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Das Mädchen und der Stein
Das Mädchen und der Stein
Es war einmal eine Klasse von Bildhauerschülerinnen, die von ihrem Lehrer eine Aufgabe gestellt bekamen: Sie sollten jede für sich ein Modell auf den Gipfel des Berges tragen, der am Ende der Stadt lag. Oben angekommen, würde der Lehrer auf sie warten, sie dort eine Figur nach dem Modell aus einem Stein hauen lassen und dann diese Figur bewerten.
Die Schülerinnen klagten, schimpften und zeterten, schließlich aber taten sie, was der Lehrer ihnen aufgetragen hatte.
Eine der Schülerinnen, Diana, war bisher dadurch aufgefallen, daß sie an einer einzigen Statue gearbeitet hatte. Nie kam ihr die Idee, sich an mehreren Steinen zu üben, immer hatte sie Angst, die Figur zu zerstören. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, die schönste, die perfekteste Statue aller Zeiten zu meißeln, deshalb ließ sie den Stein unbearbeitet, denn schließlich liefe sie ja sonst Gefahr, den Stein unwiderruflich zu vergeuden. Zwar fragten sich alle anderen, was denn dieser merkwürdige Stein für eine Bedeutung habe, aber keiner erriet Dianas Vorstellung dessen, was für eine herrliche Figur in dem Stein steckte.
So packten sich die Schülerinnen ihre Modelle auf den Rücken und begannen die Reise. Auch Diana lud sich ihren Stein auf, aber schon bald merkte sie, daß sie unter der Last des Steines zurückblieb. Natürlich hatten auch die Mitschülerinnen schwer zu tragen, jedoch war ihre Last aus Fleisch, Knochen und Blut, Dianas hingegen war schwerer Stein, schwerer als Fleisch, Knochen und Blut je hätten sein können. Sie aber schleppte sich, ächzend, gebückt, aber den Gipfel nie aus dem Auge verlierend nach oben. Hinter ihr flossen Ströme von Schweiß den Berg hinab, und die Senner, die in der Hitze des Tages schon ohne Stein auf dem Rücken schwer schwitzten, fragten sich, woher dieses zierliche Ding die Kraft nahm, diesen kleinen Berg auf dem Rücken den Gipfel des großen Berges unter ihren Füßen hinaufzuschleppen. Manche von ihnen fragten Diana, ob sie vielleicht den Stein absetzen wolle, bekamen aber nur als Antwort, dieser Stein sei die zukünftig perfekteste Statue aller Zeiten, und niemals würde sie sich mit einem schlechteren, kleineren Stein zufrieden geben. Diejenigen Senner, die von der Aufgabe an die Schülerinnen wußten, fragten Diana, wieso sie denn nicht einen der schönen Jünglinge aus dem Dorf auf den Berg tragen wolle, um ihn als Modell zu benutzen. Diana aber antwortete nur, daß sie den schönsten Jüngling bereits auf dem Rücken trüge, er stecke im Stein und warte nur darauf, von ihr befreit zu werden. Kopfschüttelnd ließen die Bauern Diana ziehen.
Es ging immer weiter rauf, der Weg wurde immer steiler. Längst hatte Diana die letzte ihrer Mitschülerinnen aus dem Blick verloren, das Tragen des Steines war einfach zu anstrengend. Sie sah die Nadelbäume um sich herum nicht mehr, sie hörte keine Vögel, sie roch den Duft der Wiesen nicht. Diana arbeitete sich Meter um Meter vorwärts, ihre Aufmerksamkeit auf ein Minimum reduziert, gerade mal so viel, wie es brauchte, um Schutt und Schlagloch auszuweichen. Die Schwere des Steines auf ihrem Rücken wurde zu der ihren, und sie fühlte sich selbst wie ein wandelnder Stein, der einen Stein auf dem Rücken trug. Und bald spürte sie auch das nicht mehr, sondern nur noch große Schwere, so, als wisse sie nicht mehr, ob sie der Stein oder sie selbst sei.
An einem bestimmten Wegpunkt wurde die Schwere so groß, daß Wille und Körper versagten, und Diana fiel hin. Mit allerletzter Kraft stemmte sie sich gegen den wegrollenden Stein und verhinderte sein Wegrollen, dann fiel sie in tiefen Schlaf, den Kopf auf ihrer zukünftigen Statue. Sie schlief fest und träumte, daß sich der Stein unter ihrem Kopf in einen schönen jungen Mann verwandelte, der sie in seinen Armen liegend streichelte.
