Was ist neu

Das Kleid

Seniors
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01.09.2005
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Das Kleid

Harald gab Frank das Bier über die Theke. Frank prostete ihm zu, als wäre das alles, was er von seinem Samstagabend wollte: hier drüben ein Bier mit dem Nachbarn, der selbst kein Bier trank. Eigentlich ließ er die Woche gern in Haralds Partykeller ausklingen, aber Rambo 2 war seit einer Woche auf Video draußen, und nachdem die Kassetten am Samstag zuvor alle weg gewesen waren, hatte er diesmal in der Videothek vorbestellt.

Frank stellte das Bier auf dem Deckel ab. Das Lotto-Logo war darauf gedruckt. Manchmal teilte er sich eine Schein mit Harald. „Heute aber wirklich nur das eine.“ Frank zeigte zur Wand. Dahinter lag sein Zuhause. Frau und Kind warteten auf ihn. Und Rambo. „Sonst krieg ich Ärger.“

Harald drückte die Lux im Aschenbecher aus und wickelte ein neues Päckchen aus der Folie. Früher Abend, 19 Uhr. Es musste so seine vierte Schachtel heute sein.

Harald steckte sich eine an und hielt Frank die Zigaretten hin. Frank winkte ab. „Ich versuche jetzt noch mal, aufzuhören.“
„Warum?“
Frank nahm einen Schluck Bier. „Weil es nicht gesund ist auf Dauer.“
Harald nickte und goss sich Cola nach. Die Brause zischte. „Das stimmt.“

Frank stutzte. Kein Hinweis auf Raucher, die neunzig wurden, während andere ihr Auto mit neunzehn um den Baum wickelten? Ungewöhnlich. Egal. Er wollte nach Hause. Zwang sich, langsam zu trinken. Schließlich ließ er die Bombe platzen.

„Ich habe den neuen Rambo drüben.“
Harald zog an seiner Zigarette und nickte.
„Muss Montag zurück in die Videothek. Wenn du willst, leihe ich ihn dir morgen aus.“
Harald nickte wieder. „Ja, den würde ich gern sehen. Der erste war gut.“

Gut? Frank sah Harald an, Harald fixierte den Turm gestapelter Sommerstühle in der Ecke des Partykellers. Frank wusste, Harald liebte Western, Eastwood und Bronson, aber er ging auch mit der Zeit. Er hatte den ersten Rambo wahrscheinlich öfter auf Video gesehen als manch 16-Jähriger. Und jetzt war er nur gut?

„Ist alles in Ordnung?“ Es fühlte sich falsch an, mit einem fast dreißig Jahre älteren Mann zu reden wie mit seiner siebenjährigen Tochter, wenn sie herumdruckste. Harald drückte die Zigarette aus, goss Cola nach und steckte eine neue an. Er nahm seine Mütze mit dem Toom-Logo ab. Das tat er nicht oft. Als Guido und Emma von gegenüber ihren zehnten Hochzeitstag feierten, hatte er sie zum Anzug getragen. Die Mütze legte er neben die Colaflasche. Seine Finger fuhren durch das lichter werdende Haar.
„Ich habe dir doch schon mal erzählt, wie meine Schwester gestorben ist.“

Frank sah auf. Harald hätte ihm auch die Cola ins Gesicht kippen könnten. Selbe Wirkung. Mir und allen anderen, dachte er. Beim Nachbarschaftsfest. Es ist spät, alle Kinder im Bett, Harald erzählt von früher. Wohnen in der Altstadt, Waschen im Badehaus, Toilette im Treppenhaus. Spülen mit Eimer Wasser. Kannst du dir heute gar nicht mehr vorstellen. Was für Zeiten, da wird gelacht. Wenn die Schwester nachts musste, stand Harald mit auf, weil sie Angst hatte allein im dunklen Treppenhaus. Eine verhängnisvolle Abzweigung war das gewesen, der Gedanke an die Schwester.

Es ist 1943 und die Tommys werfen Bomben, als wollten sie nie wieder was anderes machen. Alle laufen zum Bunker unter dem Kühlhaus. Stolpern und schreien. Wenn einer fällt, treten die anderen auf ihn drauf. Die Schwester geht verloren auf dem Weg, irgendwann sieht Harald ihr blaues Kleid mit den Gänseblümchen darauf nicht mehr. Im Keller drückt die Mutter ihn so fest an sich, dass er Angst hat zu ersticken. Nach einer gefühlten Ewigkeit rummst und zittert nichts mehr. Sie kommen wieder raus und es riecht, sagt Harald, als wenn wir heute unten in der Wiese den Gartenmüll und das Laub verbrennen, wenn du da ganz nah ran gehst, wenn es wirklich schon so weh tut in der Nase, dass du denkst sie blutet gleich, so riecht es, und du kannst nicht einfach einen Schritt zurück machen wie in der Wiese, weil alles so riecht, alles. In ein paar Häuser kannst du reingucken wie in Puppenhäuser, die stehen da, als hätte sie jemand in der Mitte durchgeschnitten, und da ist ein Stück Zaun, das steckt noch in der Erde, da hatte jemand Kartoffeln gepflanzt mitten in der Stadt, wurde ja auch immer knapper mit dem Essen. Jedenfalls, an diesem Zaun hängt was Blaues mit weißen Punkten, bewegt sich ein bisschen im Wind, und als wir dran vorbeigehen, sehe ich die weißen Punkte und es sind keine Punkte, es sind Gänseblümchen.

Keiner sagt was, ein paar Münder stehen offen, Harald steckt sich eine neue Zigarette an. Guido fummelt an seinen Hosentaschen rum, als wäre ihm gerade was eingefallen, was er dringend überprüfen muss, ob er das eingesteckt hat. Weil keiner was sagt, hören alle Tony Marshall aus den Boxen an der Decke singen. Schöne Maid, hojaja und so weiter. Vielleicht ist es schon morgen viel zu spät.

Frank nickte. Hast du erzählt. Haralds Augen blieben trocken, Gott sei Dank. Bei der Feier hatten sie geschimmert.

„Im Sommer habe ich Rasen gemäht“, sagte Harald.
„Okay.“ Frank nickte, überrumpelt vom Themenwechsel.
„Junge.“ Harald sah ihn lange an. „Du kannst doch eine Sache für dich behalten, oder? Ich habe keine Lust, dass Guido oder irgendwer das hört. Einer von den Quatschköpfen in der Straße.“
„Was hört?“
„Du behältst es für dich?“
„Klar.“

Harald machte noch drei Züge, dann begann er seinen Bericht. „Im Sommer mähe ich“, sagte er. „Der Korb ist voll. Ich stelle den Mäher auf Pause und er rattert leise weiter. Ich bücke mich, um den Korb abzunehmen. Vor mir links, so zehn Meter weit weg, ist mein Apfelbaum. Und da sehe ich aus dem Augenwinkel was dran hängen. Ich denke, es ist ein Plastikfetzen, von dieser Folie, in der sie drüben bei den Höfen immer die großen Strohballen einwickeln. Dass sie einen ausgewickelt und die Folie dabei zerrissen haben und dann packt der Wind hinter und jetzt habe ich es im Baum hängen.“
„Hatte ich auch schon mal auf den Steinen liegen, das Zeug“, bestätigte Frank. „Sieht immer blöd aus dann.“

Harald nahm einen tiefen Zug. „Also komme ich hoch und erstmal sticht’s im Rücken, das passiert in meinem Alter. Außerdem werden die bunten Punkte vor den Augen mehr, das ist der Kreislauf, das ist auch das Alter.“
Frank sah zu den zwei Packungen Lux. Harald hatte die volle auf die leere gelegt.

„Also ja“, sagte Harald, „ich kann kurz nicht so gut sehen. Aber, Junge, was da im Baum hängt, ich schwöre es dir, das ist keine Folie. Es ist das Kleid. Blau mit Gänseblümchen.“

Als ihre Augen sich trafen, nahm Frank einen Schluck Bier. Er wartete drauf, dass Harald weiter erzählte, aber die Reihe war jetzt an ihm. Er stellte das Glas auf die Theke. „Es ist ja so lange noch nicht her, dass du uns das erzählt hast.“
Harald sah ihn an.
„Ich meine“, sagte Frank, „morgen guckst du meinen Rambo und dann träumst du vielleicht, dass du mit so einem Riesenmesser durch den Wald läufst. Man hat das dann im Kopf und wenn man schläft, geht es da oben irgendwie weiter, ist doch normal.“

„Ich hab den Rasen gemäht“, sagte Harald. „Da bin ich meist wach bei.“
„Aber du hattest das mit dem Kleid gerade erst wieder hoch geholt hier oben.“ Frank tippte sich an die Schläfe. „Darum war das präsent.“
Präsent“, wiederholte Harald. „Präsent habe ich das an jedem Tag in jeder Woche. Jeden Monat in jedem Jahr. Seit dreiundvierzig.“

Frank wog den Kopf ein paar mal hin und her. „Na ja, aber umso mehr“, sagte er. „Man ist in Gedanken. Es ist Sommer, es ist heiß. Die Luft flimmert.“
„Und da verwechsele ich ein Stück blaue Folie mit dem Kleid meiner Schwester?“
„Weiß ich nicht, wahrscheinlich schon. Mann, Harald. Was soll ich denn jetzt sagen?“

Ein paar Züge lang ließ Harald die Frage ohne Antwort.
„Gar nichts meinetwegen“, sagte er dann. „Ich musste es einfach mal erzählen. Hanni fragt schon immer, was ist, aber du kennst sie. Wenn ich es ihr sage, kann ich auch ein Schild an die Straße stellen, wo es draufsteht.“

Harald rauchte, Frank nahm den letzten Schluck. Als er das Glas abstellte, blickte Harald wieder zu ihm. „Willst du noch eins?“
„Aber wirklich nur eins noch.“

Harald füllte das Glas an der Zapfanlage und stellte es auf die Theke. Dabei zeigte sich immer, dass er selbst kein Bier trank. Viel zu viel Schaum.

„Danke.“ Frank und nahm einen Schluck. Der Schaum kitzelte an der Nasenspitze. Er wischte ihn weg. „Bist du nicht hingegangen zur … zum Kleid?“

Harald schüttelte den Kopf. „Ich dachte ja auch erst, ich werde bekloppt. Hab so getan, als sähe ich es nicht und hab den Korb vom Mäher ausgeschüttet. Und als ich wieder hochgucke, ist es weg.“
Frank weitete die Augen: Siehst du?
„Was?“, fragte Harald.
„Naja“, sagte Frank. „Warum ist es auf einmal weg? Du hast geträumt. Mit offenen Augen.“
Harald schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Ich finde schon.“
„Nein, Junge, jetzt lass mich doch erst mal zu Ende erzählen!“
„Ich dachte, das wäre das Ende.“
„Nein.“ Zwei Züge an der Lux. „Ich hab’s noch zwei Mal gesehen.“
Frank nippte am Bier.

„Das erste Mal war im Herbst. Hanni wollte Auflauf machen und wir hatten den Blumenkohl vergessen. Ich also noch mal los. Ich fahre unten durch, der Weg durch die Wiesen.“
Landwirtschaftlicher Verkehr frei. „Irgendwann stehen da wirklich mal die Bullen“, meinte Frank.

Harald machte ein ungeduldiges Gesicht und wedelte mit seiner Zigarette. „Da kommst du ja am kleinen Wasserwerk vorbei, wo alles so zugewachsen ist. Und da am Zaun mit dem Schild davor, nicht betreten und was weiß ich. Über dem Zaun sehe ich es schon von Weitem hängen.“

In Franks Hals kratzte es, aber er wollte sich nicht räuspern. Stattdessen kühlte er das Kratzen mit Bier. „Hast du angehalten?“, wollte er wissen.

„Da habe ich immer noch gedacht, dass ich einfach langsam weich im Kopf werde. Zweiundsechzig immerhin, so alt werden einige gar nicht.“
„Also nein.“
„Nein.“
Das muss dir doch selbst auffallen.
„Beim nächsten Mal bin ich zu Fuß hoch in die Siedlung zum Automaten, über den Sonntag vorsichtshalber noch mal zwei Schachteln holen. Die Bank, an der du da vorbeikommst, da hing es drüber. Es wird ja früh dunkel jetzt, und es war auch dunkel, aber es war das Kleid.“
„Und du bist wieder nicht hin?“
„Ich bin schnell weiter und bin zurück die Hauptstraße lang.“
„Ganz schöner Umweg.“
„Ich hatte Bammel.“
Frank ließ das fast leere Bierglas in seiner Hand kreisen. „Und jetzt?“

Harald zuckte die Schultern. „Ich bringe gerade alles auf Vordermann, die ganzen Unterlagen fürs Haus und so was, dass Hanni keine Lauferei hat. Und ich will mit allen nochmal zusammenzukommen. Vielleicht mache ich Nachbarschaftsfest außer der Reihe. Grillen wir halt hier drin, ich mache die Fenster auf.“

Der letzte Gedankensprung hatte Frank abgehängt. Harald schien es zu bemerken. Er zeigte mit der Zigarettenspitze zur Decke des Partykellers. „Es ist ein Gruß von oben.“
Frank führte das Glas zum Mund und stoppte auf halbem Weg. „Was?“
„Ich kippe um demnächst.“ Harald hob die zwei Schachteln auf der Theke kurz an. „Die Qualmerei. Und die Cola vielleicht noch dazu. Koffein geht ja auch auf die Pumpe. Das Kleid ist wie ein Ortsschild. Noch zehn Kilometer.“

Frank stellte das Glas ab. „Harald, jetzt mach mal einen Punkt. So ein Quatsch.“
„Hast du nie gedacht, dass die Fluppen mich irgendwann kaltmachen?“
„Aber doch nicht …“ Frank stockte.
„Nicht jetzt schon.“ Harald nickte. „Das habe ich damals auch gedacht, wenn die Flieger kamen. Irgendwann erwischen sie mich. Oder einen von uns. Aber nicht jetzt schon.“ Er nahm einen Zug und pustete blauen Rauch aus, der in feinen Schwaden zur Decke stieg. „Irgendwann ist das dann da, jetzt schon.“
„Warst du denn beim Arzt?“

Harald winkte wieder ab. Der Rauch seiner Zigarette schlug dadurch Wellen. „Du weißt, was ich von Ärzten halte.“
„Aber wenn du jetzt Recht hättest, was du nicht hast, würdest du gar nicht wissen wollen, was es ist?“
„Was soll es sein? Meine Lunge ist schwarz wie ein Bärenarsch bei Nacht, da brauche ich keinen Arzt für.“ Während er das sagte, zitterte Haralds Unterlippe.
„Ich komme mit“, schlug Frank vor.
„Was?“, fragte Harald.
„Ich fahr dich hin und warte draußen.“
„Ich sag doch, Ärzte-“
„Soll ich dir glauben oder nicht?“

Haralds Gesichtszüge entgleisten. Er war enttäuscht. Vielleicht sogar gekränkt.
„Jetzt komm“, sagte Frank. „Was ist das für eine Geschichte? Die kannst du nicht einfach erzählen und fertig.“

Harald dachte darüber nach. „Ich guck mal.“ Er drückte die Zigarette aus. Bevor er die nächste ansteckte, setzte er die Toom-Mütze wieder auf und knibbelte kurz an ihrem Schirm. Sein Blick ging ins Leere dabei. „Wovon handelt der neue Rambo eigentlich?“


Frank rieb sich die Hände. Es war kalt, Ende Februar. Hätte er nicht aufgehört, wäre er ausgestiegen, um eine zu rauchen.

