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- 01.09.2005
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Das Kleid
Harald gab Frank das Bier über die Theke. Frank prostete ihm zu, als wäre das alles, was er von seinem Samstagabend wollte: hier drüben ein Bier mit dem Nachbarn, der selbst kein Bier trank. Eigentlich ließ er die Woche gern in Haralds Partykeller ausklingen, aber Rambo 2 war seit einer Woche auf Video draußen, und nachdem die Kassetten am Samstag zuvor alle weg gewesen waren, hatte er diesmal in der Videothek vorbestellt.
Frank stellte das Bier auf dem Deckel ab. Das Lotto-Logo war darauf gedruckt. Manchmal teilte er sich eine Schein mit Harald. „Heute aber wirklich nur das eine.“ Frank zeigte zur Wand. Dahinter lag sein Zuhause. Frau und Kind warteten auf ihn. Und Rambo. „Sonst krieg ich Ärger.“
Harald drückte die Lux im Aschenbecher aus und wickelte ein neues Päckchen aus der Folie. Früher Abend, 19 Uhr. Es musste so seine vierte Schachtel heute sein.
Harald steckte sich eine an und hielt Frank die Zigaretten hin. Frank winkte ab. „Ich versuche jetzt noch mal, aufzuhören.“
„Warum?“
Frank nahm einen Schluck Bier. „Weil es nicht gesund ist auf Dauer.“
Harald nickte und goss sich Cola nach. Die Brause zischte. „Das stimmt.“
Frank stutzte. Kein Hinweis auf Raucher, die neunzig wurden, während andere ihr Auto mit neunzehn um den Baum wickelten? Ungewöhnlich. Egal. Er wollte nach Hause. Zwang sich, langsam zu trinken. Schließlich ließ er die Bombe platzen.
„Ich habe den neuen Rambo drüben.“
Harald zog an seiner Zigarette und nickte.
„Muss Montag zurück in die Videothek. Wenn du willst, leihe ich ihn dir morgen aus.“
Harald nickte wieder. „Ja, den würde ich gern sehen. Der erste war gut.“
Gut? Frank sah Harald an, Harald fixierte den Turm gestapelter Sommerstühle in der Ecke des Partykellers. Frank wusste, Harald liebte Western, Eastwood und Bronson, aber er ging auch mit der Zeit. Er hatte den ersten Rambo wahrscheinlich öfter auf Video gesehen als manch 16-Jähriger. Und jetzt war er nur gut?
„Ist alles in Ordnung?“ Es fühlte sich falsch an, mit einem fast dreißig Jahre älteren Mann zu reden wie mit seiner siebenjährigen Tochter, wenn sie herumdruckste. Harald drückte die Zigarette aus, goss Cola nach und steckte eine neue an. Er nahm seine Mütze mit dem Toom-Logo ab. Das tat er nicht oft. Als Guido und Emma von gegenüber ihren zehnten Hochzeitstag feierten, hatte er sie zum Anzug getragen. Die Mütze legte er neben die Colaflasche. Seine Finger fuhren durch das lichter werdende Haar.
„Ich habe dir doch schon mal erzählt, wie meine Schwester gestorben ist.“
Frank sah auf. Harald hätte ihm auch die Cola ins Gesicht kippen könnten. Selbe Wirkung. Mir und allen anderen, dachte er. Beim Nachbarschaftsfest. Es ist spät, alle Kinder im Bett, Harald erzählt von früher. Wohnen in der Altstadt, Waschen im Badehaus, Toilette im Treppenhaus. Spülen mit Eimer Wasser. Kannst du dir heute gar nicht mehr vorstellen. Was für Zeiten, da wird gelacht. Wenn die Schwester nachts musste, stand Harald mit auf, weil sie Angst hatte allein im dunklen Treppenhaus. Eine verhängnisvolle Abzweigung war das gewesen, der Gedanke an die Schwester.
