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Das Leiden des Herrn von Stein

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29.01.2010
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Das Leiden des Herrn von Stein

Im Laufe des Nachmittags spürte Frank Unruhe aufkommen. Er kannte diesen Zustand, den aufzufangen ihm meist nicht gelang. Ein Aktenstoss fiel zu Boden, als er ungeschickt hantierte. Dies verstärkte seine düstere Stimmung noch.
Diese Befindlichkeit war in der Pubertät erstmals aufgetreten. Ein grösserer Junge hatte ihn geneckt, indem er ihm seinen vollen Namen entstellt nachrief. Er sah keinen Bezug darin und seine Erziehung gebot ihm, solch ein Verhalten zu ignorieren. Doch ein anderer Junge klärte ihn über die Bedeutung auf. Sein Name, Frank von Stein, war dem einer schauerlichen Romanfigur angeglichen worden. Er wies diesen Vergleich zwar von sich, doch vergessen konnte er diese Verunglimpfung nicht. Es mochte Zufall sein, aber in der Folge trat ab und zu diese bedrängende Unruhe in ihm auf. Eine Anspannung, die sich vorerst zu Unrast und Wachträumen steigerte. Erst Jahre später wusste er, was sein Grossvater gemeint hatte, als er einst sagte: «Junge, du trägst eine grosse Last.» Ihn hatten auch solche Phasen beherrscht.

Von Erregung getrieben, schritt Frank durch die dunklen Strassen. Er achtete nicht darauf, wohin er eilte. Der Verkehr beruhigte sich, je mehr er sich vom Stadtkern entfernte. Passanten waren nur vereinzelt unterwegs.
Überrascht schaute er auf, sein Schritt verharrte. Unbewusst hatte er dieses Haus anvisiert. Eine seiner Klientinnen wohnte hier. Vor zwei Jahren hatte sie ihn, auf Empfehlung hin, in einer Erbschaftsangelegenheit kontaktiert. Ein nicht sehr komplizierter Vorgang, doch sie fühlte sich nicht sicher und es ging um einen bemerkenswerten Nachlass. Zum Dank hatte sie ihn dann wiederholt zu gesellschaftlichen Abendanlässen eingeladen. Ein gewisses Interesse von ihr an seiner Person war ihm nicht entgangen. Sie war eine attraktive junge Frau, gebildet und aus gutem Haus. Seine Eltern hätten Freude an ihr. Auch in ihm erweckte sie Sympathie, doch wie immer wich er einer vertraulichen Beziehung aus.
Aus zwei Fenstern im Erdgeschoss fiel Licht in den Garten.

Zwanghaft streckte er seine Hand aus und drückte auf den Klingelknopf neben dem Tor.
«Ja, wer ist da?» In der offenen Haustür stand Clothild Schwarnau.
«Ich bin es, von Stein. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung.»
«Ah, welche Überraschung, Herr von Stein. Je später der Abend, desto angenehmer die Gäste. Kommen Sie herein!» Sie führte ihn in den Wohnraum.
«Entschuldigen Sie bitte, Frau Schwarnau», äusserte Frank nochmals. Er fühlte sich höchst angespannt. «Es war eine spontane Eingebung, als ich hier vorbeikam und bei Ihnen noch Licht sah.»
«Aber ich bitte Sie, Herr von Stein. Sie sind mir jederzeit willkommen.» Sie freute sich wirklich, wie er merkte.