Als sie aufwachte, fand sie sich tatsächlich in den Armen eines jungen schönen Mannes wieder, jedoch sah dieser anders aus, als der Jüngling in ihrem Traum. Sie schreckte auf und fragte: "Wer bist du?". Und gleich danach schoß ihr der nächste Gedanke durch den Kopf, den sie gleich aussprach : "Wo ist mein Stein?" Sie suchte und fand ihn auch gleich, und auch, wenn es nur eine Sekunde gedauert hatte, bis sie ihn gefunden hatte, stürzte sie sich auf ihn und streichelte ihn in ihren Armen, so, als habe sie ein verlorenes Kind wiedergefunden. Der Jüngling fragte unschuldig, was es mit dem Stein auf sich gehabt hatte. Diana erzählte ihm knapp ihr Vorhaben und rechnete damit, von dem Fremden ausgelacht zu werden, so wie es alle taten, die von dem Stein erfuhren. Zu ihrem großen Erstaunen aber zeigte der andere großes Interesse an Dianas Schilderung, ja, er fragte sogar, wie die Statue wohl aussehen werde und weitere Dinge, so, als hielte er die Statue für lebendig. Diana antwortete bereitwillig und sie bemerkte, daß es ihr gefiel, wie sie jemand offensichtlich ernstnahm. So saßen beide zusammen und plauderten angeregt über eine fiktive Statue in einem echten Stein, und alle, die vorbeikamen, fragten sich, worüber sich dieses komische Paar wohl unterhielt, aber niemand bekam es heraus, wie aufmerksam er auch zuhörte.
Die Stunden vergingen und Diana hatte bemerkt, wie sehr ihr auf dem Weg das Sehen, Hören und Riechen ihrer Umgebung entgangen war, den nun sah, hörte und roch sie wieder und sie dankte dem Fremdling dafür, daß er ihr, so ganz anders als die anderen, so viel Freude bereitet hatte. Er teilte mit ihr seinen Proviant und fragte sie, ob sie denn nicht müde sei und bei ihm bis zum nächsten Tag schlafen wolle, denn es war noch ein weiter Weg. Aber da kehrte Ernsthaftigkeit in Dianas Blick zurück. Sie dankte dem anderen und zwang sich, den Stein auf ihren Rücken zu laden. Sie war nun wieder frisch und fühlte sich für ihre Aufgabe kräftig und ausgeruht. Sie habe keine Zeit zu vergeuden, sagte sie, sie wolle hoch hinaus und habe keine Zeit für Träumereien - und auch nicht für Träumer. Und so ließ sie den jungen hübschen Kerl stehen. Er jedoch zwang sie nicht, auch schimpfte er nicht, noch versuchte er, Mitleid zu erheischen. Er verabschiedete sich anständig von ihr und sagte zum Abschluß: "Ich zwinge die Frauen nicht. Meine Bitte ist eindeutig: bleibe, wenn es Dir gefällt, aber wenn es Dir gefällt, zu gehen, muß es auch mir gefallen, denn meine Liebe ist echt. Und das ist sie nur, wenn sie aus freien Stücken gegeben wird. So sehen wir uns wieder.". Diana aber sagte grinsend: "Edel ist Deine Rede, aber lieben kann ich nur meine Statue - niemand ist so schön wie sie. Auch Du nicht." Sie verabschiedeten sich beide voneinander, und Janus, so war sein Name, weinte, als er Diana hinterhersah.
Der Trott begann von Neuem, und zur körperlichen Anstrengung kam bei Diana jetzt noch die Angst dazu, denn sie bemerkte die Nacht, die sie in ihrem Trott so lange nicht mehr bemerkt hatte. So sehr sie bei Tag ihre Umgebung vergessen hatte, so deutlich nahm sie diese jetzt in der Nacht wahr. So sehr ihr Gehör, ihre Augen und ihre Nase am Tage eingeschlafen waren, so wach waren sie nun. Sie glaubte, Gestalten zu sehen, Tiere keischen zu hören und unsichtbare Hände an ihr zu spüren. Sie bekam Angst, auch vor ihrem Stein, den sie jetzt sprechen zu glauben hörte. Sie zweifelte an ihrem Ziel, an ihrer Aufgabe, an ihrem Stein, an allem, sie wollte nur noch weg.