Die Praxistür ging auf. Harald kam über den Parkplatz, eine Zigarette zwischen den Lippen. Es war ihr vierter gemeinsamer Arztbesuch. Kleines Blutbild, großes Blutbild, Röntgen.

Harald rauchte auf dem Weg zum Auto, nahm vor dem Einsteigen noch ein paar schnelle Züge. Dann schnippte er die Kippe weg und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Kalte Februarluft kam mit ihm ins Auto. Sie roch nach Rauch. Franks Herz klopfte. „Und?“

Harald zuckte die Schultern. „Lunge von zwanzigjährigem Fußballer sieht anders aus“, sagte er. „Eine mit Krebs aber auch. Ich hab nichts. Cholesterin zu hoch. Blutdruck, Puls, Herz, alles nicht das Gelbe vom Ei. Aber geht noch. EKG soll ich mal beizeiten machen.“
„Hab ich doch gesagt“, sagte Frank. „Vielleicht hast du Stress gehabt zuletzt.“
„Kann sein. Jetzt habe ich aber ein anderes Problem.“
„Nämlich?“
„Warum sehe ich das Kleid dann?“
„Du hast das Kleid doch gar nicht mehr gesehen.“
„Ich hab’s nicht erzählt. Wollte die Ärzte abwarten. Aber ich sehe es fast jeden Tag inzwischen.“

Frank stöhnte auf. „Harald, das bildest du dir nur ein. Hast du dem Arzt das mit dem Kleid erzählt?“
„Ich will doch nicht in die Klapse.“
„Wer redet denn von Klapse?“ Frank dachte über die nächsten Worte sorgfältig nach. „Aber vielleicht gehst du wirklich mal zu einem anderen Arzt.“
Harald tippte sich an die Schläfe. „So einen meinst du?“
Ehrlich gesagt ja. „Das muss doch keiner mitkriegen.“
Harald schüttelte den Kopf. „Ich mache was anderes.“
„Was denn?“
„Fahr erst mal los.“

Oben in der Siedlung, wenn man schon fast am Rand des Gebirges angekommen war, gab es ein einsames Haus. Es stand auf einer Wiese. Im Sommer wucherte sie zu. Das Gras wuchs dann über eine Schubkarre, einen Schweinetrog und ein Fahrrad mit nur einem Reifen, die dort herumstanden. Früher war die Wiese ein Feld gewesen. Darauf pflügte, säte und erntete schon seit den Sechzigern niemand mehr. Das Fachwerk war ein altes Gesindehaus mit Plumpsklo und Fenstern, die zuletzt jemand erneuert hatte, als Adenauer Kanzler war.

„Ich gehe hoch zu Emmy“, sagte Harald.
Frank drehte kurz den Kopf zu ihm. „Nein.“
„Doch.“
„Und was soll die machen?“
„Meine Schwester fragen, was sie will.“
Frank atmete tief durch.
„Ich weiß“, sagte Harald.

Frank hielt an einer roten Ampel. „Harald, Emmy ist nur ein armes Schwein. Einsam und … hundertzwanzig Jahre alt? Ich weiß gar nicht, wovon die lebt.“
„Wenn jemand weg ist und du hast du noch Fragen, gehst du zu ihr“, sagte Harald. „Das ist eine ganz normale Dienstleistung.“
„Im Mittelalter vielleicht gewesen.“
„Ich gehe zu ihr.“
„Letztes Jahr um diese Zeit hast du Leuten einen Vogel gezeigt.“
„Hab meine Meinung geändert.“

Die Ampel zeigte grün, der Corsa vor ihnen blieb stur stehen. Frank hupte. „Guten Morgen.“ Er drehte sich zu Harald. Harald sah ihn nicht an. Er blickte weiter geradeaus, aufs Heck des Opels. Betastete nervös die aufgeplatzten Nähte am Schirm seiner speckigen Toom-Mütze.

„Kommst du zu Emmy auch wieder mit?“
Frank schüttelte den Kopf. „So einen Quatsch unterstütze ich nicht. Zünd das Geld einfach an, kommt aufs selbe hinaus.“
„Ist doch mein Geld.“

Frank dachte an alles, was er über Emmy gehört hatte, seit sie hier hergezogen waren. Die Kinder lernten, dem Haus fernzubleiben. Jugendliche bewarfen es mit Eiern, die an der Fassade trockneten. Dann gab es die Geschichte von dem Sparkassen-Typen, der ihr das Grundstück abluchsen wollte. Die Leute im Dorf sagten: Sicher, auch mit vierunddreißig kannst du einen Schlaganfall haben. Manchmal stürzt das Flugzeug ab.

„Hast du Schiss allein?“, fragte Frank.
Harald trommelte auf dem Mützenschirm herum. „Hättest du keinen?“
„Ich glaub das alles nicht, was man über sie erzählt.“
„Dann komm einfach mit, weil ich es bin.“

Ein Transporter mit dem Logo einer Bäckerei darauf überholte sie.
„Was nimmt Emmy eigentlich für so eine …“ Frank trat aufs Gas.
„Sitzung?“, fragte Harald.
„Nennt man das so?“
„Zweihundert hört man immer. Die würde ich einstecken. Heißt das, du kommst mit?“

Frank pfiff ein zweifelndes „Pf“ durch Unterlippe und Schneidezähne. „Ich glaube immer noch, dass du das Geld lieber anzünden solltest. Hättest du bei der Kälte auch mehr von. Aber danach versuchen wir was, das ich vorschlage.“


Franks Zehen fühlten sich an wie kleine Kiesel aus Eis. Als könnten sie jeden Moment abbrechen. Fast eine halbe Stunde waren sie schon unterwegs. Bergauf. Es hatte geregnet und die nasse Kälte saugte sich in die Kleidung. Er wollte den Anblick des maroden Fachwerkhauses kurz wirken lassen, aber Harald stakste direkt auf das große Holztor zu, durch das irgendwann mal Kühe und Pferde rein und raus gelangt waren. Im linken Flügel des Tores eingelassen war eine Tür für menschliche Bewohner. Harald klopfte an. Nichts geschah.

„Vielleicht ist sie nicht da.“ Ein bisschen hoffte Frank es. Wenn sie nun jemand sah. Ließen sich von Emmy den Kaffeesatz lesen wie zwei Waschweiber.

Harald klopfte wieder, stärker diesmal. An vielen Stellen blätterte die grüne Farbe ab vom Holz des Tores und der Tür. „Hallo?“
Stille.

„Kommt nichts“, sagte Frank. „Lass uns-“
Von der anderen Seite klapperte und klackte es. Holz auf Metall. Vielleicht umgekehrt. Sie öffnete die Tür. Frank hielt die Luft an. Er hatte Emmy noch nie aus der Nähe gesehen. Sie trug ein altes Kleid mit fleckiger Schürze. Feiner Modergeruch ging von ihr aus. Kartoffelkellergeruch. Gemischt mit Schweiß und ein bisschen Urin. Unter ihrem fleckigen Kopftuch lugten an ein paar Stellen grauweiße Haare hervor. An den Füßen trug sie dicke, grüne Wollsocken.

„Seid ihr von der Stadt?“ Ihre heisere Stimme zerschnitt die Stille. Das linke Auge schielte weit nach außen. Frank fragte sich, ob es blind war.

„Wir wollen …“ Harald knetete seine Finger. „Meine Schwester will irgendwas von mir“, sagte er schließlich, als hätte er einen Anruf von ihr verpasst. „Ist im Krieg gestorben.“

Emmy musterte Harald von den Spitzen seiner Schuhe zur Toom-Mütze. Vielleicht, dachte Frank, wirkte sich das auf den Preis aus, ob jemand vor vier Wochen gestorben war oder vor vier Jahrzehnten.
„Ich mache nur Vorkasse“, sagte sie. „Und wenn sie nicht wollen, wollen sie nicht. Das ist dann nicht meine Schuld, also behalte ich das Geld.“
Harald nickte und zog die zweihundert Mark aus dem Portemonnaie. „Reicht das?“ Er hielt ihr die Scheine hin. Zehner, Zwanziger und Fünfziger.
Emmy nahm das Geld mit altersfleckigen Händen. Sie zählte es ungerührt und nickte, drehte ihnen den Rücken zu und sagte: „Kommt rein.“

Alter Holzboden knarrte unter ihren Füßen. Im Raum, in den Emmy sie führte, stand ein Holztisch mit einer Kerze in einem billigen Messinghalter darauf. Die vier Stühle am Tisch stammten aus mindestens zwei unterschiedlichen Dekaden. Die Tapete war an einigen Stellen zerrissen. Emmy setzte sich auf einen der Stühle. Sie zählte noch einmal das Geld und ließ es in einer Seitentasche ihres muffigen Kleides verschwinden. „Hinsetzen.“

Harald und Frank setzten sich. Harald bereitwillig, Frank rollte die Augen. Die Stühle machten Geräusche wie der Fußboden.
Emmy sah zu Harald. „Deine Schwester also.“
Harald nickte.
„Erzähl.“

Er berichtete, vom Krieg übers Rasenmähen bis zum vierten Arzttermin. Emmy hörte zu, ohne sich ein einziges Mal zu rühren. Frank beobachtete sie. Hört sie überhaupt zu?

Als Harald fertig war, blieb Emmys Blick kurz auf ihn gerichtet. Dann sah sie eine Weile zur Decke und wieder zurück. „Du hältst es für ein Omen.“

„Das heißt so, oder?“, sagte Harald. „Das habe ich zuerst gedacht, ja. Aber ich bin gesund.“
„Na und?“
„Es sieht nicht so aus, als würde ich bald sterben.“
„Vielleicht gehst du gleich über die Hauptstraße und wirst von einem Bus überfahren.“
„Ich gucke eigentlich immer links und rechts.“
„Das war nur ein Beispiel.“ Du Trottel, schien sie anfügen zu wollen. „Wer ist der andere eigentlich?“ Sie sah Frank nicht an, als sie es sagte.
„Ein Freund“, sagte Harald. „Ich dachte-“
„Ich weiß“, sagte Emmy. „Kaum einer traut sich allein.“
Harald hatte größere Sorgen als seinen verletzten Stolz. „Was will sie?“

Emmy stand auf und zog mit staubigen alten Vorhängen die Fenster zu. Sie verschwand aus dem Raum, kam mit Streichhölzern zurück und zündete die Kerze auf dem Tisch an. „Fragen wir sie.“

Sie sollten sich die Hände reichen.
„Ich bin nur mitgekommen“, sagte Frank.
Harald griff seine Hand. Die andere ging an den Schirm seiner Toom-Mütze. „Soll ich die lieber absetzen?“
Emmy zuckte die Schultern. „Mach das, womit du dich wohl fühlst.“
Harald ließ den Schirm wieder los.

Emmy nahm die Hände der Männer, sodass sie einen Kreis um die Kerze schlossen. Sie bat Harald, den Namen seiner Schwester zu nennen und etwas zu erzählen, dass nur sie beide wissen konnten. Harald betrachtete die Kerze eine Weile. Die Streichhölzer lagen daneben. Er berichtete, wie sie einmal Streichhölzer aus einer Schublade in der Küche gestohlen hatten, um eine Zigarette zu rauchen, die sie hinter dem Haus gefunden hatten. Harald hatte sich nach einem Lungenzug fast übergeben müssen, Ilse hatte nur gepafft.

Ilse. Jetzt erst fiel Frank auf, dass sie für ihn bisher nur Haralds Schwester gewesen war.
Emmy schloss die Augen. „Das weißt du noch mit der Zigarette, oder, Ilse?“

Irgendwo im Haus erklang ein Geräusch, das Frank an kleine Pfoten erinnerte. Eine Ratte oder ein Frettchen vielleicht. Zu klein und zu flink für eine Katze. Er blickte zu Harald. Der sah stur auf den Tisch.

Langsam stieg der Druck von Emmys Hand. Harald sah vom Tisch auf. Seine Augen waren jetzt auf Emmy gerichtet. Sie wandte den Kopf von links nach rechts, von oben unten. Alles mit geschlossenen Augen. Frank spürte, wie der Druck ihrer Hand zu- und wieder abnahm, zu- und wieder abnahm. Sie öffnete die Augen und blickte im Raum umher, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.

Was für ein Theater. Sie hatte das gut einstudiert. Selbst das Auge schielte plötzlich nicht mehr.
„Harry“, sagte sie.

Kälte breitete sich in Franks Nacken aus. Emmy klang nicht wie ein kleines Mädchen. Sie klang wie eine alte Frau, die sich für ein kleines Mädchen hielt.
„Ilse?“, fragte Harald. Frank drehte den Kopf zu ihm.
Emmy nickte.
„Ilse, es tut mir leid.“ Harald schüttelte den Kopf. „Ich war selbst noch ein Kind. Und Mutter hat das auch nicht gewollt.“
„Das weiß ich“, sagte Emmy. Frank weigerte sich, von ihr als Ilse zu denken.
Harald wirkte erleichtert. „Aber warum dann?“
„Warum?“
„Das Kleid“, sagte Harald. „Was willst du mir sagen?“
„Dass du an mich denken sollst.“
„Ich denke jeden Tag an dich.“
„Nein, tust du nicht.“

Frank fragte sich, ob er das gerade richtig verstanden hatte.
„Aber, Ilse …“, stammelte Harald.
„Aber, Ilse.“ Emmys Mädchenstimme klang kurz tiefer. Sie äffte Harald nach.
Was soll das denn? „Das reicht glaube ich“, sagte Frank. „Wir …“ Emmys Hand griff seine fester. Seine Knöchel knackten. Frank fluchte.
„Ilse, ich ...“, sagte Harald.
„Ich hab deinen Namen geschrien und mein schönes Kleid vollgepisst“, sagte Emmy. „Die erste Bombe fiel und sie war so stark. Sie drückte mich gegen ein Haus. Es knackte ganz laut. In mir drin.“

Frank sprang von seinem Stuhl auf und riss dabei seine Hände aus denen von Harald und Emmy. Emmys Fingernägel zerkratzten seinen Handrücken. „Was soll der Mist!“ Er hielt seine zerkratzte Hand.

Emmy stand auf, griff Frank beim Pullover, warf ihn gegen die Wand hielt ihn dort. Er spürte keinen Boden mehr unter den Füßen. Das morsche Mauerwerk, von dem Stücke zu Boden rieselten, war noch solide genug gewesen, um ihm beim Aufprall die Luft aus den Lungen zu schlagen.
„Was mischt du Kröte dich ein?“, zischte Emmy.

Frank griff ihre Handgelenke, spürte alte Haut über alten Knochen, die die Kraft nicht haben durften, mit der sie ihn festhielten. Der Druck von Emmys Unterarmen auf seiner Brust stieg. Er keuchte Haralds Namen. Der sah ihnen eine Weile verdattert zu, bis er schließlich aufstand.

