoner auch aus. Käse? Schmeckt mir nicht. Butter? Zu einfach. Schweren Herzens greife ich nach einem Pudding. Doch halt! Fast wäre ich meiner Spontaneität zum Opfer gefallen! Ich wollte mir das Erstgreifbare nehmen, ohne zu bedenken, dass ich mich hier zwischen Vanille, Schoko und Cocos entscheiden muss. Von Erdbeere, Banane oder Pfirsich ganz zu schweigen. Nach gründlicher Kühlschrankinspektion ringe ich mich dazu durch, erst das Hungergefühl von Bello zu stillen. Schockiert muss ich feststellen, dass kein Futter mehr da ist. Na ja, ganz hinten im Schrank sind noch ein, zwei Dosen, aber die sind bestimmt veraltet, außerdem ist Bello ein Feinschmecker und die sieben Dosen sind nicht von seiner Lieblingsmarke.
Obwohl ich mein Buch schreiben möchte, mache ich mich auf den Weg ins nahegelegene Geschäft, um seine Gelüste zu befriedigen. Gefräßiges Tier. Denkt ständig nur ans Essen.
Bei der Gelegenheit kaufe ich gleich einen Futternapf mit der Aufschrift „Hasso“. Bello kann sowieso nicht lesen.
Daheim fülle ich das Futter in den neu erstandenen Napf. Ich rufe Bello. Schon kommt er angelaufen; kaum riecht er Essen, ist er nicht mehr zu halten. Das kann sich nur schädigend auf seine Gesundheit auswirken.
Beim Einfüllen des Futters ist etwas auf die Küchenfliesen gefallen. Das sollte ich sofort sauber machen.
So, glänzt wie neu. Oh, aber jetzt sieht der Rest der Küche total dreckig aus; der Kontrast ist Schuld. Soll ich auf die saubere Stelle wieder Dreck streuen? Besser nicht, ich müsste immer wieder sauber machen und wieder Dreck streuen, um eine Einheitsdreckfläche herzustellen. Am besten putze ich die ganze Küche.
War ein hartes Stück Arbeit, aber das Ergebnis entschädigt den Aufwand voll und ganz. Jetzt möchte ich jedoch endlich zurück an mein Buch, von nichts kommt schließlich auch nicht viel mehr.
In der Zwischenzeit ist es schon Mittag geworden, und mein Hunger nimmt langsam aber sicher nicht mehr zu ignorierende Ausmaße an.
Und wieder macht mir meine schwache Entscheidungskraft zu schaffen: Soll ich mir eine Pizza auftauen, Spagetti kochen oder ein Forellenfilet zubereiten? Ich habe mich schon fast durchgedrungen, mir die Nudeln mit einer dazugehörenden Soße zu genehmigen, als mir gerade noch rechtzeitig einfällt, dass ich als Mann nicht fürs Kochen prädestiniert bin. Nun, eigentlich koche ich ganz gerne, aber die Gesellschaft lässt mich auf indirekten Wegen wissen, dass Kochen keine Arbeit für Männer ist. Na ja, wenn die Gesellschaft meint. Ich wische mir den Schweiß aus dem Gesicht, der mir beim Gedanken daran, dass ich fast einen fatalen Fehler begangen hätte, auf die Stirn trat. Gerade noch mal davongekommen. Da sich leider kein Vertreter des nicht-männlichen Geschlechts im Hause befindet, taue ich mir die Pizza auf. Natürlich nicht, ohne vorher in Gedanken zu überprüfen, ob mir das als Mann gestattet ist. Es ist.
Glücklich darüber, dass es mir erlaubt ist, mich vor dem Hungertod zu retten, verspeise ich genüsslich die Pizza. Danach überlege ich, ob ich endlich mein Buch schreiben oder mich erst der Verdauung widmen soll. Meine Überlegungen werden von der Türklingel unterbrochen. Wer kann das sein? Ausgerechnet jetzt, wo ich mein Buch vollenden wollte.
