Das letzte Stück
Sie wollte es!
Sie wollte es unbedingt haben. Allein der Gedanke verlieh ihren Augen ein gewisses Glänzen. Es war so gut gewesen. Birgit fuhr sich mit der Zunge langsam über die Lippen.
Ihr gegenüber saß Peter. Auch er schien darauf zu warten. Sollte sie etwas sagen?
Oder einfach warten bis er es tat?
Sie fragten beide gleichzeitig: „Möchtest du noch das letzte Stück Kuchen?“
Noch während sie es aussprachen griffen sie beide nach der Platte, um sie für sich zu gewinnen.
Das imaginäre Tauziehen dauerte nur Sekunden, dann änderte sich die Taktik. Peter und Birgit schoben die Platte von sich weg.
„Wenn du es gerne möchtest, nimm es ruhig!“
Das hatte wiederum den Effekt, dass der Kuchen an genau der Stelle blieb, an der er von Anfang an stand.
Sie zogen ihre Hände zurück und lächelten sich gezwungen an.
Peter meinte: „Komm schon, Schatz. Ich hatte schon genug für heute, ich überlasse es dir wirklich gerne.“
Seine Augen sagten etwas anderes.
Sollte sie das Angebot annehmen?
Nein, die Höflichkeit gebietet das Gegenteil.
„Ach, Peter. Sooo scharf bin ich auch nicht auf dieses Stück Kuchen.... immerhin ist es ja nur... Kuchen!“
Ihre Augen blitzten. Sie waren in einem Teufelskreis der guten Manieren. Das letzte Stück nahm man nicht.
Man ließ es anstandshalber übrig.
Aber wofür?
Plötzlich kam Peter mit einer Idee heraus: „Weißt du was, wir schneiden es einfach durch. Halbe halbe, na was sagst du?“
Sie lächelte und antwortete mit unnatürlich freundlicher Stimme: „Ich gebe dir meine Hälfte, Liebling. Du isst das doch so gerne.“
Aber was war das? Peter griff zu der silbernen Platte und zog sie zu sich.
Er akzeptierte ihr Angebot...
Birgit war empört, jetzt musste sie radikaler vorgehen.
„Heute ist er sowieso nicht besonders gut geworden!“ meinte sie beiläufig, aber mit einem genauen Blick auf seine Reaktion.
Peter legte sich gerade die Serviette auf den Schoss, blickte ihr aufmunternd ins Gesicht und sagte, dass der Kuchen heute ganz ausgezeichnet war.
In Birgit begann es zu kochen. Sie ließ nicht locker: „Naja, aber mir sind ja ein paar Eierschalen hineingefallen und ich habe sie nicht mehr komplett herausfischen können. Außerdem war die Milch schon ein wenig sauer...“
Das Pärchen funkelte sich über den Tisch an.
„Willst du mir den Kuchen etwa verderben?“ fragte Peter mit unterdrückter Wut. „Du kannst es nicht ertragen, dass ich gegen deine Prinzipien der Höflichkeit verstoße und das letzte Stück esse. Ist es nicht so?“
„Ja!“
„Dann behalt doch dein verdammtes, letztes Stück Hochzeitstorte.“
Er knallte die Serviette auf den Tisch, wobei die Sahne von dem Kuchen rutschte und nackten Nussteig hinterließ.
Birgit schrie ihm hinterher, als er das Zimmer verließ: „Dir bedeuten Höflichkeit und Manieren überhaupt nichts, wie? Du.... du... Neanderthaler. Ich lasse mich scheiden!“
Er erwiderte trocken: „Wir haben doch heute erst geheiratet.“
„Das ist doch mir egal!“
Sie verschwand durch die entgegengesetzte Tür und sie knallte gleichzeitig mit Peters ins Schloss.
Am nächsten Tag schmiss Birgit das letzte Stück Kuchen in den Müll.