„Hey!“ Emmys Kopf fuhr herum zu ihm. Sie ließ Frank los. Aber anstatt sich auf Harald zu stürzen, sackte sie in sich zusammen.

Frank behielt sie eine Weile im Auge. Sein Atem beruhigte sich langsam. Schließlich stieg er über den Körper am Boden und ging auf Harald zu. „Lass uns abhauen“, sagte er. „Sie ist irre.“
Harald sah ihn an. „Aber Ilse-“
„Das war nicht Ilse.“
„Ich hab ihre Stimme gehört.“
„Nein.“
„Doch.“
„Er hat Recht.“

Frank fuhr herum und stieß dabei gegen den Tisch. Emmy kam langsam wieder auf die Beine. Ihre alten Knochen knackten (Es hat geknackt in mir drin). Aus der Nase lief Blut. Sie stoppte es mit dem Handrücken und wischte es an ihrer Schürze ab. „Das war nicht Ilse.“

Emmy zog die Vorhänge auf, öffnete das Fenster und spuckte einen roten Brocken nach draußen. Kühle Luft strömte herein. „Ich hab den Geschmack noch im Mund“, sagte sie. „Seine Gemeinheit.“

Sie schloss das Fenster. Harald sank schon wieder auf den Stuhl. Nach einer Weile tat Frank es ihm nach. Emmy sah Harald an. „Ich mache das oft genug“, sagte sie. „Und schon sehr lange. Das war anders.“ Sie leckte ihre Fingerkuppen an und drückte die Flamme aus. „Es ist ein Dibbuk, denke ich. Eigentlich bin ich mir recht sicher. “
„Was soll das sein?“, fragte Frank. „Ein …“ Er hatte den Begriff zum ersten Mal gehört und schon wieder vergessen.
„Dibbuk“, wiederholte Emmy. „Die Juden nennen ihn so. Andere nennen es anders.“

Bei die Juden hatte Frank kurz gezuckt. Was kam denn jetzt?
Haralds Hand ging zur Zigarettenschachtel in seiner Hemdtasche. „Kann ich nichts mit anfangen.“
„Hier drin wird nicht geraucht“, sagte Emmy.
Harald ließ die Finger wieder von der Hemdtasche. Stattdessen knibbelte er am Schirm seiner Mütze.
„Deine Traurigkeit zieht es an“, erklärte Emmy. „Wie eine tote Katze die Krähen anzieht. Es lebt von deinen Schuldgefühlen.“
Haralds Augen weiteten sich. „Meine Schuld?“
„Ich weiß“, sagte Emmy. „Ich hab gesagt Schuldgefühle. Dein Kopf weiß, dass du nicht schuld bist. Aber Bauch und Herz sagen was anderes. Und gegen das Herz allein hat der Kopf schon keine Chance. Irgendwann …“
Sie wischte nachlaufendes Blut ab. Erst mit der Hand zur Nase, dann mit der Hand zur Schürze. Harald kratzte den Schirm seiner Mütze. „Irgendwann was?“

Emmy sah ihn an. „Irgendwann kannst du nicht mehr. Du wechselst die Seiten und der Dibbuk sucht sich einen neuen Wirt.“
„Ich wechsele die Seiten?“
Emmy strich sich mit dem Zeigefinger über den Hals.
„Und wenn wir das jetzt glauben“, sagte Frank, „was machen wir dann?“
Emmy blickte zu Frank. „Ihr seid Freunde, oder?“
„Kann man so sagen.“
„Dann solltest du es glauben. Freunde helfen. Du störst ihn. Er mag das nicht.“
„Wie werde ich ihn los?“ fragte Harald.

„Du vergibst dir selbst“, sagte Emmy. „Das macht dich uninteressant. Geschmacklos. Das ist der erste Weg, aber der ist fast unmöglich zu schaffen. Ich kann auch nicht garantieren, dass du die Zeit noch hast. Weg zwei ist schnell und … gefährlich.“
Emmy machte eine Pause. Frank schnaufte ungeduldig. „Und? Weg zwei? Ist?“
Emmy zog die Augenbrauen hoch: Das liegt doch wohl auf der Hand. „Wir treiben ihn aus.“
Frank lachte leise auf. „Kostet noch mal zweihundert Mark.“
„Arbeitest du umsonst, junger Mann?“
„Arbeit?“

Harald hob die Hand. „Ich mache es. Ich habe das Ding an mir hängen, ich kann entscheiden, was ich machen will. Aber was heißt gefährlich? Wie gefährlich?“
Emmy presste die Lippen aufeinander. „Wie eine schwierige Operation“, sagte sie. „Manchmal gehen sie schief.“
Frank stand auf. „Das ist doch jetzt alles nur noch-“
„Wie viel willst du dafür?“, fragte Harald.


Frank drehte das Bierglas auf der Theke ein paar Mal um die eigene Achse. „Fünfhundert Mark“, seufzte er. „Ich kann nicht fassen, dass du ihr fünfhundert Mark für den Scheiß gibst.“

Harald pustete Rauch aus. „Ich glaub ihr nun mal“, sagte er. „Du verstehst das noch nicht. Ab vierzig hörst du die Kiste langsam lauter klappern. Du guckst in die Zeitung und dein alter Lehrer ist tot. Irgendwann der erste Mitschüler. Dann machst du den Fernseher an und irgendein Schauspieler ist gestorben, den du als Junge gern gesehen hast. Und die Nachbarin von früher, die dir immer ein Bonbon geschenkt hat, die ist jetzt auch tot. Das ist wie Regen. Du merkst einen Tropfen und dann einen zweiten. Einen dritten und einen vierten und dann geht’s richtig los.“

Frank ließ das Glas wieder ein bisschen rotieren. „Das bedeutet?“
„Dass du anfängst, an Sachen zu glauben, bei denen du früher gesagt hättest, hier.“ Harald ließ die Hand vor seinem Gesicht pendeln. „Ab fünfzig gehen ja auch wieder mehr Leute in die Kirche. Spätestens ab sechzig.“
„Kann sein“, sagte Frank. „Aber fünfhundert Mark sind immer noch eine Menge Geld.“
„Hanni und ich haben keine Kinder. Ob ich’s nun dafür ausgebe oder wieder für teures Werkzeug raushaue, das ich kaum benutze.“
„Das teure Werkzeug kannst du verleihen“, sagte Frank. „An mich zum Beispiel. Das Geld hier ist einfach futsch. Wie ein Zaubertrick. Das macht sie ja da oben in ihrer Abbruchhütte. Eben sind die Scheine noch da, jetzt sind sie weg. Abrakadabra.“

Harald steckte sich eine neue Zigarette an. „Und als sie dich gepackt hat, da hattest du nicht die Hose voll? Hast du dich nicht gefragt, wo sie auf einmal die Kraft her hatte?“
Doch. „So viel wiege ich nicht.“
„Sie ist achtzig und drüber.“

Frank trank sein Bier aus. „Harald, es ist deine Entscheidung.“ Er stellte das leere Glas auf die Theke. „Machst du mir bitte noch eins?“
Harald zapfte. „Machen wir es?“ Er gab Frank das neue Bier. Frank nahm einen Schluck.
„Wir machen es“, sagte er. „Ich möchte nur, dass wir festhalten, ich habe mehrfach darauf hingewiesen, fünfhundert Mark sind eine Menge Geld.“

In dieser Nacht träumte Frank von der Theke, aber auf der anderen Seite saß nicht Harald, sondern Emmy. Sie rauchte.
„Wo ist Harald?“, fragte Frank. „Du hast gesagt, kein Rauchen hier drin.“
Emmy zuckte die Schultern. „Er will seine Operation“, sagte sie. Sie nahm Franks leeres Glas. Aus dem Zapfhahn floss stotternd und spuckend ein dickes Sekret.
„Wir müssen los“, sagte Frank. Er wollte das Zeug aus dem Hahn auf keinen Fall trinken.
Emmy stellte das Glas ab und schüttelte den Kopf. „Wir bleiben.“ Sie krallte ihre Finger in seinen Pullover und zog ihn über die Theke.

Frank riss die Augen auf. Er spürte die Trommelschläge seines Herzschlags bis zum Kehlkopf. Neben ihm atmete seine Frau regelmäßig. Frank starrte an die Decke und wartete, bis der Schweiß auf seiner Stirn getrocknet war. Dann ging er in die Küche und trank ein Glas Wasser aus dem Hahn. Sah aus dem Fenster. Drüben war alles dunkel. Er fragte sich, was Harald träumte.


Beim ihrem ersten gemeinsamen Weg hoch zum Fachwerkhaus hatten sie über Emmy und alles gesprochen, was die Leute über sie sagten. Zwischendurch hatte Frank gefragt, wie Harald der neue Rambo gefallen habe, einfach, um über etwas anderes zu reden. Dieses Mal sprachen sie kaum. Harald marschierte soldatisch und blickte geradeaus.

„Hast du das Geld dabei?“, fragte Frank.
Harald nickte.
„Dann würde es sich ja richtig lohnen, über uns herzufallen.“
Haralds Mund zuckte kurz.
„Hast du das Kleid noch mal gesehen?“
Harald ging einfach weiter.

Emmy nahm das Geld und führte sie wortlos in den Raum mit den vier Stühlen. Über ihrem Kleid trug sie weißes Tuch. Auf dem Tisch standen diesmal gleich mehrere Kerzen, und auf die Platte hatte sie mit Kreide Symbole gemalt. Frank fand, es sah aus wie die Schallplattenhülle einer Heavy-Metal-Band.

Als sie saßen, nahm Emmy ein Buch zur Hand, das auf dem Tisch gelegen hatte. „Das alte Testament“, sagte sie. „Teile daraus werde ich gleich lesen.“
Harald nickte. „Davon geht es?“
„Das hoffe ich“, sagte Emmy.
Frank räusperte sich. „Für fünfhundert Mark finde ich das ein bisschen wenig. Wie war es denn bisher?“
„Was bisher?“, fragte Emmy zurück.
„Wie oft hat es schon geklappt?“, fragte Frank.
Emmy nickte. „Schon öfter.“
„Öfter? Was heißt denn öfter? Du machst das zum ersten Mal, oder? Harald …“
„Von mir aus können wir anfangen.“

Frank stöhnte. „Wie ihr meint.“ Mit dem „ihr“ erkannte er die neuen Machtverhältnisse an. Es stand zwei gegen ihn. Er reichte Emmy die Hand.
Sie schüttelte den Kopf. „Diesmal bleiben wir zu zweit. Wenn es rauskommt, ist das gefährlich, glaube ich.“
„Du glaubst“, sagte Frank.

Emmy ignorierte ihn, setzte sich Harald gegenüber, schlug die Bibel auf und nahm links und rechts davon Haralds Hände in ihre. Sie wartete, bis Frank mit seinem Stuhl etwas abseits gerückt war.

Harald sollte die Augen schließen. Emmy redete von seiner Schwester, von ihrem Tod, von Liebe und Schuld. Zunächst sprach sie kühl und monoton wie Dagmar Berghoff in den 20-Uhr-Nachrichten. Dann änderte sich ihr Ton. Emmy klagte an. Sagte: „Das alles hast du ausgenutzt.“

Haralds Augen bewegten sich unter den Lidern wie in einem wilden Traum. „Wir haben dich gesehen“, sagte Emmy.

Wir haben dich eine Show machen sehen, dachte Frank. Und es hat uns so gut gefallen, dass wir wiedergekommen sind. So wie ich überlege, mir Rambo 2 noch mal auszuleihen.

Emmy las Verse vor. Sprüche. Psalme. Frank hatte den Unterschied vergessen. Die Konfirmation war zu lange her. Er hatte sich nur die jeweils grobe Richtung gemerkt. Im Neuen Testament ist alles die Gnade des Herrn und die Liebe des Herrn. Im Alten Testament guckst du den Herrn ein Mal schief an und er haut dir Aussatz und Sintflut um die Ohren. So klang das, was Emmy jetzt las.

Sie blickte von der Bibel hoch. „Wir haben dich gesehen“, wiederholte sie.
Harald zog die Hände zurück. Emmy griff fester zu. „Wir sehen dich.“

Haralds Lippen bewegten sich jetzt, als würde er jeden Moment etwas sagen wollen. Emmy las wieder ein Stück. Einen Teil, an den Frank sich tatsächlich fast im Wortlaut erinnerte. Das mit dem ärgerlichen Auge.

„Wir reißen dich jetzt raus“, sagte Emmy.
Harald spuckte ihr ins Gesicht. Frank zuckte zusammen. Weiße Speichelspritzer liefen Emmy über die Wangen. Sie blinzelte kurz. „Wir-“
Harald zog die Hände zurück, heftiger diesmal. Emmy hielt nicht einfach fest. Sie wehrte sich. Über das Stück, das ihre Arme sich in Haralds Richtung bewegt hatten, zog sie sie auch wieder zurück. „Wir reißen dich raus!“

Diesmal schrie sie. Harald schrie zurück. Keine Worte wie Emmy, nur ein Laut wie ein Tier. Ein wütendes Tier. Von Jägern in die Enge getrieben. Frank drückte seinen Rücken gegen die Lehne des Stuhls und krallte seine Finger um den Rand der Sitzfläche.

Harald riss die Augen auf. Es war, als wären die Pupillen selbst über die Iris noch hinausgewachsen. Alles schwarz.
Der Anblick ließ auch Emmy stocken. Ihr Kinn zitterte. „Wir …“ Sie schluckte. „Reißen-“
„Du stinkst“, sagte Harald. „Nach demselben Schnaps wie dein Vater, wenn er sich neben dich gelegt und deinen Rücken gestreichelt hat.“

Harald zog Emmy wieder zu sich, ohne Gegenwehr dieses Mal. Die Entschlossenheit war aus ihrem Blick verschwunden. Frank stand auf. Er legte seine Hände auf die ineinander verkeilten von Harald und Emmy. Harald sah hoch zu ihm mit seinen schwarzen Hai-Augen. Sein Mund stand offen. Eine Fliege kroch durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen und summte davon.

Frank packte fest zu und verschob die Hände wieder in Richtung Emmy.
„Mach weiter“, sagte er.
Sie sah ihn an.
„Mach!“

Emmy nickte und las wieder aus der Bibel. Harald schrie und wehrte sich. Seine Arme wanden sich in Franks Griff wie zwei Pythons. „Ich kann nicht mehr lange!“, rief Frank.

Emmy ließ sich in ihrem Wechsel aus Bibelversen und Beschwörungen nicht mehr irritieren. Schließlich sagte sie einfach nur immer wieder: „Amen!“

Sie sprach es anders, als Frank als gelernt hatte, mit Betonung auf der zweiten Silbe. Der so bekannte und doch so fremd klingende Laut schien Harald jedes Mal wie ein Faustschlag zu treffen. Er riss den Kopf hoch.

Bei dem Anblick zogen sich Franks Eingeweide zusammen. Haralds Gesicht war genau wie das Wort, das Emmy immerzu wiederholte. Frank kannte es, aber nicht so. Die Wangenknochen bewegten sich, der Abstand zwischen Mund und Nase war doppelt so groß wie sonst, und die schwarzen Augen lagen viel zu weit hinten in den Höhlen. Beim nächsten Amen konnte Frank Harald nicht mehr halten. Der Freund wurde zurückgeschleudert mit seinem Stuhl und schlug mit dem Rücken gegen die Wand. Er blieb auf dem Boden sitzen, den Kopf auf der Brust.