Ich würde wirklich, wirklich gerne weiterschreiben, aber aus prophylaktischen Gründen gehe ich an die Tür. Wenn ich es jetzt nicht täte, würde es bis in alle Ewigkeit weiterklingeln und ich könnte mich nicht konzentrieren. Mit der festen Absicht, dem Störenfried gehörig die Meinung zu sagen, was ihm einfiele, mich ausgerechnet jetzt zu stören, gehe ich zur Türe. Als ich sie öffne und zu einer Standpauke ansetzen will, werde ich der Person gewahr, die da vor der Tür steht und schäme mich sofort meiner Absichten und bringe verlegen ein „Hallo“ heraus.
Nachdem ich die Tür hinter meiner Freundin geschlossen habe, gehen wir ins Wohnzimmer.
Insgeheim ärgere ich mich darüber, dass sie nicht schon da war, als ich Hunger hatte.
Dann hätte sie mir die Spagetti kochen können. Und die Küche putzen. Was sie natürlich auch getan hätte. Als Frau weiß sie, wie die Dinge laufen. Ich bin der Mann. Sie die Frau. Man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass ich in unserer Beziehung die Hosen anhabe. Nicht sie. Ich. Wirklich. Und falls dies nicht so sein sollte, könnte ich es sowieso nicht zugeben (wir sprachen schon von der Männergesellschaft, nicht wahr?). Zum Glück ist es aber ja auch gar nicht so, dass es nicht so ist.
Sie haben es sicherlich schon bemerkt und jetzt kann ich es auch nicht länger verschweigen: Dieses Buch ist einer ganz bestimmten Person gewidmet. Was mir gleich eine weitere Zeile in meinem Werk beschert. Damit wären es drei: Titel, Name des Verfassers und Widmung. Für die Widmung könnte ich mehrere Zeilen verbrauchen. Ein Gedicht oder etwas in der Art. Ich werde mir schon etwas einfallen lassen. Irgendetwas fällt mir immer ein. Obwohl ich gestehen muss, dass es in dieser Hinsicht im Moment schlecht um mich bestellt ist. Jedenfalls sitzen meine Freundin und ich jetzt im Wohnzimmer.
Wir sitzen also da. Ich habe während unserer Beziehung einen untrügerischen Instinkt entwickelt, was ich zu sagen hätte, sollte ich ihren Ausführungen einmal nicht lauschen.
„Ja.“, „Hm.“, „Du hast vollkommen Recht.“, „Wirklich?“, „Unbedingt.“, „Genau meine Meinung.“, solche Sachen. Mehr muss Mann in einer Unterhaltung mit einer Frau ja auch nicht sagen, da sie immer am Reden ist. Plötzlich fragt sie mich etwas. Da ich gerade in Gedanken herausgefunden habe, dass c die Quadratwurzel des Quotienten E durch m ist, setzt mein autopilotgesteuertes Sprachzentrum schon zu einem „Das hast du sehr treffend formuliert“ an, als meine Ohren mein Gehirn alarmieren.
„Ding-ding-ding. Direkte Frage gestellt! Befindet sich nicht in der 08/15-Kategorie! Keine Antwort verfügbar! Autopilot schaltet sich ab. Sprachzentrum muss wieder durch aktives Zuhören gesteuert werden!“
Na toll. Verraten und verkauft, vom eigenen Schutzmechanismus. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Schnell. Natürlich fällt mir ausgerechnet jetzt nichts ein, das ich als glaubwürdige Antwort auf eine Frage, die ich nicht gehört hatte, geben könnte.
Ich tue das Einzige, das ich tun kann. Ich schinde Zeit. Darin bin ich geübt.
„Nun, ja, also, schwer zu sagen. Es ist ja so, dass ... Obwohl ich darüber etwas anderes gelesen habe. Oder habe ich das nur geträumt? Du weißt ja, wie das ist.“
Jetzt tut meine Freundin das Einzige, das sie tun kann und wiederholt ihre Frage:
„Arbeitest du gerade an irgendwas?“
Damit bringt sie mich in einen Gewissenskonflikt: Einerseits sind wir ehrlich zueinander und erzählen uns alles, andererseits ist es mir peinlich, ihr die paar Zeilen zu zeigen, die ich bisher zu Papier gebracht habe. Denn es ist ja klar, dass sie mein Werk würde sehen wollen, wenn ich bejahe. Ich versuche es mit der altbewährten Hinhaltemethode.