Er setzte sich in einen Fauteuil. Als sie sich auf der Couch vorbeugte, um ihm ein Glas Wein einzuschenken, hob der Ausschnitt ihres Hauskleids etwas ab, den Ansatz der Rundungen freilegend. Frank senkte den Blick auf das Glas, um nicht dreist zu wirken.
Sie schlug die Beine übereinander. Mit dem Glas in der Hand zurücklehnend, öffnete sich das Hauskleid, ihr rechtes Bein bis über das Knie freilegend. Er bemühte sich, seine Unruhe nicht erkennbar werden zu lassen.
«Ich war in der Gegend, als mir spontan der Gedanke kam, Ihnen eine aussichtsreiche Investitionsmöglichkeit vorzuschlagen.»
«Ich mag keine geschäftlichen Gespräche zu dieser Stunde. Gerne komme ich aber in den nächsten Tagen bei Ihnen vorbei.»
«Aber natürlich, es war nur ein Impuls, es Ihnen sofort zu berichten.»
«Das ist schön, dass Sie an mich dachten und auch persönlich vorsprachen. Gerne würde ich jetzt aber unser Gespräch fortsetzen, das wir letzthin hatten. Sie erinnern sich, das Bild, das Sie erwähnten.»
Lucretia! Frank war klar, dass sie das Gemälde meinte, das seine Familie Tizian zuschrieb. Ein in der Öffentlichkeit unbekannter Entwurf des Künstlers, welcher im Besitz seiner Familie war. Er hatte ihn ihr gegenüber aus einer Laune heraus erwähnt. Sie hatte ein Faible für Kunst, und ein echter Tizian, auch wenn er nicht signiert und kein Attest vorlag, war für jeden Kunstliebhaber eine Besonderheit. Dass er in Privatbesitz ist, machte dies noch interessanter. «Mich hatte die Szene Sextus greift Lucretia an schon als Kind fasziniert, als ich ahnte, was da passiert sein musste.» Tatsächlich war es ihm zum Schlüsselerlebnis geworden. Wenn die ihm typische Unruhe ihn stark ergriff, vergegenwärtigte sich die Szene in seinen Gedanken.
Clothild machte ein gespielt ernstes Gesicht. «Ich hoffe, der Reiz gilt heute mehr dem Künstler als der Tat des Sextus?»
«Natürlich. Damals war es die Verunsicherung des Kindes, das betrachtete, aber nicht verstand.»
«Und heute?»
«Ich bin mir nicht sicher. Die Ehrfurcht vor dem Künstler steht ganz klar vorab. Doch geht mir vom Bild noch ein viel tieferer Ausdruck aus als damals. Es ist, als ob es Böses und Wunderbares in sich vereint, Widersprüchliches, das ich bis heute noch nicht ganz klar erfasse.»
«Aber die Handlung ist doch klar, Sextus vergewaltigt Lucretia.» Clothild sprach dies unbefangen aus.
«So lautet es in der antiken Geschichtsschreibung. Aber ich glaube Tizian wollte hier etwas anderes zum Ausdruck bringen, der Geschichte eine andere Wendung geben. Ich denke, dies wurde zu seiner Zeit nicht akzeptiert, weshalb er es nicht signierte und die Szene nochmals neu malte.»
«Eine höchst interessante Überlegung. Was denken Sie denn, welche Geschichtskorrektur er vornehmen wollte? Etwa, dass Sextus sie ermordete?»
«Ja. Aber das Motiv, welches Tizian Sextus unterlegt, erschliesst sich mir aus dem Bild noch nicht.»
«Ich bin fasziniert. Darf ich mal bei Ihnen vorbeikommen, um mir das Bild anzusehen?»
«In den Jahrhunderten, seit es im Besitz unserer Familie ist, hat es noch nie ein Aussenstehender zu Gesicht bekommen.»
Es machte einen Moment den Eindruck, Clothild gäbe sich geschlagen, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf. «Wird es der Frau, die Sie heiraten, dann zugänglich sein?»
Ein kurzes Lachen konnte Frank nicht unterdrücken. «Sicher, sie wäre dann ja ein Familienmitglied.»
Clothild stand auf und kniete sich vor Frank hin. «Darf ich um Ihre Hand anhalten, Frank?»
Der Antrag von Clothild überrumpelte ihn. Es entsprach nicht den gesellschaftlichen Regeln und so ein theatralisches Vorgehen hatte er von ihr nicht erwartet. «Ist das Bild Ihnen denn so viel Wert, Clothild?»
«Ja Frank, als Beigabe schon.»
Sein Blick zog von ihrem fein geschnittenen Gesicht langsam abwärts, bis zum Ansatz der Brüste, welche der Ausschnitt ihres Kleides offenlegte, und wieder aufwärts. Der schmale Hals, die weisse Haut von junger Frische, hielt seinen Blick gefangen. Lucretias Hals sah nicht annähernd so verführerisch aus. Seine Anspannung fiel in sich zusammen. Lust durchwogte ihn. Er streckte behutsam die Hände vor, ihr Gesicht fassend. «Ja, Clothild, sei mein». Die Hände strichen abwärts, während in Clothilds Augen ein Leuchten trat. Seine Finger spreizten sich um ihren Hals, langsam, sehr langsam einen zunehmend stärkeren Druck ausübend. Clothilds Augen, die ein ungläubiges Staunen angenommen hatten, traten stark hervor, plötzlich wurde der Blick matt.
Sanft bettete Frank Clothild auf die Couch, ihr die Augenlider schliessend. «Lucretia», flüsterte er.