Frank wartete darauf, dass Harald aufstand und ihm an die Gurgel ging. Aber als Harald den Kopf hob, war es wieder sein Gesicht. Er blutete aus der Nase. Harald kam auf die Beine. Hätte er getrunken, dachte Frank, so würde er sich nach einer durchzechten Nacht bewegen.

Eine Weile starrten die beiden anderen Harald nur an.
„Ist er weg?“, fragte Emmy schließlich.
Harald wischte sich das Blut von der Nase. Er nickte.
„Fühlt sich an, als hätte jemand das Licht angemacht. In mir drin.“ Er schüttelte den Kopf. „Ist denn was passiert?“
„Ja“, sagte Frank.

Harald ließ den Blick über den Tisch schweifen, über Emmy und Frank und den umgeworfenen Stuhl. „Wie Narkose im Krankenhaus“, sagte er. „Ich weiß nur noch, dass ich mich hingesetzt habe.“
Frank stemmte die Hände in die Hüften. „Und wie geht’s weiter?“
„Ihr geht“, sagte Emmy. „Er ist raus. Ich brauche Ruhe jetzt.“

Das erste Drittel des Weges zurück schwiegen sie. Links und rechts von ihnen erstreckten sich winterlich brachliegende Felder. Krähen pickten darauf herum. Haralds Griff ging an seine Hemdtasche. Er zog eine Zigarette hervor und sah sie an, anstatt sie sich in den Mund zu stecken.

„Ist wirklich alles gut?“, wollte Frank wissen.
Harald steckte die Zigarette zurück in die Packung. Spielte am Schirm seiner Mütze.
„Ich überlege, ob ich aufhöre.“
„Ach Quatsch.“
„Kein Quatsch. Ich versuch’s, glaube ich.“
„Wegen … Deswegen?“

Harald blickte geradeaus ins Leere. Mit seiner Antwort ließ er sich Zeit. „Auch, glaube ich“, sagte er schließlich. „Weiß ich nicht. Glaubst du immer noch, dass alles Blödsinn ist?“
Frank ließ sich ebenfalls Zeit. „Irgendwas war da.“
„Ja,“ bestätigte Harald. „Da war was. Ich hab gesagt, es war wie Narkose, aber weißt du was?“
„Was?“

Harald ließ den Blick über die Felder schweifen. „Bei Narkose ist zwischen Einschlafen und Aufwachen ein Loch. Keine Träume, weder gute noch schlechte. Aber ich war irgendwo.“
Frank nickte nur. Dachte an Haralds Hai-Augen.
„Und wenn da was kommt nach dem Umkippen“, sagte Harald. „Und du gehst irgendwohin, wo sich auch sowas herumtreibt. Wie das Ding, das Emmy aus mir herausgeholt hat.“
„Dibbuk“, sagte Frank.
„Von mir aus. Weißt du, die Leute sagen immer, wenn ich mal tot bin, dann sehe ich ihn wieder und sie. Meinen Vater, meinen Bruder, meinen besten Freund aus der Schule, meine …“

Eine Weile gingen sie schweigend weiter.

„Aber wenn so was da auch wartet“, fuhr Harald schließlich fort. „Dann will ich da so spät wie möglich hin. Und darum rauche ich jetzt nicht mehr. Gibt das Sinn?“
„Ich glaube“, sagte Frank.
„Vielleicht fange ich sogar an mit Sport.“ Harald klopfte sich zweimal auf den Cola-Bauch. „Joggen gehen. Ich könnt sofort anfangen.“
Harald wurde schneller.
„Was soll das werden?“, fragte Frank.
„Ich lauf nach Hause.“
„Bist du bekloppt?“
Harald lief, langsam, sein Bauch hüpfte unter der Jacke auf und ab, seine Toom-Mütze hielt er am Schirm fest.
„Was ist?“, rief er, nach den wenigen Metern bereits hörbar außer Atem. „Hol mich doch ein!“

Frank grinste. Emmy hatte etwas aus Harald herausgeholt, etwas anderes war dafür zurück. Der Junge, der er mal gewesen war, mit der Lebensfreude aus Momenten ohne Bomben. Frank ging schneller und lief dann locker, wie früher beim Aufwärmen im Sportunterricht. Er hatte Harald schnell eingeholt, denn der wurde schon wieder langsamer.

„Was ist jetzt?“, fragte Frank. „Große Fresse und nichts dahinter?“

Harald lachte auf, so weit der kurze Atem ihn ließ. Dann beugte er sich vornüber, die Hände auf den Knien. „Das war glaube ich ein bisschen plötzlich“, sagte er.
„Die bunten Punkte?“, fragte Frank.
Harald nickte. „Und …“ Er griff sich an die Schulter. „Mein Arm tut weh.“
„Vielleicht von eben“, sagte Frank. „Als es rauskam, bist du gegen die Wand geknallt.“
„Kann sein“, sagte Harald. Dann fluchte er, die Stimme schmerzerfüllt.
„Alles okay?“, fragte Frank.

Harald schüttelte den Kopf. „Nichts okay“, sagte er. „Meine Güte, Junge!“ Er fiel auf die Seite, hielt sich immer noch die Schulter. Im Sturz fiel ihm die Mütze vom Kopf und landete im Straßengraben. Frank schrie um Hilfe.

Die kam nicht, dafür war das nächste Haus noch zu weit entfernt gewesen. Niemand hatte ihn gehört. Frank hatte wieder laufen müssen, um das nächste Telefon zu erreichen, im Wohnzimmer eines Rentnerpaares. So waren zwischen Haralds Zusammenbruch und der Ankunft des Krankenwagens gut zwanzig Minuten vergangen. Frank hatte der Ambulanz hinterher gesehen und war an Ort und Stelle stehengeblieben, als wäre er festgewachsen.

Irgendwann hatte er sich auf den Weg nach Hause gemacht und war nach halber Strecke umgedreht. Sie hatte noch im Graben gelegen.

Er hatte Hanni gefragt, was sie davon hielt. Sie waren sich einig gewesen. Ohne seine Mütze würde Harald etwas fehlen. Der Bestatter wollte sie ihm unter unter den Arm klemmen, aber das schien zu wenig. Hanni fehlte die Kraft. Stattdessen verhandelte Frank, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatten. Als der Bestatter den Sarg schloss, saß Haralds Mütze genau da, wo sie hingehörte: Auf seinem Kopf.


Frank trank sein Bier auf den Stufen zur Haustür. Kein frisch gezapftes. Flaschenbier. Es war Anfang Juni. Die Sonne, so stark noch um diese Uhrzeit, versprach einen heißen Sommer. Die Haustür stand offen. Drinnen hörte er Frau und Tochter ums Fernsehprogramm streiten. Das Kind kämpfte einen aussichtslosen Kampf, in einer halben Stunde war es ohnehin Zeit fürs Bett.

Er hatte sich einmal umgedreht, um seinen väterlichen Senf hinzuzugeben. Sein Blick war dabei zur Garderobe auf dem Flur gegangen. Ohne ein Wort hatte er sich wieder zurückgewandt und über den gepflasterten Hof gesehen. Er blickte geradeaus und nahm den letzten Schluck aus seinem Bier.

Wieder drehte er sich um. Frau und Tochter stritten noch immer. Das Leben ging eben weiter. Irgendwann würden sie Rambo III drehen. Und dort an der Garderobe, am Huthaken über seiner eigenen, dünnen Frühjahrsjacke, hing eine Mütze mit Toom-Logo, an deren Schirm schon ein paar Nähte geplatzt waren.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo dear @Proof ,

cool, eine klassische Geschichte mit Retro-Touch und einigen Twists, wo ich dachte, ich könnte jetzt genau absehen, wie es weitergeht. Hab das sehr gerne gelesen und finde auch, du lässt dir die nötige Zeit, hetzt das nicht durch, und andererseits ist sie aber nicht zu ausgebreitet.

Ein paar Anmerkungen, vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen. :)

Ich finde, die vielen grundlosen Absätze und teils Doppelabsätze stören den Lesefluss stark - Absicht oder beim Reinkopieren gekommen?

Harald gab Frank das Bier über die Theke. Frank prostete ihm zu, als wäre das alles, was er von seinem Samstagabend wollte: hier drüben ein Bier mit dem Nachbarn, der selbst kein Bier trank.
Ich hab mich beim Text die ganze Zeit gefragt, ob es günstiger wäre, etwas stärker bei einer der beiden Hauptfiguren zu bleiben - also anstelle dieses imA recht ausbalancierten Fokus'. Denn es gibt ja auch noch quasi als dritte Stimme den auktorialen Erzähler, der sich entscheidet, welche Figur er grad betrachtet.

Besonders im Einstieg würde ich aber raten, nicht gleich Pingpong zu spielen: A reicht B ein Bier, B machte ne Geste zu A zurück, dann ein "er", dass ich an dieser Stelle nicht zuordnen kann, und dann noch "drüben ein Nachbar", der auch was macht ...
Vllt. kann Frank ja mit dem Bier dem Kneipenwirt Harald zuprosten, vllt. das mit den Nachbarn erstmal raus?

Frank stellte das Bier auf dem Deckel ab. Das Lotto-Logo war darauf gedruckt. Manchmal teilte er sich eine Schein mit Harald.
Das sind Details, die ich nicht als Atmo sehe, sondern als zu kleinteilig und irrelevant - da ich momentan noch in jedem Wort nach Info suche, um was es geht, was wichtig ist usw.

Harald steckte sich eine an und hielt Frank die Zigaretten hin. Frank winkte ab. „Ich versuche jetzt noch mal, aufzuhören.“
Zeilenumbruch vor Frank.

Frank stutzte. Kein Hinweis auf Raucher, die neunzig wurden, während andere ihr Auto mit neunzehn um den Baum wickelten? Ungewöhnlich. Egal. Er wollte nach Hause. Zwang sich, langsam zu trinken. Schließlich ließ er die Bombe platzen.
Hier lässt du den auktorialen Erzähler sich quasi zur Figur rüberlehnen und dessen Sprache annehmen - dabei ist ganz klar, dass das die Figur denkt. So finde ich das sehr gut und fließend, unauffällig und doch klar. Später brichst du damit, lässt den aukt. Erzähler ankündigen, "Hey, Vorsicht, Stimme / Haltung der Figur", wenn du dann Gedanken teils ankündigst und auch kursiv setzt. Eigentlich ist beides in einem Text ein Fehler - ich würde für diese fließende Form wie in diesem Abschnitt plädieren. Dann tritt der aukt. Erzähler als dritte 'Meinung' auch nicht so deutlich hervor.

Gut? Frank sah Harald an, Harald fixierte den Turm gestapelter Sommerstühle in der Ecke des Partykellers.
Ich bin kein Freund von Pingpong, schon gar nicht bei Blicken und dann noch ein kurzer Gedanke, finde ich hier etwas holprig.

„Ist alles in Ordnung?“ Es fühlte sich falsch an, mit einem fast dreißig Jahre älteren Mann zu reden wie mit seiner siebenjährigen Tochter, wenn sie herumdruckste.
Den Gedanken (hier wieder sehr schön ohne 'er dachte', sondern direkt in den Kopf geswitcht) mag ich sehr, ab der Hälfte wünschte ich mir etwas Straffung zur Klarheit. Vllt. sowas wie: wie mit (s)einer herumdrucksenden Siebenjährigen. Gleiches Bild, schneller zu erfassen.

Als Guido und Emma von gegenüber ihren zehnten Hochzeitstag feierten, hatte er sie zum Anzug getragen. Die Mütze legte er neben die Colaflasche. Seine Finger fuhren durch das lichter werdende Haar.
... gefeiert hatten, hatte er ...
eigentlich. Ich bin kurz ins Schleudern gekommen, was wann passiert, ob das mit dem Legen noch während der Feier war, ist aber mein Fehler (dort sind ja die Zeitformen korrekt).

Frank sah auf. Harald hätte ihm auch die Cola ins Gesicht kippen könnten. Selbe Wirkung. Mir und allen anderen, dachte er.
Finde ich arg flapsig, so ganz klar ist mir nicht, was genau das show don't tell tellen soll (auch wenn du es nochmal ausbuchstabierst, aber eine kurze Ansage, jemand ist erstaunt / geschockt ... hätte ich besser gefunden. Ist auch wieder Pingpong, finde, das bremst unnötig aus.

Wenn die Schwester nachts musste, stand Harald mit auf, weil sie Angst hatte allein im dunklen Treppenhaus. Eine verhängnisvolle Abzweigung war das gewesen, der Gedanke an die Schwester.
Ah, das ist quasi der erste Streckenpunkt, das finde ich sehr gut, einfach so klar gesagt. Ich nehme an (bin dann später aber unsicher geworden), das hängt mit dem "ich hab dich gesehen" zusammen.

Frank nickte. Hast du erzählt. Haralds Augen blieben trocken, Gott sei Dank. Bei der Feier hatten sie geschimmert.
Halte ich für überflüssig.

„Hatte ich auch schon mal auf den Steinen liegen, das Zeug“, bestätigte Frank. „Sieht immer blöd aus dann.“
Das auch - weil alles davor alles so toll gemacht ist, und dann hier ist redundant und nachgetreten, wurde bereits deutlich genug gesagt.

„Ich meine“, sagte Frank, „morgen guckst du meinen Rambo und dann träumst du vielleicht, dass du mit so einem Riesenmesser durch den Wald läufst. Man hat das dann im Kopf und wenn man schläft, geht es da oben irgendwie weiter, ist doch normal.“
„Ich hab den Rasen gemäht“, sagte Harald. „Da bin ich meist wach bei.“
Lieblingsstelle 1. Lustig und bissl fies, weil plötzlich die Harmonie zwischen den beiden dezent aufbricht.

„Hast du Schiss allein?“, fragte Frank.
Harald trommelte auf dem Mützenschirm herum. „Hättest du keinen?“
„Ich glaub das alles nicht, was man über sie erzählt.“
„Dann komm einfach mit, weil ich es bin.“ Ein Transporter mit dem Logo einer Bäckerei darauf überholte sie.
„Was nimmt Emmy eigentlich für so eine …“ Frank trat aufs Gas.
„Sitzung?“, fragte Harald.
„Nennt man das so?“
„Zweihundert hört man immer. Die würde ich einstecken. Heißt das, du kommst mit?“
Das mit dem Auto halte ich für entbehrlich. Ist wie mit dem Lotto-Logo, dass ich erst denke, das hat jetzt was zu sagen und dann bedeutet es einfach null.

Das mit dem Käppi finde ich an sich sehr schön, ich sehe da meine Oma, die am Schürzenrand rumknibbelt, den rollt, das sind so kleine Übersprungsgesten. Vllt aber mal gucken, ob das Käppi nicht doch etwas überstrapazierst, weil zumindest ich schnell denke 'Na, gleich greift er wieder an den Mützenschirm'. Was dann meine Nähe zur Figur zwischendurch unterbricht.