Da ließ sie den Stein fallen und rannte zurück, aber sie kam nicht weit. Die Hysterie, der sie in vollem Lauf verfallen war, war der einzige Weg, die angestauten Ängste auszuleben. Ein Ventil, ein Kanal, ein Topf, und die Angst wie die Luft, das Wasser, der Dampf aus dem geöffneten Topfdeckel. Aber plötzlich stieß sie an einen Widerstand, sie war gegen etwas gelaufen. Dieses Etwas schien ein Wesen zu sein, ein Lebewesen, kein Baum, sondern etwas wie ein Tier, etwas wie ein Monster, so schien ihr. Das Ventil war verstopft, der Kanal gestaut, der Deckel auf dem Topf. Und Diana fühlte sich wie eine Feder in einem Reifen, eine Ertrinkende in einem Staudamm, wie die kochende Suppe in einem geschlossenen Topf. Sie schrie. Aber das Etwas hielt sie fest. Es sprach mit ihr, und da erkannte sie die Stimme: "Beruhige Dich, Diana, beruhige Dich, ich bin es, Janus. Ich bin Dir gefolgt, weil ich wußte, daß die Nacht kommt und Du jemand brauchen wirst, der Dir beisteht.". Da brach Diana erschöpft und erleichtert gleichzeitig, in Janus´ Armen.
Lange schlief sie in seiner Umarmung, und er wich nicht von ihrer Seite. Stundenlang sah er sie an und streichelte sie, während sie schlief. Er hatte sie nicht einen ganzen Tag vorher kennengelernt, und schon bewegten sich seine Finger über ihr Gesicht, ihren Nacken, durch ihr Haar, als hätten sie es tausend mal getan. Es schien, als modellierte er ihr Gesicht neu aus Lehm, als massiere er einer Kaiserin ein kostbares Öl in Haut, als wären seine Berührungen Gebete und ihr Gesicht ein Tempel. So streichelte er sie, viele Stunden lang, und der Morgen kam und verging. Gegen Mittag wachte sie auf und sah in sein Gesicht. Es gefiel ihr, und schnell erinnerte sie sich daran, was geschehen war. Aber ruhig sah sie ihm in seine Augen, erwiderte seinen Blick, fiel in seine Iris, während der seine in die ihre fiel. Er küßte sie. Dann standen sie auf und gingen zu seinem Haus, das nicht weit entfernt lag. Dort wusch sie sich und sie aßen zusammen. Sie redeten nicht viel, aber oft trafen sich ihre Blicke, und jeder war eine Versuchung, der sie stattgaben. Sie liebten sich, immer wieder. Diana und Janus waren glücklich. Die Nacht kam und sie schliefen zusammen ein.
In der Dunkelheit wachte Diana aus einem Alptraum auf. Sie war auf einem langen Weg gewesen und ihre Statue verloren. Sie hörte sie rufen. Als das Rufen immer stärker geworden war, schreckte sie hoch. Janus lag schlafend neben ihr. Sie sah ihn an, er gefiel ihr wie ein Heiliger. Aber ihre Statue war ein Gott, unbeschreiblich, nicht vergleichbar mit diesem Einsiedler in seiner Hütte auf dem Berg. Er war nett und das Gefühl, mit ihm zu sein, war unbeschreiblich, aber ihre Statue war das Schönste, was es gab auf dieser Welt. Sie weinte, denn er tat ihr leid - nie hatte er ihr etwas Böses getan, er hatte sie nie gezwungen, und er würde sie auch jetzt nicht zwingen, aber das war nicht der Grund, wieso sie sich heimlich davonschlich. Sie wußte, er würde sehr enttäuscht von ihr sein, es würde ihm das Herz brechen, und das wollte sie nicht sehen. Sie küßte ihn noch einmal auf den Mund und ging, sobald der Morgen graute. Umdrehen wollte sie sich nicht, denn auch sie konnte es nicht ertragen, der Wahrheit ihres Handelns ins Gesicht zu sehen, zu sehen, was sie zurückließ: diese armselige Hütte mir diesem armseligen und doch lieben Kerl da drin. Tränen liefen über ihr steinernes Gesicht, als sie sich Schritt für Schritt von ihrem Glück entfernte.