Frank spürte ein Frösteln, er stand schweissgebadet und erschöpft vor dem Tor. Aus zwei der Fenster am Haus schien unverändert das Licht. Eben war hinter einem Fenster eine Bewegung zu sehen. Clothild Schwarnau, er meinte einen Moment sie zu sehen, wie sie den Raum durchschritt. Sie lebt? … Wirklich, sie lebt, wenn es nicht ein Trugbild ist! Sein Atem rasselte wie nach einer gewaltigen Anstrengung. Er hatte wiederum eine Frau ermordet, dem Zwang gehorchend – doch sie lebt! Oder doch nicht? Schweren Schrittes entfernte er sich von dem Haus.

Sein Vater stand hinter dem Schreibtisch, in der Haltung die er einnahm, wenn er Wichtiges vorzutragen hatte. In der Familie von Stein achtete man auf würdiges Auftreten. Für die seit sieben Generationen bestehende Anwaltskanzlei Dres. von Stein & Sohn war dies repräsentativ. Der Vater war das Inbild dafür.
Seine Mutter sass auf einem der beiden Besucherstühle, die Hände gefaltet. Es musste ein besonderer Anlass sein, zu dem man ihn hergebeten hatte.
«Frank, wir haben einen Entscheid getroffen, da du offensichtlich nicht in der Lage bist, dein Leben selbst in den Griff zu bekommen.»
«Aber …», er wollte sich mit seiner beruflichen Reputation rechtfertigen, doch sein Vater schnitt ihm mit einer Handbewegung, das Wort ab.
«Es war bei deinem Grossvater so und du bist nicht anders. Er hatte phasenweise eine verwerfliche Gesinnung, eine ambivalente Haltung zu Frauen. Seine Eltern konnten diese Entartung nur durch eine Zwangsheirat in den Griff bekommen, um ihn vor sich selbst zu schützen. Doch es ging auch um die Sicherung der Nachfolge. Unser Stammbaum ist über Jahrhunderte hinweg in bester Gesellschaft etabliert. Solltest du dich gegen unsere Entscheidung sträuben, sähen wir uns veranlasst, so schmerzlich und schmählich es für unsere Familie auch wäre, dein Verhalten auf andere Weise zu unterbinden. Es gibt da mehrere ungeklärte Fälle, die uns keineswegs entgangen sind, ebenso wie seinerzeit bei deinem Grossvater.»
Frank schwieg, er konnte keinen klaren Gedanken fassen, sein Denkvermögen entzog sich ihm.
«Wir haben uns für eine unserer Klientinnen entschieden und mit ihr vertraulich eine entsprechende Vereinbarung getroffen. Du wirst Clothild Schwarnau heiraten. Sie bringt die besten Voraussetzungen mit und ist einer Verbindung mit dir durchaus zugeneigt.»
Der Vater machte die Tür zum Nebenraum auf und Clothild trat ein. Zu einem eleganten schwarzen Kleid trug sie einen weissen Seidenschal mit schwarzen Punkten. Der Schal wirkte ungewöhnlich, da es ein warmer Spätsommertag war.
«Hallo Frank.» Ihre Augen zeigten das Leuchten wie an jenem Abend, als er ihr zuflüsterte: Ja, Clothild, sei mein.