„Na ja, weißt du ... um auf den Punkt zu kommen ... man könnte sagen ... ich meine, was bedeutet „arbeiten“ überhaupt? Verstehst du? Sollte die „Arbeit“ an einem Buch nicht in erster Linie Spaß machen? Ich räume ein, dass dies natürlich nur solange der Fall ist, bis man mit seinen Werken Geld verdient. Viel Geld, um genau zu sein. Dann, ja, dann kann man von Arbeit sprechen. Vorher nicht.“
Ihrem Blick kann ich entnehmen, dass ich mich auf sehr dünnem Eis bewege. Ich versuche, mich zu retten.
„Ach so, du meinst, ob ich gegenwärtig etwas schreibe. Nun ja, das ist tatsächlich der Fall. Aber es ist –“ noch nicht fertig, wollte ich sagen, aber sie ist schon auf dem Weg in mein Zimmer. Das gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Ich stürze ans Telefon.
„Was, Sie wollen meine Freundin sprechen?“, frage ich übertrieben laut. „Einen Moment bitte.“
Ich lege den Hörer neben den Apparat und rufe sie. Und werde ignoriert. Und sie nähert sich unaufhaltsam meinem Zimmer. Und meinem Werk. Und.
Mit übermenschlicher Anstrengung gelingt mir ein Hechtsprung und ich umklammere ihr linkes Bein mit beiden Händen. Das hindert sie jedoch nicht im Geringsten daran, ihr Vorhaben auszuführen. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu. Wenn Sie ihren Blick kennen würden, würden Sie verstehen, dass ich sofort loslasse und verlegen lache. Eine Sekunde zu spät fällt mir auf, dass sie mich wieder überlistet hat, und ich versuche verzweifelt, noch mal ihr Bein zu packen. Ein Erfolg ist mir bei diesem Unterfangen nicht vergönnt. Als Frau sollte sie eigentlich sowieso wissen, dass sie nicht in das Zimmer eines Mannes gehen darf, bevor er es ihr nicht erlaubt hat. Das kommt davon, wenn man(n) einmal zu nachlässig ist: Deine Freundin tanzt dir auf der Nase rum und du kannst nichts dagegen tun.
Sie betritt mein Zimmer und schreitet auf meinen Schreibtisch zu. Ich rappele mich auf und renne um die Ecke, um einen zweiten Hechtsprung zu vollführen. Ich wollte mir das Blatt schnappen, um es in der Luft zu zerreißen. Alles ist besser, als mich vor meiner Freundin zu blamieren, weil ich nichts zu Papier bringen kann. Der erste Teil meines Planes klappt hervorragend. Ich mache einen gewaltigen Sprung. Dabei stoße ich ein Zeitlupen-„Neeeeeeiiiiinnn!“ aus. Leider segele ich über meinen Schreibtisch hinweg und lande unsanft auf dem Boden, von wo aus ich hilflos mit ansehen muss, wie sie sich die erste Seite anschaut. Ich will vor Scham in den Boden versinken (dem angewiderten Leser sei versichert, dass dies die letzte abgedroschene Phrase war). Im wahrsten Sinne des Wortes warte ich am Boden zerstört auf ihr vernichtendes Urteil.
„Gut. Besticht durch Knappheit. Der Titel hört sich vielversprechend an. Der Name ist vielleicht eine Idee zu großspurig dargestellt. Aber die Widmung, dieses Gedicht über mich, gefällt mir am besten.“
Ich atme erleichtert auf. Ich wusste doch von Anfang an, dass meine Freundin Geschmack hat. Diese Frau kann noch Kultur erkennen, wenn man sie ihr vorsetzt. Doch schon ihr nächstes Wort macht alles zunichte:
„Süß.“
Aaargh! Entschuldigen Sie. Aber Sie können von mir als Mann nicht erwarten, etwas zu schreiben, für das ich die Bezeichnung „süß“ erhalten möchte.
„Also bitte.“
„Also bitte ... was?“
„Schreib weiter.“
„Jetzt?“
„Jetzt.“
„Äh, das dürfte etwas schwierig werden.“
„Wieso?“
Ich habe einige Probleme, ihr dieses alte Männerleiden zu beichten:
„Ich kann nicht, wenn mir jemand zusieht“, stottere ich schließlich äußerst peinlich berührt.
Ihr Gesichtsausdruck verheißt für mich nichts Gutes.