Es ist 1943 und die Tommys werfen Bomben, als wollten sie nie wieder was anderes machen. Alle laufen zum Bunker unter dem Kühlhaus. Stolpern und schreien. Wenn einer fällt, treten die anderen auf ihn drauf. Die Schwester geht verloren auf dem Weg, irgendwann sieht Harald ihr blaues Kleid mit den Gänseblümchen darauf nicht mehr. Im Keller drückt die Mutter ihn so fest an sich, dass er Angst hat zu ersticken. Nach einer gefühlten Ewigkeit rummst und zittert nichts mehr. Sie kommen wieder raus und es riecht, sagt Harald, als wenn wir heute unten in der Wiese den Gartenmüll und das Laub verbrennen, wenn du da ganz nah ran gehst, wenn es wirklich schon so weh tut in der Nase, dass du denkst sie blutet gleich, so riecht es, und du kannst nicht einfach einen Schritt zurück machen wie in der Wiese, weil alles so riecht, alles. In ein paar Häuser kannst du reingucken wie in Puppenhäuser, die stehen da, als hätte sie jemand in der Mitte durchgeschnitten, und da ist ein Stück Zaun, das steckt noch in der Erde, da hatte jemand Kartoffeln gepflanzt mitten in der Stadt, wurde ja auch immer knapper mit dem Essen. Jedenfalls, an diesem Zaun hängt was Blaues mit weißen Punkten, bewegt sich ein bisschen im Wind, und als wir dran vorbeigehen, sehe ich die weißen Punkte und es sind keine Punkte, es sind Gänseblümchen.
Keiner sagt was, ein paar Münder stehen offen, Harald steckt sich eine neue Zigarette an. Guido fummelt an seinen Hosentaschen rum, als wäre ihm gerade was eingefallen, was er dringend überprüfen muss, ob er das eingesteckt hat. Weil keiner was sagt, hören alle Tony Marshall aus den Boxen an der Decke singen. Schöne Maid, hojaja und so weiter. Vielleicht ist es schon morgen viel zu spät.
Frank nickte. Hast du erzählt. Haralds Augen blieben trocken, Gott sei Dank. Bei der Feier hatten sie geschimmert.
„Im Sommer habe ich Rasen gemäht“, sagte Harald.
„Okay.“ Frank nickte, überrumpelt vom Themenwechsel.
„Junge.“ Harald sah ihn lange an. „Du kannst doch eine Sache für dich behalten, oder? Ich habe keine Lust, dass Guido oder irgendwer das hört. Einer von den Quatschköpfen in der Straße.“
„Was hört?“
„Du behältst es für dich?“
„Klar.“
Harald machte noch drei Züge, dann begann er seinen Bericht. „Im Sommer mähe ich“, sagte er. „Der Korb ist voll. Ich stelle den Mäher auf Pause und er rattert leise weiter. Ich bücke mich, um den Korb abzunehmen. Vor mir links, so zehn Meter weit weg, ist mein Apfelbaum. Und da sehe ich aus dem Augenwinkel was dran hängen. Ich denke, es ist ein Plastikfetzen, von dieser Folie, in der sie drüben bei den Höfen immer die großen Strohballen einwickeln. Dass sie einen ausgewickelt und die Folie dabei zerrissen haben und dann packt der Wind hinter und jetzt habe ich es im Baum hängen.“
„Hatte ich auch schon mal auf den Steinen liegen, das Zeug“, bestätigte Frank. „Sieht immer blöd aus dann.“
Harald nahm einen tiefen Zug. „Also komme ich hoch und erstmal sticht’s im Rücken, das passiert in meinem Alter. Außerdem werden die bunten Punkte vor den Augen mehr, das ist der Kreislauf, das ist auch das Alter.“
Frank sah zu den zwei Packungen Lux. Harald hatte die volle auf die leere gelegt.
„Also ja“, sagte Harald, „ich kann kurz nicht so gut sehen. Aber, Junge, was da im Baum hängt, ich schwöre es dir, das ist keine Folie. Es ist das Kleid. Blau mit Gänseblümchen.“
Als ihre Augen sich trafen, nahm Frank einen Schluck Bier. Er wartete drauf, dass Harald weiter erzählte, aber die Reihe war jetzt an ihm. Er stellte das Glas auf die Theke. „Es ist ja so lange noch nicht her, dass du uns das erzählt hast.“
Harald sah ihn an.
„Ich meine“, sagte Frank, „morgen guckst du meinen Rambo und dann träumst du vielleicht, dass du mit so einem Riesenmesser durch den Wald läufst. Man hat das dann im Kopf und wenn man schläft, geht es da oben irgendwie weiter, ist doch normal.“
„Ich hab den Rasen gemäht“, sagte Harald. „Da bin ich meist wach bei.“
„Aber du hattest das mit dem Kleid gerade erst wieder hoch geholt hier oben.“ Frank tippte sich an die Schläfe. „Darum war das präsent.“
„Präsent“, wiederholte Harald. „Präsent habe ich das an jedem Tag in jeder Woche. Jeden Monat in jedem Jahr. Seit dreiundvierzig.“
Frank wog den Kopf ein paar mal hin und her. „Na ja, aber umso mehr“, sagte er. „Man ist in Gedanken. Es ist Sommer, es ist heiß. Die Luft flimmert.“
„Und da verwechsele ich ein Stück blaue Folie mit dem Kleid meiner Schwester?“
„Weiß ich nicht, wahrscheinlich schon. Mann, Harald. Was soll ich denn jetzt sagen?“
Ein paar Züge lang ließ Harald die Frage ohne Antwort.