Frank pfiff ein zweifelndes „Pf“ durch Unterlippe und Schneidezähne.
Finde ich sehr unständlich ausgedrückt, also ich lese wesentlich länger als der Pfiff dauerte - vllt. nur durch die Zähne (oder so, ohne den Laut und die genaue Beschreibung)? Das klingt auch so, als müsstet du Unwissenden erklären, wie Pfeifen funktioniert.

Harald klopfte wieder, stärker diesmal. An vielen Stellen blätterte die grüne Farbe ab vom Holz des Tores und der Tür. „Hallo?“
Einen Moment dachte ich, er haut so dagegen, dass die Farbe blättert - vllt. die vor dem ersten Klopfen erwähnen?

„Vielleicht ist sie nicht da.“ Ein bisschen hoffte Frank es. Wenn sie nun jemand sah. Ließen sich von Emmy den Kaffeesatz lesen wie zwei Waschweiber.
Hier auch wieder fließend, kurz mit dem Kopf der Figur gedacht, gefällt mir besser als das Kursive woanders. Ist ja auch ganz klar gemacht, dass dies nicht der aukt. Erzähler ist.

„Wir wollen …“ Harald knetete seine Finger. „Meine Schwester will irgendwas von mir“, sagte er schließlich, als hätte er einen Anruf von ihr verpasst. „Ist im Krieg gestorben.“
Fand ich extrem gut mit dem Telefonvergleich. Auch wenn das mit dem Krieg irgendwo hier hin muss, fand ich es bissl schade, dass es hier gleich mit ne Erklärung weitergeht, weil es imA zu schnell aus der Stimmung geht, das kann nicht nachklingen.

Toom-Mütze
Muss das echt sein? Ich weiß z.B. auf Anhieb nicht genau, was das war, dann fällt mir vage ein, dass wohl ein Baumarkt, dann sagt das nix Wichtiges über die Figur. Mir geht es so, dass ich dann vollkommen weg von der Figur bin, weil ich überlegen muss, weil ich dann nicht mehr die Szene vor Augen habe, sondern Parkplätze, Kassen, Reklameschilder und Regale irgendwo und dann davon aus nur schwer in den Text zurückfinde - und anders als Settingsbeschreibungen, wo das angenehm ist, mal bissl was außerhalb der Figuren zu sehen (das hast du ja in diesem Text sehr sparsam eingesetzt), liefert mir das keinen Zugewinn.

„Das heißt so, oder?“, sagte Harald. „Das habe ich zuerst gedacht, ja. Aber ich bin gesund.“
„Na und?“
„Es sieht nicht so aus, als würde ich bald sterben.“
„Vielleicht gehst du gleich über die Hauptstraße und wirst von einem Bus überfahren.“
„Ich gucke eigentlich immer links und rechts.“
Lieblinsgsstelle 2. Weil das auch so eine Dynamik ist wie bei der anderen oben, so ein Hauch Uneinigkeit, der einfach Spannung reinbringt und aber Harald - obwohl ich meist dachte, der Fokus läge eher auf Frank - sofort als super sympathisch rauskommen lässt.

Emmy stand auf und zog mit staubigen alten Vorhängen die Fenster zu. Sie verschwand aus dem Raum, kam mit Streichhölzern zurück und zündete die Kerze auf dem Tisch an. „Fragen wir sie.“ Sie sollten sich die Hände reichen.
„Ich bin nur mitgekommen“, sagte Frank.
Lass sie das doch direkt sagen, als Anweisung. Sonst ein ungünstiger Bruch, weil der Erzähler hier auf irre Distanz geht (durchs indirekte Wiedergeben).
Das 'mitgekommen' gefällt mir irre gut, kleines Foreshadowing, mag ich total.

Langsam stieg der Druck von Emmys Hand.
Der Druck steigt in einem Kessel, der Druck einer Hand verstärkt sich. ;)

Frank sprang von seinem Stuhl auf und riss dabei seine Hände aus denen von Harald und Emmy.
Gaaaah, und man soll ja den Zirkel nicht brechen, schön, so ne heftige Bewegung. Würd ich nicht zerreden, klar 'dabei', wann sonst und wenn du am Ende reißt die Hände los nimmst, ist es genauso klar und deutlicher / abrupter.

Frank sprang von seinem Stuhl auf und riss dabei seine Hände aus denen von Harald und Emmy. Emmys Fingernägel zerkratzten seinen Handrücken. „Was soll der Mist!“ Er hielt seine zerkratzte Hand.
Zeilenwechsel vor "Was soll ...
Bissl viele WWs - vielleicht: ... und hielt sich die Schramme (oder so)? Klar mit der einen hand auf die andere Hand, klar von ihren Nägeln.

Das morsche Mauerwerk, von dem Stücke zu Boden rieselten, war noch solide genug gewesen, um ihm beim Aufprall die Luft aus den Lungen zu schlagen.
Das finde ich an der falschen Stelle Setting-beschrieben, hier besser knapper Action, die Wand solide und so lieber an anderer Stelle (sehe ich wie mit der grünen Farbe beim Klopfen).

„Was mischt du Kröte dich ein?“, zischte Emmy.
:lol::D:lol: Lieblingsstelle 3! Das kam echt unerwartet.

„Hey!“ Emmys Kopf fuhr herum zu ihm. Sie ließ Frank los. Aber anstatt sich auf Harald zu stürzen, sackte sie in sich zusammen.
Wer sagt "Hey!"? Kein Zeilenumbruch, daher müsste es Emmy sein, passt aber weder zu ihrem Duktus noch zu ihrer Trancehaltung.

„Dibbuk“, wiederholte Emmy. „Die Juden nennen ihn so. Andere nennen es anders.“
Bei die Juden hatte Frank kurz gezuckt. Was kam denn jetzt?
Das dachte ich auch, fürchte aber, ich stehe klein bissl auf dem Schlauch. Ich hatte gedacht, das Problem wär das 'auf die Toilette begleiten', aber das hat hiermit ja nix zu tun. Aber er ist zu jung, um irgendeine genozidale Schuld auf sich geladen zu haben.

Haralds Hand ging zur Zigarettenschachtel in seiner Hemdtasche. „Kann ich nichts mit anfangen.“
„Hier drin wird nicht geraucht“, sagte Emmy.
:lol::lol: Lieblingsstelle 4. Das ist so super, weil da eine gemeine, vollkommen unausgesprochene Bedrohung mitschwingt - im Grunde weist sie ihn, der grad selbstbewusst-abschätzig sein wollte, auch locker zurecht. So geil gemacht.

Emmy sah ihn an. „Irgendwann kannst du nicht mehr. Du wechselst die Seiten und der Dibbuk sucht sich einen neuen Wirt.“
„Ich wechsele die Seiten?“
Emmy strich sich mit dem Zeigefinger über den Hals.
„Und wenn wir das jetzt glauben“, sagte Frank, „was machen wir dann?“
Emmy blickte zu Frank. „Ihr seid Freunde, oder?“
„Kann man so sagen.“
„Dann solltest du es glauben. Freunde helfen. Du störst ihn. Er mag das nicht.“
„Wie werde ich ihn los?“ fragte Harald.
Auch ne ganz tolle Szene, vor allem wie alles in diesen letzten beiden Zeilen bissl fragmentiert, sehr schöne Dynamik, nicht zerredet.

„Wie viel willst du dafür?“, fragte Harald.
Frank drehte das Bierglas auf der Theke ein paar Mal um die eigene Achse. „Fünfhundert Mark“, seufzte er. „Ich kann nicht fassen, dass du ihr fünfhundert Mark für den Scheiß gibst.“
Das wäre imA knapper schöner, nur die Info der Höhe, nicht so arg viel hin und her, weil das nicht die einzige Stelle ist und das tritt auf der Stelle.

Harald nickte. „Davon geht es?“
„Das hoffe ich“, sagte Emmy.
Frank räusperte sich. „Für fünfhundert Mark finde ich das ein bisschen wenig. Wie war es denn bisher?“
„Was bisher?“, fragte Emmy zurück.
„Wie oft hat es schon geklappt?“, fragte Frank.
Emmy nickte. „Schon öfter.“
„Öfter? Was heißt denn öfter? Du machst das zum ersten Mal, oder? Harald …“
„Von mir aus können wir anfangen.“
:sconf: Uuuuuh, fies! Diese Wendungen und leichten Sprünge, wenn das das Thema gewechselt / ausgewichen wird, das find ich im gesamten Text die riesen Stärke.

Frank stöhnte. „Wie ihr meint.“ Mit dem „ihr“ erkannte er die neuen Machtverhältnisse an.
Ja, das wäre aber ohne so vorgekaut / nacherklärt besser, und klar genug.

Emmy klagte an. Sagte: „Das alles hast du ausgenutzt.“ Haralds Augen bewegten sich unter den Lidern wie in einem wilden Traum. „Wir haben dich gesehen“, sagte Emmy. Wir haben dich eine Show machen sehen, dachte Frank. Und es hat uns so gut gefallen, dass wir wiedergekommen sind. So wie ich überlege, mir Rambo 2 noch mal auszuleihen.
Klagte XY an, muss das meine ich grammatikalisch.
Zeilenumbruch vor 'Haralds Augen' (falls das nicht durchs rauszitieren kam). Das mit der Show hab ich ganz ehrlich gesagt null kapiert. Soll das das Schauspielen des "Mediums" sein? Finde das sehr zerhackstückt und wäre hier lieber nicht gleich aus dem Emmy-Harald Austausch gekickt worden. Was grad mit Rambo und Frank war, ist mir hier grad egal.

Sie blickte von der Bibel hoch. „Wir haben dich gesehen“, wiederholte sie.
Harald zog die Hände zurück. Emmy griff fester zu. „Wir sehen dich.“
Ziemlich fies - bin nicht sicher, ob ich genau schnalle, auf was sie sich bezieht, weil das mit der Schwester ja in der Vergangenheit war und ich erst dachte, er solle auch die Jahre nach ihrem Tod beobachtet worden sein - aber jetzt sieht sie ihn ja quasi durch physische Augen, warum also das betonen, was er wissen sollte? Ich hab uU was nicht mitgeschnitten, hust.

Irgendwann hatte er sich auf den Weg nach Hause gemacht und war nach halber Strecke umgedreht. Sie hatte noch im Graben gelegen.
Das war so'n WTF? Moment, weil ich dachte, ich hätte was überlesen, jemand von den Rettungskräften sei überfahren worden oder was los ist. Hier wäre 'Kappe' gut.

Er hatte sich einmal umgedreht, um seinen väterlichen Senf hinzuzugeben. Sein Blick war dabei zur Garderobe auf dem Flur gegangen. Ohne ein Wort hatte er sich wieder zurückgewandt und über den gepflasterten Hof gesehen. Er blickte geradeaus und nahm den letzten Schluck aus seinem Bier. Wieder drehte er sich um. Frau und Tochter stritten noch immer. Das Leben ging eben weiter.
Blick gegangen? :susp: Gut, man sagt wandern, aber generell mag ich aktive Blicke gar nicht.
Ich finde das hier recht langatmig und künstlich gedribbelt, es ist hier ja klar, dass da was hängt (ich hatte sogar mit dem Kleid gerechnet, ist also noch mal für mich ein kleiner Twist, aber dass es etwas Paranormales ist, wird viel zu deutlich und viel zu sehr in Kameraschwenks gezeigt (diese Art Kamera nervt mich auch total im Film).
Würde diese Szene gesamt kicken und ih nur einmal gucken lassen.

Sorry, hoffe es hört sich nicht nach zu viel Genöle an, ich hab es sehr gern gelesen, Emmy ist eine tolle Figur, Harald auch, und schön gemachter Schluss mit dem Laufen und was folgt, erzählerisch nicht den geraden, einfachen Weg genommen. Bin mal gespannt, was ich mit dem "zur Toilette begleiten" / "wir sehen dich" / jüdischen Dibbuk verpeilt hab.

Ganz herzliche Grüße und dir einen schönen Sonntag,
Katla

 

Hallo @Proof -- eine spannende Geschichte, die du konstruiert hast, gut geschrieben und diesbezüglich makellos. Jedenfalls mir ist nicht viel aufgefallen. Die Story ist bekannt, gewinnt aber durch die Wendung, dass es gar nicht um die Schwester geht. Nach dieser Offenlegung allerdings, wenn der echte Grusel startet, hätte ich mehr Tempo erwartet. Und dann sollte es auch schnell ans Eingemachte gehen; es sind also mE Längen drin (auch vorher schon) und ich meine, das Ding gewinnt, wenn du straffst.

Im Einzelnen:

Harald gab Frank das Bier über die Theke. Frank prostete ihm zu, als wäre
Der prostete ...
drüben ein Bier mit dem Nachbarn, der selbst kein Bier trank
keins ...
eine Schein
ein ...
Die Schwester geht verloren auf dem Weg, irgendwann sieht Harald ihr blaues Kleid mit den Gänseblümchen darauf nicht mehr.

du reingucken wie in Puppenhäuser, die stehen da, als hätte sie jemand in der Mitte durchgeschnitten, und da ist ein Stück Zaun, das steckt noch in der Erde, da hatte jemand Kartoffeln gepflanzt mitten in der Stadt, wurde ja auch immer knapper mit dem Essen.
Der erste Teil ist cool, sehr gutes Bild, den Nachsatz würd ich streichen, weil klar und vom Bild wieder wegführt. Das denkt man sich außerdem oder weiß man.

Frank nickte. Hast du erzählt.
Gut! Super gezeigt, das Desinteresse.

„Also ja“, sagte Harald, „ich kann kurz nicht so gut sehen. Aber, Junge, was da im Baum hängt, ich schwöre es dir, das ist keine Folie. Es ist das Kleid. Blau mit Gänseblümchen.“
Die Gänseblümchen sind mir um ein Deut zu viel Kleinkindsüß-Schema. Klar kann das sein, aber vielleicht sind da auch einfach nur gelbe Punkte drauf.

Präsent“, wiederholte Harald. „Präsent habe ich das an jedem Tag in jeder Woche. Jeden Monat in jedem Jahr. Seit dreiundvierzig.“
Übertrieben. Selbst bei einem Trauma gibt es Pausen, nach so langer Zeit, bis es wieder getriggert wird.
„Ich kippe um demnächst.“ Harald hob die zwei Schachteln auf der Theke kurz an. „Die Qualmerei. Und die Cola vielleicht noch dazu. Koffein geht ja auch auf die Pumpe. Das Kleid ist wie ein Ortsschild. Noch zehn Kilometer.“
Das ist natürlich schon sehr religiös. So wirkt er nicht; dennoch kaufe ich das noch, so ein Kleid kann beeindrucken.
Frank stöhnte auf. „Harald, das bildest du dir nur ein.
Dann wäre es Halluzinieren, also psychotisch.
„Hast du Schiss allein?“, fragte Frank.
Harald trommelte auf dem Mützenschirm herum. „Hättest du keinen?“
„Ich glaub das alles nicht, was man über sie erzählt.“
„Dann komm einfach mit, weil ich es bin.“ Ein Transporter mit dem Logo einer Bäckerei darauf überholte sie.
„Was nimmt Emmy eigentlich für so eine …“ Frank trat aufs Gas.
„Sitzung?“, fragte Harald.
„Nennt man das so?“
„Zweihundert hört man immer. Die würde ich einstecken. Heißt das, du kommst mit?“ Frank pfiff ein zweifelndes „Pf“ durch Unterlippe und Schneidezähne. „Ich glaube immer noch, dass du das Geld lieber anzünden solltest. Hättest du bei der Kälte auch mehr von. Aber danach versuchen wir was, das ich vorschlage.“
Das dauert jetzt alles zu lang. Rate dir, das einzudampfen. Dieses Gefeilsche um das Geld. Ich dachte beim Lesen: Macht mal hinne!