„Das müssen wir ändern. Du musst dich dafür doch nicht schämen. Das ist doch nur natürlich. Jeder macht es. Du wirst sehen, zu zweit macht es viel mehr Spaß. Richtig geil wird es aber erst ab drei oder mehr ...“, doziert meine Freundin, während ein freudig-wissender Ausdruck von ihrem Gesicht Besitz ergreift.
„Äh ...“
„Ja?“
„... Wir reden aber schon noch vom Schreiben, oder?“
„Was ... äh ... ja ... haha ... genau, vom Schreiben ... lenk jetzt nicht ab, lies lieber, was du schon geschrieben hast!“
Ich lese mir also noch mal alles Bisherige durch. Ja, man kann sagen, ich bin zufrieden.
Jetzt brauche ich nur noch einen ersten Satz. Auf ihn kommt es an. Hat man ihn, schreibt sich das Buch von selbst. Ja, der erste Satz. Gar nicht so leicht. Er muss knapp und präzise formuliert werden, sollte aber gleichzeitig wichtige Informationen beinhalten und Lust auf mehr machen. Ganz schön schwer so ein erster Satz. Vielleicht sollte ich mit dem zweiten anfangen. Ja, das ist viel besser. Ich rutsche also mit dem Stift in die zweite Zeile, als meine Hand unmissverständlich von ihrer in die erste zurückgeschoben wird; sie schüttelt den Kopf. Verdammt. Aber was kann ich als fortschrittlich denkender Mann, als Feminist, um genau zu sein, gegen den Willen meiner Freundin tun? Sie haben es erraten. Nichts.
Notgedrungen verharrt der Stift in der ersten Zeile. Mir bricht der Schweiß aus. Angstschweiß. Das Papier verschwimmt vor meinen Augen. Es geht einfach nicht. Wenn mir jemand zusieht, kann ich nicht. Mit einem kurzen Rütteln an meiner Schulter holt sie mich in die Realität zurück.
„Fang an“, fordert mich ihr kein Widerspruch zulassender Blick auf. Also fange ich an.
Aber trotzdem stellt sich kein erster Satz ein. Es gibt schon einige Kandidaten für die Stelle, aber keiner ist perfekt. Im perfekten Buch möchte ich nur perfekte Sätze sehen (wenn Sie versprechen, es nicht weiterzuerzählen, sage ich Ihnen, dass ich mit den Sätzen durchaus zufrieden bin, aber für gewisse Pedantinnen ist selbst das Beste schlecht genug, um es nicht zu nehmen). Nach dem hundertsten (na gut, Sie haben mich erwischt: es waren gar nicht hundert, sondern nur zweiundachtzig) abgelehnten ersten Satz einigen wir uns darauf, uns erst mal ein Grundgerüst einer Handlung auszudenken. Genaugenommen versuchen wir, uns erst mal auf ein Genre festzulegen.
Irgendwann ist auch die Geduld meiner Freundin erschöpft, und sie verlässt mich (zum Glück nur im geographischen Sinne des Wortes).
Um Inspiration zu finden, blättere ich die Werke der großen Meister noch mal durch. Bei ihnen sieht es so leicht aus. Die einzelnen Buchstaben bilden Worte, die sich zu Sätzen zusammenfügen lassen, die eine Geschichte ergeben.
Ich muss eingestehen, dass es wirklich einigermaßen schwierig ist, ein Buch zu schreiben. Doch davon lasse ich mich nicht einschüchtern. Ich nicht! Wenn dies ein Film wäre, könnten Sie nun sehen, wie die Sonne unter- und der Mond aufgeht und wie sich dann der reziproke Prozess vollzieht. Und ich sitze die ganze Zeit in unveränderter Haltung vor dem fast leeren Blatt. Es ist aber kein Film ... Als das Sonnenlicht wieder auf das Papier fällt, bemerke ich, was mich die ganze Zeit über am Schreiben hindert: Überall liegen Radiergummifussel herum. Die müssen natürlich erst einmal weggeblasen werden. So.
Ich sollte meinen Bleistift spitzen. Gesagt, getan. Nur sehen die anderen Stifte jetzt erbärmlich stumpf aus. Da muss ich natürlich Abhilfe schaffen. Nachdem sich im ganzen Haus kein Bleistift zum Spitzen mehr finden lässt, setze ich mich an meinen Schreibtisch, froh, endlich mit meinem Werk anfangen zu können. Natürlich nicht, ohne zuvor in der Nachbarschaft nachgefragt zu haben, ob es stumpfe Bleistifte zu spitzen gibt.