„Gar nichts meinetwegen“, sagte er dann. „Ich musste es einfach mal erzählen. Hanni fragt schon immer, was ist, aber du kennst sie. Wenn ich es ihr sage, kann ich auch ein Schild an die Straße stellen, wo es draufsteht.“
Harald rauchte, Frank nahm den letzten Schluck. Als er das Glas abstellte, blickte Harald wieder zu ihm. „Willst du noch eins?“
„Aber wirklich nur eins noch.“
Harald füllte das Glas an der Zapfanlage und stellte es auf die Theke. Dabei zeigte sich immer, dass er selbst kein Bier trank. Viel zu viel Schaum.
„Danke.“ Frank und nahm einen Schluck. Der Schaum kitzelte an der Nasenspitze. Er wischte ihn weg. „Bist du nicht hingegangen zur … zum Kleid?“
Harald schüttelte den Kopf. „Ich dachte ja auch erst, ich werde bekloppt. Hab so getan, als sähe ich es nicht und hab den Korb vom Mäher ausgeschüttet. Und als ich wieder hochgucke, ist es weg.“
Frank weitete die Augen: Siehst du?
„Was?“, fragte Harald.
„Naja“, sagte Frank. „Warum ist es auf einmal weg? Du hast geträumt. Mit offenen Augen.“
Harald schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Ich finde schon.“
„Nein, Junge, jetzt lass mich doch erst mal zu Ende erzählen!“
„Ich dachte, das wäre das Ende.“
„Nein.“ Zwei Züge an der Lux. „Ich hab’s noch zwei Mal gesehen.“
Frank nippte am Bier.
„Das erste Mal war im Herbst. Hanni wollte Auflauf machen und wir hatten den Blumenkohl vergessen. Ich also noch mal los. Ich fahre unten durch, der Weg durch die Wiesen.“
Landwirtschaftlicher Verkehr frei. „Irgendwann stehen da wirklich mal die Bullen“, meinte Frank.
Harald machte ein ungeduldiges Gesicht und wedelte mit seiner Zigarette. „Da kommst du ja am kleinen Wasserwerk vorbei, wo alles so zugewachsen ist. Und da am Zaun mit dem Schild davor, nicht betreten und was weiß ich. Über dem Zaun sehe ich es schon von Weitem hängen.“
In Franks Hals kratzte es, aber er wollte sich nicht räuspern. Stattdessen kühlte er das Kratzen mit Bier. „Hast du angehalten?“, wollte er wissen.
„Da habe ich immer noch gedacht, dass ich einfach langsam weich im Kopf werde. Zweiundsechzig immerhin, so alt werden einige gar nicht.“
„Also nein.“
„Nein.“
Das muss dir doch selbst auffallen.
„Beim nächsten Mal bin ich zu Fuß hoch in die Siedlung zum Automaten, über den Sonntag vorsichtshalber noch mal zwei Schachteln holen. Die Bank, an der du da vorbeikommst, da hing es drüber. Es wird ja früh dunkel jetzt, und es war auch dunkel, aber es war das Kleid.“
„Und du bist wieder nicht hin?“
„Ich bin schnell weiter und bin zurück die Hauptstraße lang.“
„Ganz schöner Umweg.“
„Ich hatte Bammel.“
Frank ließ das fast leere Bierglas in seiner Hand kreisen. „Und jetzt?“
Harald zuckte die Schultern. „Ich bringe gerade alles auf Vordermann, die ganzen Unterlagen fürs Haus und so was, dass Hanni keine Lauferei hat. Und ich will mit allen nochmal zusammenzukommen. Vielleicht mache ich Nachbarschaftsfest außer der Reihe. Grillen wir halt hier drin, ich mache die Fenster auf.“
Der letzte Gedankensprung hatte Frank abgehängt. Harald schien es zu bemerken. Er zeigte mit der Zigarettenspitze zur Decke des Partykellers. „Es ist ein Gruß von oben.“
Frank führte das Glas zum Mund und stoppte auf halbem Weg. „Was?“
„Ich kippe um demnächst.“ Harald hob die zwei Schachteln auf der Theke kurz an. „Die Qualmerei. Und die Cola vielleicht noch dazu. Koffein geht ja auch auf die Pumpe. Das Kleid ist wie ein Ortsschild. Noch zehn Kilometer.“
Frank stellte das Glas ab. „Harald, jetzt mach mal einen Punkt. So ein Quatsch.“
„Hast du nie gedacht, dass die Fluppen mich irgendwann kaltmachen?“
„Aber doch nicht …“ Frank stockte.