Ilse. Jetzt erst fiel Frank auf, dass sie für ihn bisher nur Haralds Schwester gewesen war.
Gut.
Frank weigerte sich, von ihr als Ilse zu denken.
Bissl sperrig, wenngleich klar.
.. 'sie als Ilse zu sehen' .. ?

„Ich denke jeden Tag an dich.“
„Nein, tust du nicht.“
Jetzt zieht die Story an. Vielleicht bissl spät. Könntest auch weiter oben schon schauen, ob mehr rauskann und du schneller an die Stelle kommst, meine ich .

„Es ist ein Dibbuk, denke ich. Eigentlich bin ich mir recht sicher. “
Okay, die Wendung. Eine feine Idee, sehr gut. Spannung steigt.

„Deine Traurigkeit zieht es an“, erklärte Emmy. „Wie eine tote Katze die Krähen anzieht. Es lebt von deinen Schuldgefühlen.“
Haralds Augen weiteten sich. „Meine Schuld?“
„Ich weiß“, sagte Emmy. „Ich hab gesagt Schuldgefühle. Dein Kopf weiß, dass du nicht schuld bist. Aber Bauch und Herz sagen was anderes. Und gegen das Herz allein hat der Kopf schon keine Chance. Irgendwann …“
Ja, aber jetzt will ich den Dibbuk in Aktion sehen und nicht vorher schon alles aufgeklärt bekommen ... Das beseitigt alle Unklarheiten und nimmt so der Story das Rätsel; das würde ich entweder ganz wegmachen und diese Schuld-im-Kopf-Sache die Figuren rausfinden lassen (und den Leser) oder wenigstens viel später einbauen. Hier machts wumms und die Spannung sinkt.

„Du vergibst dir selbst“, sagte Emmy. „Das macht dich uninteressant. Geschmacklos. Das ist der erste Weg, aber der ist fast unmöglich zu schaffen
Tut mir leid, aber das Gleiche. Die Lösungen werden vorgestellt, nicht erarbeitet. Dann könnte er auch zu einem Trauma-Therapeuten gehen, nicht zur Exorzistin. (Es ist übrigens zu schaffen, mit einem gut ausgebildeten Psychologen, das ist nicht fast unmöglich, sondern möglich; zumal das hier kein ultrahartes Trauma ist).

„Dass du anfängst, an Sachen zu glauben, bei denen du früher gesagt hättest, hier.“ Harald ließ die Hand vor seinem Gesicht pendeln. „Ab fünfzig gehen ja auch wieder mehr Leute in die Kirche. Spätestens ab sechzig.“
„Kann sein“, sagte Frank. „Aber fünfhundert Mark sind immer noch eine Menge Geld.“
„Hanni und ich haben keine Kinder. Ob ich’s nun dafür ausgebe oder wieder für teures Werkzeug raushaue, das ich kaum benutze.“
„Das teure Werkzeug kannst du verleihen“, sagte Frank. „An mich zum Beispiel. Das Geld hier ist einfach futsch. Wie ein Zaubertrick. Das macht sie ja da oben in ihrer Abbruchhütte. Eben sind die Scheine noch da, jetzt sind sie weg. Abrakadabra.“
Wieder viel zu lang und ein Tempo-Killer. Wir wollen jetzt den Kibbuk haben und keine Diskussionen über finanzielle Planung :)

Bei dem Anblick zogen sich Franks Eingeweide zusammen. Haralds Gesicht war genau wie das Wort, das Emmy immerzu wiederholte. Frank kannte es, aber nicht so. Die Wangenknochen bewegten sich, der Abstand zwischen Mund und Nase war doppelt so groß wie sonst, und die schwarzen Augen lagen viel zu weit hinten in den Höhlen. Beim nächsten Amen konnte Frank Harald nicht mehr halten. Der Freund wurde zurückgeschleudert mit seinem Stuhl und schlug mit dem Rücken gegen die Wand. Er blieb auf dem Boden sitzen, den Kopf auf der Brust.
Endlich! Der Horror startet. Gut geschrieben, es geht los.

Harald lachte auf, so weit der kurze Atem ihn ließ. Dann beugte er sich vornüber, die Hände auf den Knien. „Das war glaube ich ein bisschen plötzlich“, sagte er.
„Die bunten Punkte?“, fragte Frank.
Harald nickte. „Und …“ Er griff sich an die Schulter. „Mein Arm tut weh.“
„Vielleicht von eben“, sagte Frank. „Als es rauskam, bist du gegen die Wand geknallt.“
„Kann sein“, sagte Harald. Dann fluchte er, die Stimme schmerzerfüllt.
„Alles okay?“, fragte Frank.
Ab hier ist natürlich das Ende zu antizipieren ... dennoch gut beschrieben.
Als der Bestatter den Sarg schloss, saß Haralds Mütze genau da, wo sie hingehörte: Auf seinem Kopf.
Das wäre auch ein guter Schlusssatz. Geht natürlich nicht, wegen der Pointe (die gut ist).

Frank trank sein Bier auf den Stufen zur Haustür. Kein frisch gezapftes. Flaschenbier. Die Sonne, so stark noch um diese Uhrzeit, versprach einen heißen Sommer. Die Haustür stand offen. Drinnen hörte er Frau und Tochter ums Fernsehprogramm streiten. Das Kind kämpfte einen aussichtslosen Kampf, in einer halben Stunde war es ohnehin Zeit fürs Bett. Er hatte sich einmal umgedreht, um seinen väterlichen Senf hinzuzugeben. Sein Blick war dabei zur Garderobe auf dem Flur gegangen. Ohne ein Wort hatte er sich wieder zurückgewandt und über den gepflasterten Hof gesehen. Er blickte geradeaus und nahm den letzten Schluck aus seinem Bier. Wieder drehte er sich um. Frau und Tochter stritten noch immer. Das Leben ging eben weiter. Irgendwann würden sie Rambo III drehen. Und dort an der Garderobe, am Huthaken über seiner eigenen, dünnen Frühjahrsjacke, hing eine Mütze mit Toom-Logo, an deren Schirm schon ein paar Nähte geplatzt waren.
Das ist wieder zu lang. Die Spannung ist ja scheinbar vorbei. Ich würde es eindampfen und schneller zum Clou kommen, als Epilog:

Frank trank sein Bier auf den Stufen zur Haustür. Es war Anfang Juni. Drinnen hörte er Frau und Tochter ums Fernsehprogramm streiten. Das Leben ging eben weiter. Irgendwann würden sie Rambo III drehen. Und dort an der Garderobe, am Huthaken über seiner eigenen, dünnen Frühjahrsjacke, hing eine Mütze mit Toom-Logo, an deren Schirm schon ein paar Nähte geplatzt waren.


Hoffe, du kannst was damit machen, gutes Gelingen!

Gruß von Flac

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin @Proof

Da ist sie ja, die nächste Instanz proofschen Horrors :-) Das mit dem Dibbuk ist eine spannende Sache, ich hatte davor mal von dem gehört oder etwas gelesen, aber war mir jetzt nicht wirklich ein Begriff, ich wusste nicht genau, was es damit auf sich hat, von daher: Spannend! Gut gefällt mir auch die Dynamik zwischen Harald und Frank, die beiden werden schon lebendig, zumindest so, dass es für die Story ausreicht (mehr Background geht ja eigentlich fast immer, aber ich finde, da hast Du eine gute Balance getroffen). Auch gut ist Emmy, dieses alte Wahrsagerin (oder sagt man dazu Medium?), die Harald mit Frank zusammen aufsucht, aber gegen Schluss geht mir alles fast etwas zu schnell. Also erstens die Austreibung -- so nenne ich das jetzt einfach mal -- die finde ich recht intensiv geschildert, aber auch ziemlich kurz, der Kampf gegen ihn, den Dibbuk, kostet zwar Energie, aber er lässt sich dann doch relativ einfach vertreiben. Etwas von seinem Potential verschenkt der Text für mich auch bei der Perspektive der Austreibung: Rein von aussen, aus Franks Sicht. Spannender fände ich die inneren Vorgänge bei Harald in diesem Moment mitzuerleben, aber dafür müsste der Text wohl allgemein viel stärker aus seiner Perspektive geschrieben werden, sonst gestaltet sich das schwierig.

Dann hätte ich mir etwas mehr zu dem Dibbuk an sich gewünscht, da gibt es ja eigentlich nur die Begegnung mit ihm bzw. die 'Austreibung'. Harald kauft dessen Existenz ja sehr schnell, akzeptiert das einfach, wäre es da aber nicht naheliegender dass er vor dem finalen Ereignis Recherche anstellt, sich genauestens darüber informieren will, was ihn da genau heimsucht (und vielleicht sogar über die Praktiken der Vetreibung dieses Dämons)? Es würde sich auch gut anbieten, dass er seine Erkenntnisse dann in einem Gespräch mit Frank (und mit dem Leser) teilt. Natürlich hast Du dann das Problem, dass das dem weiteren Verlauf der Geschichte etwas vorwegnimmt, aber ich fand das nicht so ganz logisch, dass er Emmy sofort blind vertraut und sich praktisch keine eigenen Gedanken über diesen Dibbuk macht. Das der Dibbuk an sich nicht beschrieben wird, also vom Aussehen her, finde ich wiederum gut, denn es ist immer spannender, das 'Monster' im Dunkeln zu lassen bzw. der Fantasie des Lesers zu überlassen. Die schnörkellose, straight-forward Erzählweise hat mir auch gut gefallen. Ausnahmen siehe unten.

Insgesamt hat es mir soweit gefallen und ich habe die Geschichte gerne gelesen, wie man hier so schön sagt. Trotzdem könnte man noch feilen. Ich mache deshalb im Folgenden noch etwas Textarbeit, wie so immer ist vieles reine Geschmackssache, vielleicht ist dennoch etwas für Dich dabei. Ist teilweise etwas kleinteilig, aber der Teufel liegt ja oft in den Details :-)

Eigentlich ließ er die Woche gern in Haralds Partykeller ausklingen, aber Rambo 2 war seit einer Woche auf Video draußen, und nachdem die Kassetten am Samstag zuvor alle weg gewesen waren, hatte er diesmal in der Videothek vorbestellt.
Das finde ich gut als Einstieg, weil sogleich eine zeitliche Verortung stattfindet, mit Rambo 2 und den Videokassetten, 80er-Jahre. Das ist gut gemacht, finde ich (und die 80's sowieso eine coole Zeit waren, ich hab sie leider nicht wirklich erlebt).

Manchmal teilte er sich eine Schein mit Harald.
einen Schein

Es musste so seine vierte Schachtel heute sein.
Auch das: Er ist sehr starker Raucher und das Thema mit dem Rauchen zieht sich ja durch die Geschichte. Finde ich gut. Auch wenn vier Schachteln am Tag schon eine heftige Nummer sind (ich rauch ca. eine am Tag, mein Grossvater rauchte zwei und das fand ich schon derb).

Er nahm seine Mütze mit dem Toom-Logo ab.
Hier hatte ich Mühe mit der Toom-Mütze. Also natürlich nicht mit der Kopfbedeckung an sich, sondern eher mit dieser Marke, Toom. Ich kannte die nicht und habe erstmal gegoogelt. Scheint ein Baumarkt zu sein, ich habe aufgrund des Englisch klingenden Namens das aber sofort falsch verortet. Das würde ich mir überlegen. Ausser dieser Toom-Markt ist irgendwie landesweit bekannt und nur ich stehe auf dem Schlauch? Jedenfalls passt es dann doch gut mit dem Baumarkt zu Haralds Charakter, er kauft sich ja ständig Werkzeug, dass er nicht braucht. Trotzdem: Vielleicht gibt es eine bekanntere Kette oder ich würde mir auch überlegen, es ganz zu streichen (nur das Toom, nicht die Mütze). Das mit der An-die-Mütze-Greifen kommt für mich jedoch auch einen Ticken zu oft in der Story vor, ich würde es an der ein oder anderen Stelle reduzieren und ihn was anderes machen lassen, weil es sich doch ein wenig abgenutzt hat und der Geste so etwas zwanghaftes anlastet, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob es intendiert ist.

irgendwann sieht Harald ihr blaues Kleid mit den Gänseblümchen darauf nicht mehr
und als wir dran vorbeigehen, sehe ich die weißen Punkte und es sind keine Punkte, es sind Gänseblümchen
@FlicFlac hat ja auch schon was zu den Gänseblümchen geschrieben, ich würde das ähnlich sehen, er nennt es 'Kleinkindsüß-Schema', ja, da gehe ich mit, habe es auch so wahrgenommen, vielleicht sogar ein wenig klischiert, jedenfalls ist es mir aufgefallen. Für mich könnte das Kleid auch einfach blau sein bspw. ohne Muster, man wüsste auch so, was Sache ist, was passiert ist, das mit den Gänseblümchen verstärkt ja die Wirkung nicht und auf mich wirkt es ein wenig so wie ein verniedlichendes Detail, dass irgendwo fehl am Platz scheint, aber vielleicht bin das nur ich.

„Im Sommer mähe ich“, sagte er. „Der Korb ist voll. Ich stelle den Mäher auf Pause und er rattert leise weiter. Ich bücke mich, um den Korb abzunehmen. Vor mir links, so zehn Meter weit weg, ist mein Apfelbaum. Und da sehe ich aus dem Augenwinkel was dran hängen. Ich denke, es ist ein Plastikfetzen, von dieser Folie, in der sie drüben bei den Höfen immer die großen Strohballen einwickeln. Dass sie einen ausgewickelt und die Folie dabei zerrissen haben und dann packt der Wind hinter und jetzt habe ich es im Baum hängen.
„Hatte ich auch schon mal auf den Steinen liegen, das Zeug“, bestätigte Frank. „Sieht immer blöd aus dann.“
Da würde ich den Dialog etwas kürzen. Die Erklärung von Harald braucht es nicht, Frank weiss doch auch so, von was der redet, denke ich. Franks Reaktion liest sich dann für mich etwas gestelzt, unnatürlich, fände es besser, wenn er da vielleicht nur knapp antwortet.

„Ich musste es einfach mal erzählen. Hanni fragt schon immer, was ist, aber du kennst sie. Wenn ich es ihr sage, kann ich auch ein Schild an die Straße stellen, wo es draufsteht.“
Finde ich auch gut, dass mit dem Schild an die Strasse stellen zeigt schön, dass Hanni eine Plaudertasche ist.