Eine Idee. Mehr fordere ich ja gar nicht. Wenn ich nicht ständig unterbrochen würde, wäre ich schon längst fertig. Soll ich mich in meinem Buch mit dem Helden identifizieren, ihn Dinge aus meinem Leben erleben lassen, natürlich ausgebaut? Nein, das würde ja niemanden interessieren; außerdem passiert in meinem Leben nichts, das es verdient, auf Papier festgehalten zu werden. Die Handlungen und Erlebnisse meines Helden müssen rein fiktionaler Natur sein. Schwierig. Vielleicht sollte ich aus meinem Helden eine Heldin machen. Jetzt, im Zeitalter der Emanzipation, ziehen weibliche Protagonisten ungemein. Ich würde die Hauptrolle dann zwar nur einer Frau übergeben, weil das den Umsatz steigern würde, aber wenn es dem Verkauf meines Werkes dient, stelle ich meine persönlichen Wünsche und Vorlieben gerne in den Hintergrund. Womit ich nicht sagen will, dass ich Bücher, in denen der Held weiblichen Geschlechts ist, nicht mag. Im Gegenteil, es gibt einige sehr gute Geschichten mit Frauen in der Hauptrolle. Zum Beispiel fällt mir jetzt keine ein.
Dieses Buch macht mich wahnsinnig. Ich habe jetzt seit 27 Stunden nicht geschlafen, seit 22 Stunden nichts gegessen und seit Hunderttausendmillionen Jahren nichts mehr geschrieben. So kommt es mir wenigstens vor. Gerade habe ich einen genialen Einfall, ja, das ist es, der erste Satz stellt sich ein, die Handlung liegt zum Greifen nahe – als die Natur ihr Recht verlangt. Jetzt muss ich blitzschnell entscheiden, was mir wichtiger ist: Das Buch zu schreiben oder zu verhindern, dass ich von einem Passanten, der zufällig in mein Zimmer im dritten Stock schaut, in einer Situation gesehen werden, in der ich mich zuletzt mit vier Jahren befunden habe. Natürlich entscheide ich mich für mein Buch, aber die Natur, die sich anfangs mit Rufen begnügt hat, fängt jetzt an, in ein ohrenbetäubendes Gebrüll auszubrechen, sodass ich alles wieder vergesse. Zum Glück befindet sich eines unserer Badezimmer meinem Zimmer genau gegenüber.
Als ich am Waschbecken stehe, um meine Hände zu waschen, schaue ich in den Spiegel und fahre entsetzt zurück. Wenn das, was ich dort sehe der Wahrheit entspricht, muss ich über Nacht unglaublich gealtert sein. Das Wesen, das der Spiegel mir zeigt, hat die 25 bestimmt schon überschritten. Niemand würde mir glauben, dass ich knackige 18 bin. Mein ehemals dunkelbraunes, schon fast ins Schwarze gehende Haar ist durchzogen von grauen Strähnen. Neben Augenringen, die mir bis übers Jochbein reichen, zieren einige Falten mein Gesicht. Einige viele, um genau zu sein. Einige sehr viele, um noch genauer zu sein. Einige ... ok, es reicht. Verzweifelt schleppe ich mich zu meinem Schreibtisch. Jetzt ist mir klar geworden, wie kurz das Leben ist. Wenn ich jemals dieses Buch fertig stellen möchte, muss ich es jetzt tun. Wenn ich wirklich schon über 25 bin, habe ich nicht mehr lange zu leben. Wann muss man in Rente? Mit 30? So alt will ich gar nicht werden. Trau keinem über 30 ... Aber wenn ich nun wirklich sterben sollte ... wer wird dann mein Werk vollenden? Es gibt keinen Nachkommen, und somit niemanden, der im Falle meines Todes mein Buch für mich zu Ende schreibt. Das ist vielleicht auch besser so. Ich habe ihn ja schon 18 Jahre versorgt und dabei ein Vermögen ausgegeben, und jetzt will er sich auch noch meinen Literaturnobelpreis unter den Nagel reißen. Das ist die Jugend von heute. Sitzt den Eltern ewig auf der Tasche und gönnt seinem Vater in seiner Habgier nicht mal ein kleines bisschen Ruhm. Damit mein Sohn oder meine Tochter nicht auf die schiefe Bahn gerät, indem er oder sie seinen oder ihren eigenen Vater oder Mutter ... bestiehlt, muss ich das Buch noch zu Lebzeiten beenden und veröffentlichen. Nun ja, das sagt sich so leicht, aber es ändert nichts daran, dass sich auf dem Blatt erst der Titel, mein Name und eine Widmung befinden. Um wenigstens irgendetwas zu schreiben, fange ich an „Mein letzter Wille“ zu verfassen. Vielleicht wird es ja ein Bestseller.