„Nicht jetzt schon.“ Harald nickte. „Das habe ich damals auch gedacht, wenn die Flieger kamen. Irgendwann erwischen sie mich. Oder einen von uns. Aber nicht jetzt schon.“ Er nahm einen Zug und pustete blauen Rauch aus, der in feinen Schwaden zur Decke stieg. „Irgendwann ist das dann da, jetzt schon.“
„Warst du denn beim Arzt?“
Harald winkte wieder ab. Der Rauch seiner Zigarette schlug dadurch Wellen. „Du weißt, was ich von Ärzten halte.“
„Aber wenn du jetzt Recht hättest, was du nicht hast, würdest du gar nicht wissen wollen, was es ist?“
„Was soll es sein? Meine Lunge ist schwarz wie ein Bärenarsch bei Nacht, da brauche ich keinen Arzt für.“ Während er das sagte, zitterte Haralds Unterlippe.
„Ich komme mit“, schlug Frank vor.
„Was?“, fragte Harald.
„Ich fahr dich hin und warte draußen.“
„Ich sag doch, Ärzte-“
„Soll ich dir glauben oder nicht?“
Haralds Gesichtszüge entgleisten. Er war enttäuscht. Vielleicht sogar gekränkt.
„Jetzt komm“, sagte Frank. „Was ist das für eine Geschichte? Die kannst du nicht einfach erzählen und fertig.“
Harald dachte darüber nach. „Ich guck mal.“ Er drückte die Zigarette aus. Bevor er die nächste ansteckte, setzte er die Toom-Mütze wieder auf und knibbelte kurz an ihrem Schirm. Sein Blick ging ins Leere dabei. „Wovon handelt der neue Rambo eigentlich?“
Frank rieb sich die Hände. Es war kalt, Ende Februar. Hätte er nicht aufgehört, wäre er ausgestiegen, um eine zu rauchen.
Die Praxistür ging auf. Harald kam über den Parkplatz, eine Zigarette zwischen den Lippen. Es war ihr vierter gemeinsamer Arztbesuch. Kleines Blutbild, großes Blutbild, Röntgen.
Harald rauchte auf dem Weg zum Auto, nahm vor dem Einsteigen noch ein paar schnelle Züge. Dann schnippte er die Kippe weg und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Kalte Februarluft kam mit ihm ins Auto. Sie roch nach Rauch. Franks Herz klopfte. „Und?“
Harald zuckte die Schultern. „Lunge von zwanzigjährigem Fußballer sieht anders aus“, sagte er. „Eine mit Krebs aber auch. Ich hab nichts. Cholesterin zu hoch. Blutdruck, Puls, Herz, alles nicht das Gelbe vom Ei. Aber geht noch. EKG soll ich mal beizeiten machen.“
„Hab ich doch gesagt“, sagte Frank. „Vielleicht hast du Stress gehabt zuletzt.“
„Kann sein. Jetzt habe ich aber ein anderes Problem.“
„Nämlich?“
„Warum sehe ich das Kleid dann?“
„Du hast das Kleid doch gar nicht mehr gesehen.“
„Ich hab’s nicht erzählt. Wollte die Ärzte abwarten. Aber ich sehe es fast jeden Tag inzwischen.“
Frank stöhnte auf. „Harald, das bildest du dir nur ein. Hast du dem Arzt das mit dem Kleid erzählt?“
„Ich will doch nicht in die Klapse.“
„Wer redet denn von Klapse?“ Frank dachte über die nächsten Worte sorgfältig nach. „Aber vielleicht gehst du wirklich mal zu einem anderen Arzt.“
Harald tippte sich an die Schläfe. „So einen meinst du?“
Ehrlich gesagt ja. „Das muss doch keiner mitkriegen.“
Harald schüttelte den Kopf. „Ich mache was anderes.“
„Was denn?“
„Fahr erst mal los.“
Oben in der Siedlung, wenn man schon fast am Rand des Gebirges angekommen war, gab es ein einsames Haus. Es stand auf einer Wiese. Im Sommer wucherte sie zu. Das Gras wuchs dann über eine Schubkarre, einen Schweinetrog und ein Fahrrad mit nur einem Reifen, die dort herumstanden. Früher war die Wiese ein Feld gewesen. Darauf pflügte, säte und erntete schon seit den Sechzigern niemand mehr. Das Fachwerk war ein altes Gesindehaus mit Plumpsklo und Fenstern, die zuletzt jemand erneuert hatte, als Adenauer Kanzler war.