Bald schon, nach einer kurzen Weile, fand sie nahe des Weges ihren Stein. Er war an einer dicken Baumwurzel hängengeblieben. Sie stürzte sich gierig auf ihn, umarmte ihn, schrie vor Freude, lachte irr und riß ihn an sich, so, als hätte des Baumes Wurzel versucht, ihr den Schatz zu nehmen. Schnell lud sie ihn sich auf und ging den Weg weiter. Schon nach kurzer Zeit, als Janus in seiner Hütte aufwachte und voller Enttäuschung feststellte, daß Diana ein weiteres Mal weggelaufen war, als er zusammenbrach, weinend, fassungslos - da befand sich Diana schon wieder in ihrem Trott. Allerdings machte es ihr weniger Mühe, den Stein zu tragen, war sie seine Last doch gewohnt. Sie lief weiter, immer weiter, und etwas war anders als am Anfang: sie begann, ihre Sinne zu benutzen. Was um sie herum geschah, war ihr nicht weiter verborgen; sie sah, hörte roch ihre Umgebung, da ihr ihre Last nicht mehr so schwer war. Es schien, als habe sie sich an dieses Gewicht auf diesem steilen Weg gewöhnt. So manches Tier sah sie, wie sie sich mit diesem Stein auf dem Rücken den Weg emporkämpfte - denn auch, wenn es ihr leichter fiel als am Anfang, so mußte sie doch immer noch härter arbeiten als alle anderen, die den Weg gingen - wie sie, an ihre Last gebunden, Schritt für Schritt den Gipfel zu erklimmen versuchte, Steinen ausweichend, Schmerzen leidend. Für die Tiere war sie nichts Besonderes, nur ein weiterer Mensch. Die Menschen aber, die am Weg wohnten, wunderten sich, daß jemand so etwas Verrücktes machen konnte. Sie luden sie ein, sich auszuruhen, aber selten nur, im äußersten Notfall nahm Diana das Angebot an, lediglich, um zu essen und zu schlafen. Und dann ließ sie nicht ihren Stein aus den Augen. Beim Essen saß sie, in der Nacht schlief sie auf ihm.
Viele ihrer früheren Mitschülerinnen traf sie auf diese Weise. Längst hatten sie sich in ihre Modelle verliebt und lebten am Rande des Weges ein einfaches und glückliches Leben. Diana aber lachte innerlich über sie, verachtete ihre Torheit, sich dem ersten Besten hingegeben zu haben und fühlte sich nur weiter bestätigt, ihren Weg zu gehen. Nie erlag sie der Versuchung, ein Leben mit einem der vielen Dummköpfe und Prahlhänse am Wegesrand zu beginnen. Lächerlich fand sie es, wie sich einer nach dem anderen vor ihr aufplusterte, mit Federn schmückte. Es kam ihr vor wie in einer Satire - kaum erschien sie auf der Bildfläche, tanzten die Männer um sie herum, obwohl kein einziger wirkliches Interesse an ihr hatte. Niemand interessierte sich für die Statue, und wenn doch, dann versuchten die wenigen, die es taten, ihr den Weg zum Gipfel auszureden, gaben ihr Ratschläge, wie sie ihr Leben leben sollte (nämlich an ihrer Seite), versuchten ihr klarzumachen, wie gut es ihr doch mit ihnen ginge. Nur manchmal dachte sie an Janus. Er war anders gewesen. Nie hatte er geprahlt, nie hatte er sie gezwungen. Er war einfach da und sagte offen, was er wünschte, nahm, wenn er bekam, gab, wenn genommen wurde. Liebe war für ihn einfach da oder nicht - war sie es nicht, hielt er sich fern. Er hatte das Geheimnis erkannt: Liebe war wie ein bunter Schmetterling, der, selten und kostbar, starb, wenn man ihn einzufangen versuchte. Und nie hatte er sie wegen ihres Steines ausgelacht. So verbrachte sie manche Nacht alleine in Sehnsucht, allerdings, ohne sich dies einzugestehen, denn es wäre Verrat an ihrer Statue gewesen.
Lange Zeit verging, und Diana lebte dieses Leben als Reisende mit einem großen, fernen Ziel, Janus lebte das seine auf der Suche nach Diana, immer in ihrer Nähe, aber nie sich ihr offenbarend. Er war einfach bei ihr und hoffte darauf, daß sie ihn eines Tages sähe, aber Jasmin sah nur den Weg.