Frank weitete die Augen: Siehst du?
Das ist mir im ganzen Text immer mal wieder aufgefallen: Eine Reaktion eines Charakters und dann wird gleich noch direkt der Gedanke dahinter mitgeliefert. Wieso das? Ich würde Frank hier nur die Augen weiten lassen, der Leser kann sich doch selbst etwas denken. Auf mich wirken solche Stellen wie 'geistige Anker' des Autors, also das da die Überlegung hinter einer Aktion oder Reaktion steht, so als geistige Notiz, und das wirkt dann, als wären diese Anker beim Veröffentlichen irrtümlicherweise stehengeblieben. Dieses 'Vorkauen', was ich genau bei einer Reaktion zu sehen und wie ich diese einzuordnen habe, fand ich entbehrlich, würde da einfach dem Leser vertrauen.

„Nein.“ Zwei Züge an der Lux. „Ich hab’s noch zwei Mal gesehen.“
Harald sieht dann das ganze, intakte Kleid, vorher war es aber nur ein Fetzen. Ich würde das eventuell vereinheitlichen, denn sonst frage ich mich, wieso das Kleid jetzt wieder ganz geworden ist. Ich fände es auch eindringlicher, wenn nur ein Fetzen davon am Zaun weht oder so, die Schwester ist ja tot und bleibt es auch, ich jedenfalls habe nicht recht verstanden, wieso er das Kleid in seiner 'ursprünglichen Form' sieht.

„Nicht jetzt schon.“ Harald nickte. „Das habe ich damals auch gedacht, wenn die Flieger kamen. Irgendwann erwischen sie mich. Oder einen von uns. Aber nicht jetzt schon.“ Er nahm einen Zug und pustete blauen Rauch aus, der in feinen Schwaden zur Decke stieg. „Irgendwann ist das dann da, jetzt schon.“
Da hinkt der Vergleich ein wenig, denke ich. Ich merke das an, weil es ja um die Bomber geht, die ihre Angriffe geflogen und tonnenweise Sprengstoff auf die Stadt abgeworfen haben, aber das 'jetzt schon' ist doch nie eingetroffen, Harald hat den Krieg im Gegensatz zu seiner Schwester überlebt. Aber klar, es ist die Aussage eines Charakters, nicht des Erzählers, da passt sowas vielleicht.

Der Rauch seiner Zigarette schlug dadurch Wellen.
Liest sich für mich seltsam. Ich weiss, was Du meinst, aber 'Wellenschlagen' in Verbindung mit Rauch kriege ich dann doch nicht recht zusammen, es wirkt nicht ganz präzise formuliert.

Meine Lunge ist schwarz wie ein Bärenarsch bei Nacht, da brauche ich keinen Arzt für.
Markige Bemerkung, das mit dem Bärenarsch, gefällt mir!

Kalte Februarluft kam mit ihm ins Auto. Sie roch nach Rauch.
Würde ich etwas umstellen, um es runder zu machen: Februarluft kam mit ihm ins Auto. Sie roch nach kaltem Rauch. Grund: Dass es im Februar kalt ist, dürfte bekannt sein. Kalter Rauch fände ich auch besser, weil es für mich diesen charakteristischen Rauchgeruch darstellen würde, den man riecht, wenn z.B. jemand auf Arbeit kurz eine Rauchen geht und dann zurückkommt, dass riecht dann für mich eben nach 'kaltem Rauch', das riecht man selbst dann noch, wenn man selbst Raucher ist. Fände es hier passend.

„Harald, das bildest du dir nur ein. Hast du dem Arzt das mit dem Kleid erzählt?
Könnte man etwas kürzen: „Hast du's dem Arzt erzählt?“ Es ist klar, dass damit das Kleid gemeint ist.

Harald tippte sich an die Schläfe. „So einen meinst du?“
Ehrlich gesagt ja. „Das muss doch keiner mitkriegen.“
Hier wieder, was ich schon weiter oben angemerkt habe mit diesen notizartigen Einsprengseln. In dem, was er antwortet, steckt das doch schon drin. Ich würde es streichen.

„Meine Schwester fragen, was sie will.“
Frank atmete tief durch.
„Ich weiß“, sagte Harald. Frank hielt an einer roten Ampel. „Harald, Emmy ist nur ein armes Schwein. Einsam und … hundertzwanzig Jahre alt? Ich weiß gar nicht, wovon die lebt.“
Wenn jemand weg ist und du hast du noch Fragen, gehst du zu ihr“, sagte Harald. „Das ist eine ganz normale Dienstleistung.“
Ich nehme stark an, Frank hat zuvor von Emmys Dienstleistungen gehört, weil er atmet hier tief durch, dass suggeriert für mich: Oh Mann, soweit ist es jetzt schon, dass du sowas in Betracht ziehst? Die Information, die Harald folglich gibt, ist für Frank eher redundant und wirkt deshalb zu stark an den Leser gerichtet. Ich würde versuchen, dass organischer ins Gespräch zu bringen, so dass es vielleicht gar nicht so direkt benannt werden muss und der Leser das von selbst peilt.

Im linken Flügel des Tores eingelassen war eine Tür für menschliche Bewohner.
Würde das 'eingelassen' streichen, weil es für mich den Satz etwas holprig macht (es scheint mir auch sonst überflüssig).

„Vielleicht ist sie nicht da.“ Ein bisschen hoffte Frank es. Wenn sie nun jemand sah. Ließen sich von Emmy den Kaffeesatz lesen wie zwei Waschweiber.
Hier verstehe ich nicht so recht, wieso Frank denkt, es könnte sie jemand beobachten. Das Haus ist abgelegen, am Rand des Gebirges, da dürften (gerade im Februar = nicht viele Wanderer, die Kühe sind wohl noch im Tal und nicht auf der Alp) nicht viele Leute unterwegs sein, eigentlich sind sie vielleicht sogar die Einzigen, die sich da oben bewegen.

Feiner Modergeruch ging von ihr aus.
Könnte auch gestrichen werden, ohne was zu verlieren.

Die vier Stühle am Tisch stammten aus mindestens zwei unterschiedlichen Dekaden. Die Tapete war an einigen Stellen zerrissen. Emmy setzte sich auf einen der Stühle.
Hier finde ich die Beschreibungen zu sprunghaft: Stühle -> Wand (Tapete) -> Stühle. Das mit der Tapete würde ich andernorts einflechten (vorher, als sie den Raum betreten).

Die Stühle machten Geräusche wie der Fußboden.
:thumbsup:

Emmy stand auf und zog mit staubigen alten Vorhängen die Fenster zu.
Liest sich für mich etwas schief. Ist klar, was gemeint ist, aber dennoch ... Vielleicht was in die Richtung: Emmy stand auf und zog die staubigen Vorhänge zu. Da ist eigentlich alles enthalten, was ich brauche, um Bild zu bekommen.

Harald hatte sich nach einem Lungenzug fast übergeben müssen, Ilse hatte nur gepafft.

Ilse. Jetzt erst fiel Frank auf, dass sie für ihn bisher nur Haralds Schwester gewesen war.

Hier stockte ich, weil ich überlegte: Moment mal, wer ist Ilse? Ich würde den Namen der Schwester vielleicht schon vorher mal bringen, weil der erste Teil des Textes ist näher an Harald geschrieben, finde ich, da würde sich das doch gut anbieten, der Teil hier lese ich dann so, als wäre der Erzähler näher bei Frank. Und ich finde es auch etwas ungünstig, dass es mir hier als Leser gleich wie Frank ergeht, also das Ilse bisher nur Haralds Schwester gewesen war, weil es mich irgendwie zu stark in Franks Perspektive drängt, aber ich wäre hier lieber bei Harald, der ja diese Anekdote erzählt. Macht das Sinn? :D

Irgendwo im Haus erklang ein Geräusch, das Frank an kleine Pfoten erinnerte. Eine Ratte oder ein Frettchen vielleicht. Zu klein und zu flink für eine Katze.
Braucht es das? Später wird das nicht mehr aufgegriffen (oder ich hab's verpasst).

Langsam stieg der Druck von Emmys Hand.
Langsam verstärkte sich der Druck von Emmys Hand, denke ich, wäre runder.

Sie wandte den Kopf von links nach rechts, von oben unten.
[...] von oben nach unten.

Was für ein Theater. Sie hatte das gut einstudiert. Selbst das Auge schielte plötzlich nicht mehr.
Auch hier wieder, diese Kommentare. Ich kann damit nicht viel anfangen.

„Aber, Ilse …“, stammelte Harald.
„Aber, Ilse.“ Emmys Mädchenstimme klang kurz tiefer. Sie äffte Harald nach.
Was soll das denn?
Muss das auformuliert werden, dass sie ihn nachäfft? Ich hätte es auch so geschnallt. Die zweite Streichung würde wieder dasselbe wie im vorherigen Zitat betreffen.

„Ich hab deinen Namen geschrien und mein schönes Kleid vollgepisst“, sagte Emmy. „Die erste Bombe fiel und sie war so stark. Sie drückte mich gegen ein Haus. Es knackte ganz laut. In mir drin.
Letzten Satz streichen, ich lese ihn als zu erklärend, ich verstehe auch so, dass das Knacken der brechenden Knochen gemeint ist (der Text bezieht sich später in einer Klammer noch einmal darauf, aber auch die Klammer könnte einfach gestrichen werden).

Frank sprang von seinem Stuhl auf und riss dabei seine Hände aus denen von Harald und Emmy.
[...] und riss dabei seine Hände los. Es bleibt auch so klar, woraus er seine Hände losreisst (aus dem Griff von Harald und Emmy).

Emmy stand auf, griff Frank beim Pullover, warf ihn gegen die Wand[KOMMA] hielt ihn dort.
„Ich mache das oft genug“, sagte sie. „Und schon sehr lange. Das war anders.“ Sie leckte ihre Fingerkuppen an und drückte die Flamme aus. „Es ist ein Dibbuk, denke ich. Eigentlich bin ich mir recht sicher. “
Ich bin mir ein wenig unsicher, ob hier dieser beläufige Ton von Emmy so gut passt. Immerhin war das Erlebnis auch für sie recht intensiv. Ich würde sie auch etwas überzeugter auftreten lassen: Das war ein Dibbuk, da bin ich mir sicher! Emmy hat ja viel Erfahrung in ihrem 'Business' und ich denke, sie ist schlau genug, Haralds Geld zu wittern, also möchte sie bestimmt nicht als unsichere Anfängerin vor den beiden dastehen. Denke ich zu weit? Ich hätte mir das auch noch ein wenig ausführlicher gewünscht, warum sie sich so sicher ist (danach kommt das mit den Schuldgefühlen, aber reicht das aus, ist das alles?).

„Dann solltest du es glauben. Freunde helfen. Du störst ihn. Er mag das nicht.
Fand ich sehr belehrend von ihr und nicht ganz zu ihrem Charakter passend (klingt nach alter Schrulle im Klassenzimmer).

Emmy zog die Augenbrauen hoch: Das liegt doch wohl auf der Hand. „Wir treiben ihn aus.“
Kommentar streichen ...

Harald hob die Hand. „Ich mache es. Ich habe das Ding an mir hängen, ich kann entscheiden, was ich machen will. Aber was heißt gefährlich? Wie gefährlich?“
Ich finde, er kauft die Sache mit dem Dibbuk doch extrem schnell (hat er nicht tausend Fragen dazu?), wusste er vorher doch auch nichts oder nicht viel von diesem Dämon. Und wie in der Einleitung bereits geschrieben: Ich hätte gedacht, er sucht jetzt nach mehr Informationen zu dem Dibbuk, bevor er sich direkt zu der Austreibung dieses Dämons entscheidet.

Frank drehte das Bierglas auf der Theke ein paar Mal um die eigene Achse.
Finde ich ein bisschen übertrieben. Lass ihn doch einfach einmal das Glas um seine Achse drehen.

Doch. „So viel wiege ich nicht.“
Was sucht dieses 'Doch' hier? Ist das wieder einer dieser Kommentare?

In dieser Nacht träumte Frank von der Theke, aber auf der anderen Seite saß nicht Harald, sondern Emmy. Sie rauchte.
„Wo ist Harald?“, fragte Frank. „Du hast gesagt, kein Rauchen hier drin.“
Das habe ich nicht recht verstanden. Wieso sagt er hier 'Du hast gesagt, kein Rauchen', sie befinden sich in diesem Traum ja nicht in Emmys Haus, sondern an einer Theke, die ich nicht mit ihrem Wohnzimmer in Verbindung bringe. Ja, Traumlogik, aber es ist mir dennoch aufgefallen.

Sie nahm Franks leeres Glas. Aus dem Zapfhahn floss stotternd und spuckend ein dickes Sekret.
„Wir müssen los“, sagte Frank. Er wollte das Zeug aus dem Hahn auf keinen Fall trinken.
Hier fehlt mir etwas an Info bzw. ich verstehe nicht, was die Stelle dem Text bringen soll. Wenn jetzt während des Rituals mit diesem Dibbuk eine (üble) Flüssigkeit irgendeine Rolle spielen würde, ja, dann könnte ich da die Verbindung ziehen, aber so wirkt das losgelöst, ohne Relevanz.

Auf dem Tisch standen diesmal gleich mehrere Kerzen, und auf die Platte hatte sie mit Kreide Symbole gemalt. Frank fand, es sah aus wie die Schallplattenhülle einer Heavy-Metal-Band.
Vielleicht: Frank erinnerte es an die Schallplattenhülle einer Heavy-Metal-Band. So wäre auch ein Komma eingespart.

Frank stöhnte. „Wie ihr meint.“ Mit dem „ihr“ erkannte er die neuen Machtverhältnisse an. Es stand zwei gegen ihn. Er reichte Emmy die Hand.
Erklärung für den Leser streichen.

Über das Stück, das ihre Arme sich in Haralds Richtung bewegt hatten, zog sie sie auch wieder zurück.
Das ist mir zu verworren formuliert, das hakelt und ich kriege keinerlei Bild. Ausser ich lese es langsam und bedacht, aber das ist tödlich an der Stelle, weil da die Action im Vordergrund steht und mich sowas dann hart raushaut.

Keine Worte wie Emmy, nur ein Laut wie ein Tier. Ein wütendes Tier. Von Jägern in die Enge getrieben.
Der Vergleich mit dem Tier ... mmmh, ist für mich schon etwas abgenutzt. Ausserdem: Reagiert ein von Jägern in die Enge getriebenes Tier wütend? Ich weiss nicht, ist es nicht eher eine ängstliche, panische Reaktion? Wahrscheinlich sehe ich das aber viel zu eng ;-)

Es war, als wären die Pupillen selbst über die Iris noch hinausgewachsen. Alles schwarz.
Füllwörteralarm.

„Du stinkst“, sagte Harald. „Nach demselben Schnaps wie dein Vater, wenn er sich neben dich gelegt und deinen Rücken gestreichelt hat.“
Das finde ich beinahe etwas drüber, also was Emmys Vater da gemacht hat (den Missbrauch, so lese ich die Stelle), es lenkt auch etwas vom Wesentlichen ab, weil es ein weiteres Fass aufmacht (und dann einfach stehen lässt), ich weiss nicht, ob's das wirklich braucht. Die Bösartigkeit des Dibbuks kommt doch auch so gut durch. Ich fand das mit dem Vater wie gesagt etwas übertrieben an der Stelle, dass Emmy nach Schnaps stinkt wie er würde für mich ausreichen.