 
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Tatsächlich –

lieber Anakreon –

weg ist der kürzestmögliche Einleitungssatz, der das Zeug hätte, unter der Rubrik

„der erste Satz“
seine volle Wirkung entfalten zu können. Du merkst schon am Konjunktiv, dass das nicht die volle Wahrheit sein kann, denn da ist er
In der Familie von Stein achtete man auf würdiges Auftreten,
wie ich seinerzeit schrieb,
eine Einleitung wie in „Stein“ gehauen.

Allein, bliebe er alleinesam vom einläuternden Anfang erhalten – er wirkte befremdlich. So nehmen wir denn Abschied von ihm wie von allem Vergänglichen, dat lebbe geht weiter, sagte schon Trainer Stepanovic nach dem weiß Gott wieivielten Abstieg der Eintracht zu Mainhattan, denn jedem Abstieg folgt der Aufstieg – und doch: es hat sich m. E. gelohnt, die Einleitung aufzulösen, um sie an der gegebenen Stelle im Text einzufügen.

Der Umbau ist geglückt, wie ich finde.

Gruß & schönes Wochenende wünscht

Friedel

 

Lieber Friedel

Das freut mich jetzt aber, dass sich meine Nackenhaare zu Unrecht sträubten, in der ernüchternden Meinung, du könntest doch noch einen Bock entdeckt haben. Auch wenn das Nomen est Omen zutrifft, muss die Schlussfolgerung daraus nicht immer so sein, wie ich deinen wie in Stein gehauenen Worten entnehmen darf.

Mit deinen lobenden Worten gehe ich in ein friedliches Wochenende und wünsche dir ein ebensolches.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon.

So, nun habe ich mich auch endlich einmal in eine deiner Geschichten fallen lassen. Ein gewöhnungsbedürftiger Stil, der aber, wenn ich mich als Leser darauf einlasse, durchaus seine Reize aufweist.
Es wirkt, als würdest du dir jedes Wort genauestens überlegen, abwägen, verwerfen, bis dann endlich der perfekte Satz geboren ist. Erinnert mich stark an Werke Poes.
Die Geschichte als Solche ähnelt einer Gruselstory im klassischen Sinne. Während des Lesens wusste ich nicht, worauf sie hinauslaufen würde. Daher war ich von der Auflösung positiv überrascht.

Fazit: Sehr gerne gelesen!

Gruß! Salem

 

Hallo Salem

Das freut mich sehr, dass die Handlung um den Filius der Familie von Stein, mit dir einem weiteren Meister des Grusel-Genres das Interesse weckte. Genugtuung bereitet mir auch, dass es dir als Leser gelang dich auf den mir gegebenen Stil einzulassen und dessen Reize wahrzunehmen.

Es wirkt, als würdest du dir jedes Wort genauestens überlegen, abwägen, verwerfen, bis dann endlich der perfekte Satz geboren ist. Erinnert mich stark an Werke Poes.

Ja, ich bemühe ich mich bereits im Aufbau, die angepassten Worte zu finden. Dennoch ist es nachher ein zähes Ringen, bis ich mit der Wortwahl zufrieden bin. Die einzige Geschichte von Poe, die ich fragmentarisch in Erinnerung habe, seit ich sie vor Jahrzehnten las, ist die mit dem Pendel. Jetzt muss ich dann aber wirklich mal seine Werke lesen.

Die Geschichte als Solche ähnelt einer Gruselstory im klassischen Sinne.

Diesen Eindruck gewann ich bei Fertigstellung des Manuskripts auch, was ich dann verstärkte, indem ich zeitgemässe Hinweise löschte. Dass die Auflösung dir eine positive Überraschung bildete, ehrt mich, wie dein Fazit, sehr gerne gelesen.

Danke dir herzlich für deinen Kommentar.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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