Eines Tages stand Diana vor der letzten Biegung. Sie konnte es kaum fassen, daß sie es nun geschafft hatte. Ein wenig schneller als sonst (zu einem richtigen Endspurt reichte es nicht mehr) ging sie weiter. Da stand sie nun, den Gipfel unter ihren Füßen, den Stein absetzend, glücklich. Sie schaute sich um, aber niemand war da. Vor vielen Jahren hatte ihr Meister einmal gewartet, hier. Aber jetzt war da nur die Luft und der Berg. Wer hätte auch warten sollen? Diana konnte sich kaum an des Meisters Gesicht erinnern, kaum noch an den Tag, an dem die Aufgabe gestellt worden war. Lediglich an die Aufgabe konnte sie sich noch erinnern. Aber war es des Meisters Aufgabe gewesen? Die Aufgabe war gewesen, ein Modell auf dem Rücken hier heraufzutragen, und was hatte Diana daraus gemacht? Eine Pilgerfahrt ins Nichts, in ein untergegangenes Jerusalem!
Sie schaute den Berg herab. Vor ihr lag das ganze Land, Kilometer um Kilometer. Jetzt sah sie, wie weit sie gegangen war, und das mit diesem Stein auf dem Rücken! Es mußte sich doch irgendwie gelohnt haben! Sie konnte doch nicht so enttäuscht werden, wo sie doch das geschafft hatte, was ihr niemand zugetraut hatte! Verzweifelt sah sie sich um. Da, unter dem Gipfelkreuz hatte sie eine alte, verblichene Tasche übersehen. Sie öffnete sie und fand darin einen Brief, an sie adressiert:
" Liebe Diana,
wenn Du das liest, hast Du geschafft, was außer Dir keiner geschafft haben kann. Nur wenige meiner Schülerinnen führen die Aufgabe so aus, wie Du es getan hast. Jede verliebt sich in ihr Modell, um ein einfaches Leben am Rande des Weges zu führen. Ganz selten kommt es aber vor, daß eine von ihnen sich zu Höherem berufen fühlt. Diese wenigen machen von Anfang an alles anders, so wie Du: Du hast den Stein nach oben getragen, nicht das Modell, weil Du gefühlt hast, daß Du die Kraft hast, etwas Besonderes aus diesem Stein zu hauen. Nun ist es soweit: erschaffe Deinen Auserwählten, hauche ihm Leben ein, so, wie es nur Götter tun. Bearbeite den Stein so, wie Du es wünschst, nimm dann Salz dazu und reibe es am nächsten Morgen in den Stein.
Meister Tao."
Salz! Woher sollte Diana Salz nehmen, hier, auf dem Gipfel des Berges? Sie hätte vor Freude lachen und vor Enttäuschung weinen können, gleichzeitig. Einerseits war sie am Ziel, obwohl niemand an sie geglaubt hatte, außer Janus vielleicht. Andererseits konnte sie ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie Salz benutzte, und Salz gab es hier nicht, nur unten im Tal. Selbst ohne Statue hätte sie viel zu lange gebraucht, um den Weg runter und wieder rauf zu gehen, und dann hätte sie ihren geliebten Stein hier lassen müssen, alleine! Nein, so sehr sie auch innerlich kämpfte, sie konnte es nicht. Es war aus, ihre Aufgabe gescheitert, und sie mußte sich damit abfinden, versagt zu haben. Sie setzte sich hin und starrte leer auf den Horizont, leer wie die Luft über dem weiten Land vor ihr.