Harald sah hoch zu ihm mit seinen schwarzen Hai-Augen. Sein Mund stand offen. Eine Fliege kroch durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen und summte davon.
Das mit den Augen finde ich gut, aber die Fliege zwischen den Zähnen, das ist so ein Detail, das irgendwie drangeklebt wirkt, nur um den Ekel- bzw. Horrorfaktor zu erhöhen. Das Detail hat keine Relevanz, keine direkte Verbindung mit den Geschehnissen (oder ich verstehe eben doch was nicht/zu wenig von der Erscheinung des Dibbuks), finde ich. Das würde ich mir überlegen zu streichen.

Seine Arme wanden sich in Franks Griff wie zwei Pythons. „Ich kann nicht mehr lange!“, rief Frank.
Okay, ich hätte nicht erwartet, dass er soviel Kraft aufwendet, weil zuvor hat er seine Hände auf die verschränkten Hände von Harald und Emmy gelegt. Das hat mich hier etwas überrascht und kurz irritiert, Frank hält die beiden also sozusagen zusammen. Ich würde mir überlegen, dass vorher genauer zu schildern.

„Wie Narkose im Krankenhaus“, sagte er. „Ich weiß nur noch, dass ich mich hingesetzt habe.“
Frank stemmte die Hände in die Hüften. „Und wie geht’s weiter?“
Dass Frank hier die Hände in die Hüften stemmt, das liest sich vorwurfsvoll, ungeduldig, es könnte auch sowas wie Überraschung ausdrücken, aber steht er denn nicht erstmal unter sowas wie Schock? Die Austreibung des Dibbuks ist gerade eben erst erfolgt und er ist sogleich wieder gefasst ... Nein, das kaufe ich dem Text und der Figur (vor allem, weil er sich vorher so kritisch über Haralds Zustand und Emmy und das Ritual geäussert hat) nicht ab.

„Wegen … Deswegen?“ Harald blickte geradeaus ins Leere. Mit seiner Antwort ließ er sich Zeit. „Auch, glaube ich“, sagte er schließlich. „Weiß ich nicht. Glaubst du immer noch, dass alles Blödsinn ist?“
Das ist soweit gut gemacht, dass er das hier nicht so genau benennen kann, aber eigentlich hängt ja alles mit der Erfahrung der Bessessenheit durch diesen Dibbuk zusammen, Harald hat nur deshalb oder durch ihn erfahren, was u.a. auf der anderen Seite wartet. Aber er kann das eben noch nicht richtig greifen in diesem Moment. Deshalb will er auch Sport machen und mit dem Rauchen aufhören, um sich möglichst lange 'vor dem Tod zu drücken'. Was ihm jedoch -- wie wir später wissen -- dann leider nur schlecht gelingt :D

„Von mir aus. Weißt du, die Leute sagen immer, wenn ich mal tot bin, dann sehe ich ihn wieder und sie. Meinen Vater, meinen Bruder, meinen besten Freund aus der Schule, meine …“
Das liest sich etwas seltsam. Haben die Leute ihm das wirklich so gesagt? Das ist schon recht düster von den Leuten, wenn Du mich fragst :D Vielleicht hilft es, die Aussage allgemeiner zu halten. „Von mir aus. Weißt du, man sagt doch immer, wenn man mal tot ist, dann sieht man sie wieder. Den Vater, den Bruder, den besten Freund aus der Schule, die …“

Die kam nicht, dafür war das nächste Haus noch zu weit entfernt gewesen. Niemand hatte ihn gehört. Frank hatte wieder laufen müssen, um das nächste Telefon zu erreichen, im Wohnzimmer eines Rentnerpaares.
Hier springst Du in der Zeit und diese Sätze sind als eine Art Rückblende geschrieben. Hat mich etwas irritiert, wieso bleibst Du da nicht dichter dran?

So waren zwischen Haralds Zusammenbruch und der Ankunft des Krankenwagens gut zwanzig Minuten vergangen.
Die zwanzig Minuten finde ich immer noch recht kurz bzw. speditiv, er musste erst noch zu diesem Haus laufen, um telefonieren zu können und ausserdem lese ich es auch so, als wäre die Gegend immer noch recht abgelegen. Da finde ich 20 Minuten durchaus beachtenswert, aber ich kenne mich mit den Reaktionszeiten von Rettungskräften auch nicht aus.

Sein Blick war dabei zur Garderobe auf dem Flur gegangen.
Ein 'gehender Blick' liest sich ungelenk für mich, würde ich anders formulieren.

Und dort an der Garderobe, am Huthaken über seiner eigenen, dünnen Frühjahrsjacke, hing eine Mütze mit Toom-Logo, an deren Schirm schon ein paar Nähte geplatzt waren.
Sehr schönes, klassisch anmutendes Horror-Ende, der Dibbuk ist nicht besiegt, er haftet jetzt an Frank. Fand ich toll, weil ich es ehrlich gesagt nicht vorausgesehen habe, obwohl ich doch auch finden würde, das es eigentlich für Texte im Horrorgenre naheliegend ist.

Das soweit von mir.

Beste Grüsse,
d-m

 

Hallo @Katla,

einigen Twists, wo ich dachte, ich könnte jetzt genau absehen, wie es weitergeht.
Das freut mich schon mal. Hatte insbesondere in der zweiten Hälfte das Gefühl, dass ich mich schon ganz schön in Klischees oder Altbekanntem suhle, was ich ja öfter mal mache und dann versuche, das Eigene über Figuren oder leichte Abweichungen vom bekannten Pfad herauszukitzeln. Ich habe ihn vor über zehn Jahren mal gesehen, aber ich glaube, so als Beispiel, diese Entwicklung „Bei der Seance kommt dann raus, es ist gar kein Geist, sondern ein Dämon“, das ist Insidious, meine ich. Ist mir aber auch erst hinterher wieder eingefallen, als ich schon so weit war, dass ich gesagt habe Ja, gut, dann ist es aus Insidious, ist schon ein paar Tage her der Film und außerdem hat den ja vielleicht nicht jeder gesehen.

Ich finde, die vielen grundlosen Absätze und teils Doppelabsätze stören den Lesefluss stark - Absicht oder beim Reinkopieren gekommen?
Absicht tatsächlich. Ich wollte den Text an Online-Schreib- und Lesegewohnheiten anpassen, mit diesen Blöcken, die durch einen Absatz getrennt sind. Routiniert lesende Leute kann das dann wahrscheinlich eher nerven, dachte an breites Publikum. Ich bin so semi-glücklich damit, wie zerschossen das jetzt aussieht, vielleicht finde ich ja noch einen Mittelweg.

Ich hab mich beim Text die ganze Zeit gefragt, ob es günstiger wäre, etwas stärker bei einer der beiden Hauptfiguren zu bleiben - also anstelle dieses imA recht ausbalancierten Fokus'.
Das ist interessant, in meinem Kopf ist die Geschichte klar aus Franks Sicht erzählt. Dass gleich am Anfang Harald handelt und man dadurch möglicherweise schnell seine Perspektive einnimmt, war mir gar nicht bewusst. Hatte mehr so diese „Wenn’s geht immer aktiv“-Regel vor Augen. Werde den Text darauf beizeiten noch mal abklopfen.

Das sind Details, die ich nicht als Atmo sehe, sondern als zu kleinteilig und irrelevant - da ich momentan noch in jedem Wort nach Info suche, um was es geht, was wichtig ist usw.
Klingt logisch, kommt in den Hinterkopf.

Hier lässt du den auktorialen Erzähler sich quasi zur Figur rüberlehnen und dessen Sprache annehmen - dabei ist ganz klar, dass das die Figur denkt. So finde ich das sehr gut und fließend, unauffällig und doch klar. Später brichst du damit, lässt den aukt. Erzähler ankündigen, "Hey, Vorsicht, Stimme / Haltung der Figur", wenn du dann Gedanken teils ankündigst und auch kursiv setzt.
Hui, jetzt geht’s ans Eingemachte, vielen Dank für den Hinweis!

Ich bin kein Freund von Pingpong, schon gar nicht bei Blicken
Manchmal habe ich das Gefühl, zwischen den Dialogzeilen muss jetzt einfach was passieren, für den Fluss, dass das nicht klingt wie „Frank: / Harald: / Frank: / Harald:“. Also gucken die Leute irgendwo hin, kratzen sich an der Nase oder stecken sich eine Zigarette an. Wohl auch so eine Sache, die ich mal in den Griff kriegen muss.

Den Gedanken (hier wieder sehr schön ohne 'er dachte', sondern direkt in den Kopf geswitcht) mag ich sehr
Guter Hinweis wieder, mit dem Beispiel weiß ich jetzt genau, was du meinst.

Ich bin kurz ins Schleudern gekommen,
Ich glaube, ich wollte „hatten, hatte“ vermeiden. Dann einfach im Präteritum schreiben ist wohl nicht die dollste Lösung, jo.

Ist auch wieder Pingpong, finde, das bremst unnötig aus.
Wegen „Harald hätte“? Da hätte ich jetzt gesagt, Sicht ist doch klar, Frank bekäme die Cola ins Gesicht.

das hängt mit dem "ich hab dich gesehen"
Nein, das kam tatsächlich nur zustande, weil ich einfach irgendwas brauchte, das nach Exorzismus klingt und das man aber nicht schon tausendfach gehört hat. Da ist ja die Gefahr, sich auf den Bart zu legen, weil der Moment so was Episches hat, geradezu biblisch Gut gegen Böse, und wenn die Leute dann Mist reden, ei, das ist peinlich. Hab’s mir nicht leicht gemacht mit dem, was Emmy während der Austreibung so von sich gibt.

Halte ich für überflüssig.
Ich wollte so ein bisschen Männerfreundschaft, tiefes Empfinden, aber das gerade auszusprechen geht natürlich nicht, geschweige denn weinen. Dann auch noch in dem Alter in den Achtzigern. Wenn das Rambo wüsste.

Das auch - weil alles davor alles so toll gemacht ist, und dann hier ist redundant und nachgetreten, wurde bereits deutlich genug gesagt.
Ich halte es für ein recht natürliches Gespräch, aber gut, was das Vorangehen der Geschichte anbelangt, ist hier kurz die Pause-Taste gedrückt, das stimmt schon.

Das mit dem Auto halte ich für entbehrlich. Ist wie mit dem Lotto-Logo,
Tatsächlich kann ich’s hier sofort nachvollziehen, ich meine, an der Stelle hätte ich beim Schreiben oder Überarbeiten auch kurz überlegt.

'Na, gleich greift er wieder an den Mützenschirm'.
So formuliert klingt das fast wie was Gutes, weil dir die Figur nahe ist. Aber du meinst es wohl eher darauf bezogen, dass die ständige Erwähnung bisschen nervt. Die Mütze kam erst recht spät dazu, als ich mir Gedanken über das Ende gemacht habe. Ich wollte halt diesen Effekt „Die Mütze! Natürlich, jetzt sehe ich’s auch!“ Also sollte sie, möglichst unbemerkt, eine wichtige Rolle spielen. Möglicherweise habe ich’s übertrieben.

Das klingt auch so, als müsstet du Unwissenden erklären, wie Pfeifen funktioniert.
Vor allem weiß ich gar nicht mehr, warum ich „pfiff“ geschrieben habe, ich meinte „stieß Luft durch die Zähne“.

weil es imA zu schnell aus der Stimmung geht, das kann nicht nachklingen.
Guter Hinweis!

dann fällt mir vage ein, dass wohl ein Baumarkt,
Dass Harald gern bastelt und viel Geld im Baumarkt lässt, sollte ursprünglich eine größere Rolle spielen. Geblieben ist eigentlich nur der Hinweis, dass Frank sich öfter mal was von ihm ausleiht. Aber irgendwie scheint mir ein Baumarkt immer noch am besten zu passen. Die Mütze, auch wegen ihrer tragenden Rolle, braucht ein bisschen „Persönlichkeit“, bei einfach nur Mütze, finde ich, würde was fehlen.

Lass sie das doch direkt sagen, als Anweisung. Sonst ein ungünstiger Bruch, weil der Erzähler hier auf irre Distanz geht (durchs indirekte Wiedergeben).
Das 'mitgekommen' gefällt mir irre gut, kleines Foreshadowing, mag ich total.
Cool, danke. Da habe ich mir gar nix bei gedacht, sollte nur wie etwas klingen, das Frank in dem Moment sagen würde. Das andere war auch wieder so ein Versuch, nicht zu viel Dialog ohne Unterbrechung zu präsentieren. Könnte hier die falsche Stelle dafür gewesen sein.

Kein Zeilenumbruch, daher müsste es Emmy sein, passt aber weder zu ihrem Duktus noch zu ihrer Trancehaltung.
Aus dem Lameng weiß ich es tatsächlich gerade selbst nicht mehr, die vielen nachträglich eingearbeiteten Umbrüche könnten der Stelle zum Verhängnis geworden sein.

Aber er ist zu jung, um irgendeine genozidale Schuld auf sich geladen zu haben.
Ich auch, aber wenn jemand sagt „die Juden“ zucke ich auf jeden Fall erst mal zusammen und bin dann eher bemüht, das Gespräch zu beenden. Die allermeisten nach ’45 Geborenen glaube ich. Also, ich hoffe mal, dass das auch so bleibt, kann man ja leider nicht sicher sein aktuell.

Ja, das wäre aber ohne so vorgekaut / nacherklärt besser, und klar genug.
Danke!

Das mit der Show hab ich ganz ehrlich gesagt null kapiert. Soll das das Schauspielen des "Mediums" sein?
Jo. Mit Franks Verhalten habe ich viel gehadert. Das alles für Quatsch zu halten, ist ja eine Reaktion, in der die meisten sich wahrscheinlich wiederfinden. Dann muss irgendwann der Punkt kommen, an dem er diese unglaublichen Sachen doch alle glaubt, damit es weitergeht. Was führt zu diesem Umschwung? Und ist das glaubhaft? Klassisches Problem in Horrorgeschichten.

bin nicht sicher, ob ich genau schnalle, auf was sie sich bezieht,
Auf den Dibbuk. s.o.

Hier wäre 'Kappe' gut.
Personalpronomen finde ich eigentlich auch oft schwierig bei leblosen Dingen, hier schien es irgendwie zu passen, weil die Mütze wirklich im Satz unmittelbar … davor … oh, nee, tut sie nicht, hast Recht.

Gut, man sagt wandern, aber generell mag ich aktive Blicke gar nicht.
Ja, guter Punkt.

ich hatte sogar mit dem Kleid gerechnet, ist also noch mal für mich ein kleiner Twist,
Cool, dass das funktioniert hat. Ich hatte wie gesagt gedacht, das mit der Mütze könnte zu dick sein, aber gleichzeitig gehofft: Vielleicht ja nur im Nachhinein. Mit „Wir sehen dich“ hast du nichts verpeilt. Es soll einfach nur ausdrücken: Jetzt haben wir dich am Schlafittchen, du Honigkuchen! Also quasi als Teil der Austreibung, der Dibbuk kann ja am besten arbeiten, solange keiner weiß, dass er am Werke ist.

Vielen Dank für die vielen Hinweise und die ausführliche Besprechung, kommt echt einiges von auf die Überarbeitungsliste!


Wird fortgesetzt!

 

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