Da ich nicht weiter weiß, tue ich das Naheliegendste: Ich hole ein paar Filme, von denen meine Freundin nicht wissen darf, dass ich sie besitze (ich setze auf Ihre kooperative Verschwiegenheit) aus dem eigens dafür angelegten Versteck hervor. Nach etwas über zwei Stunden muss ich aufhören, weil ich nicht mehr kann.
Als Bambis Mutter erschossen wurde, konnte ich mich noch einigermaßen zusammenreißen und das Schluchzen unterdrücken, aber als Mufasa in „Der König der Löwen“ von seinem eigenen Bruder Scar umgebracht wird, kann ich mich nicht zurückhalten und die Tränen brechen aus mir heraus wie die Sintflut.
Einmal mehr bin ich dafür dankbar, dass meine Freundin nicht weiß, dass ich diese Filme habe und mich jetzt nicht sehen kann. Schweren Herzens verzichte ich darauf, „Pocahontas“ anzusehen, ich bin nach diesen zwei Morden einfach zu emotional und könnte der interessanten Handlung nicht folgen.
Ich sage Ihnen, niemand schätzt ein gutes Buch mehr als ich. Abgesehen mal von meiner Freundin ... meiner Familie ... mehreren meiner Bekannten ... Eigentlich mögen die meisten Leute ein gutes Buch mehr als ich, aber das ist jetzt nicht so wichtig.
Ich ermahne mich, nur noch die besten der besten Sätze ins perfekte Buch aufzunehmen. Unter dieser Einschränkung ist es natürlich klar, dass sich die Niederschrift eher schleppend hinzieht. Deshalb halte ich mich auch gar nicht damit auf, obwohl ich eigentlich jetzt endlich dieses Buch schreiben sollte. Vielleicht sollte ich erst mal ein Buch lesen. Die TV-Zeitschrift wird’s auch tun. Ich setze mich also aufs Sofa und schalte den Kasten an. Während ich so durch die Kanäle zappe, ärgere ich mich darüber, wie viel Mist in der heutigen Zeit ausgestrahlt wird. Man könnte seine Freizeit so viel sinnvoller gestalten. Sich mit Freunden treffen, die man lange nicht gesehen hat. Ins Kino gehen. Radio hören. Oder meinetwegen auch mal ein paar Stunden zappen. Alles ist besser, als den ganzen Tag vor der Glotze zu hängen. Stattdessen könnte man sich weiterbilden. Die zwischenmenschlichen Beziehungen fördern. Einfach mal ins Blaue fahren und die Natur betrachten, anstatt andauernd die Mattscheibe anzuglotzen und quadratische Augen zu bekommen. Man könnte auch ein Buch lesen. Oder einmal selbst eins schreiben. Was mir bewusst macht, dass ich mich von dem Götzen Fernseher habe ablenken lassen. Ich könnte jetzt mit meinem Buch fertig sein. Der Nobelpreis war zum Greifen nahe. Aber ich gab mich ja lieber diesem Abgott hin.
Aus Protest gegen das Fernsehen und um ein Zeichen zu setzen, zwinge ich mich mit unglaublicher, fast übermenschlicher Selbstüberwindung dazu, dem Programm noch drei Stunden zu folgen, bevor ich entschieden und mit Nachdruck auf die Fernbedienung drücke, um den Kanal zu wechseln.
Als meine Freundin eine Woche später von ihrer Studienfahrt zurückkommt, findet sie mich vor dem noch laufenden Fernseher. Meine toten Augen verfolgen das Flimmern auf dem Bildschirm.