Da hörte sie Schritte in ihrem Rücken. Sie drehte sich um. Es war - Janus. Er, der immer da gewesen war, wenn es nicht weiterging, wenn sie jemanden gebraucht hatte, hier war er wieder. Er nahm sie in den Arm, aber sie reagierte nicht. Da schaute er in ihre Augen und begriff. Auch er hatte versagt. Sie wollte diesen Stein, nicht ihn. In seiner Brust erstarrte sein Herz zu Stein. Und wie durch Zauberhand erschien in seiner Hand ein Herz aus Salz. Er hielt es ihr hin. Als Diana das sah, kam Leben in ihre Augen. "Woher wußtest Du das?". Aber er antwortete nicht. Er hielt ihr nur das Salz hin. Sie umarmte ihn, nahm das Salz und begann voller Glück, den Stein zu bearbeiten, während Janus mit steinernem Herzen zuschaute. Vor seinen Augen begann sie nun, zu vollenden, was sie vor Jahren begonnen hatte. Es wurde dunkel. Je weiter Diana mit ihrer Statue kam, desto ruhiger wurde Janus. Er setzte sich hin, konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Alles wurde schwer in ihm. Magen, Beine, Arme, alles wurde zu Stein. Zuletzt war das einzige, was noch lebte, seine Augen. Mit ihnen sah er, wie Diana ihr Werk vollendete. Dann erstarrte er völlig. Diana sank völlig erschöpft neben ihrer Statue zu Boden.
Am nächsten Tag erwachte sie früh und versuchte aufzustehen. Sie erinnerte sich - der Gipfel, die Enttäuschung, dann die Erlösung durch Janus Salzklumpen, und zuletzt der Rausch der Arbeit. Wo war ihre Statue? Sie erblickte sie schnell, und schön war sie geworden, so schön, nein, schöner, als sie es sich je vorgestellt hatte. Jetzt brauchte sie nur noch das Salz. Da fiel ihr Janus ein. Sie schaute sich um, und da erschrak sie. Hinter ihr saß Janus, auf sie starrend, zu Stein erstarrt. Jetzt verstand sie. Er, der er immer dagewesen war, wenn sie alleine nicht mehr weitergekonnt hatte, er, der nie an sich selbst gedacht hatte, der all ihren Hochmut schweigend ertragen hatte, der bis zuletzt an sie geglaubt und ihr geholfen hatte, er war nun selbst eine Statue, so, als könne es keinen lebendigen Mann in ihrem Herzen geben. Entweder trug sie einen Stein auf dem Rücken und somit in ihrem Herzen oder sie verwandelte Männer zu Stein. Und so hatte sie immer das, was sie nicht wollte. Es gab kein Leben ohne Stein in ihrem Leben. Sie konnte ihn doch nicht so hier zurücklassen! Sie wollte es nicht. Sie war unglücklich, wie sie es nie zuvor gewesen war. Wie dachte sie jetzt an jenen Tag zurück, als sie bei ihm in der Hütte geschlafen hatte, warm, geborgen, und dennoch war sie gegangen. Oh, könnte sie doch noch einmal diesen Tag erleben, sie würde für immer bleiben! Aber es war zu spät, alles war aus, alles umsonst. Er war die fleischgewordene Statue gewesen, die sie sich immer gewünscht hatte, er war es, immer in ihrer Nähe, doch war sie blind gewesen. Sie sank zusammen, umarmte ihn, küßte ihn, so, als wäre er noch lebendig, sagte, flüsterte seinen Namen, weinte und war unglücklich.
Sie weinte unaufhörlich, und dabei geschah es, daß ihre Tränen auf ihn fielen. Sie kullerten ihre Wangen herab und lösten sich von ihrem Kinn, um auf seinen Kopf zu fallen, von wo aus sie an ihm herunterrannen. Und da geschah etwas Unglaubliches: so, wie ihre salzigen Tränen an ihm herabrannen, erweckten sie, Pore für Pore seinen Leib zum Leben, erfüllten ihn mit Wärme, ließen Stein zu Fleisch werden, drangen durch das Fleisch vor in sein Herz und machten es lebendig. Sie bemerkte es erst nicht, doch dann, als er sich bewegte, und ihre Umarmung erwiderte, hielt sie ihre Sinne für das Opfer einer Täuschung ihrer Trauer, doch so war es nicht. Janus war durch das Salz ihrer Tränen wieder lebendig, und beide umarmten sich, küßten sich, sahen sich nun doch am Ziel ihrer seltsamen Suche, an deren Ende nun doch das Glück stand. Sie gingen dann herab, um fortzugehen, in ein anderes Land, und um dort glücklich zu sein. Bevor sie aber losgingen, drehte sich Diana noch einmal nach ihrer Statue um, und da sah sie, woran sie die ganze Zeit gearbeitet hatte: es war ein Abbild Janus´ gewesen, nur war sie in ihrer Nacht zu blind gewesen, um es zu sehen.
© Borna Cesljarevic 05/2003