„Ich gehe hoch zu Emmy“, sagte Harald.
Frank drehte kurz den Kopf zu ihm. „Nein.“
„Doch.“
„Und was soll die machen?“
„Meine Schwester fragen, was sie will.“
Frank atmete tief durch.
„Ich weiß“, sagte Harald.
Frank hielt an einer roten Ampel. „Harald, Emmy ist nur ein armes Schwein. Einsam und … hundertzwanzig Jahre alt? Ich weiß gar nicht, wovon die lebt.“
„Wenn jemand weg ist und du hast du noch Fragen, gehst du zu ihr“, sagte Harald. „Das ist eine ganz normale Dienstleistung.“
„Im Mittelalter vielleicht gewesen.“
„Ich gehe zu ihr.“
„Letztes Jahr um diese Zeit hast du Leuten einen Vogel gezeigt.“
„Hab meine Meinung geändert.“
Die Ampel zeigte grün, der Corsa vor ihnen blieb stur stehen. Frank hupte. „Guten Morgen.“ Er drehte sich zu Harald. Harald sah ihn nicht an. Er blickte weiter geradeaus, aufs Heck des Opels. Betastete nervös die aufgeplatzten Nähte am Schirm seiner speckigen Toom-Mütze.
„Kommst du zu Emmy auch wieder mit?“
Frank schüttelte den Kopf. „So einen Quatsch unterstütze ich nicht. Zünd das Geld einfach an, kommt aufs selbe hinaus.“
„Ist doch mein Geld.“
Frank dachte an alles, was er über Emmy gehört hatte, seit sie hier hergezogen waren. Die Kinder lernten, dem Haus fernzubleiben. Jugendliche bewarfen es mit Eiern, die an der Fassade trockneten. Dann gab es die Geschichte von dem Sparkassen-Typen, der ihr das Grundstück abluchsen wollte. Die Leute im Dorf sagten: Sicher, auch mit vierunddreißig kannst du einen Schlaganfall haben. Manchmal stürzt das Flugzeug ab.
„Hast du Schiss allein?“, fragte Frank.
Harald trommelte auf dem Mützenschirm herum. „Hättest du keinen?“
„Ich glaub das alles nicht, was man über sie erzählt.“
„Dann komm einfach mit, weil ich es bin.“
Ein Transporter mit dem Logo einer Bäckerei darauf überholte sie.
„Was nimmt Emmy eigentlich für so eine …“ Frank trat aufs Gas.
„Sitzung?“, fragte Harald.
„Nennt man das so?“
„Zweihundert hört man immer. Die würde ich einstecken. Heißt das, du kommst mit?“
Frank pfiff ein zweifelndes „Pf“ durch Unterlippe und Schneidezähne. „Ich glaube immer noch, dass du das Geld lieber anzünden solltest. Hättest du bei der Kälte auch mehr von. Aber danach versuchen wir was, das ich vorschlage.“
Franks Zehen fühlten sich an wie kleine Kiesel aus Eis. Als könnten sie jeden Moment abbrechen. Fast eine halbe Stunde waren sie schon unterwegs. Bergauf. Es hatte geregnet und die nasse Kälte saugte sich in die Kleidung. Er wollte den Anblick des maroden Fachwerkhauses kurz wirken lassen, aber Harald stakste direkt auf das große Holztor zu, durch das irgendwann mal Kühe und Pferde rein und raus gelangt waren. Im linken Flügel des Tores eingelassen war eine Tür für menschliche Bewohner. Harald klopfte an. Nichts geschah.
„Vielleicht ist sie nicht da.“ Ein bisschen hoffte Frank es. Wenn sie nun jemand sah. Ließen sich von Emmy den Kaffeesatz lesen wie zwei Waschweiber.
Harald klopfte wieder, stärker diesmal. An vielen Stellen blätterte die grüne Farbe ab vom Holz des Tores und der Tür. „Hallo?“
Stille.
„Kommt nichts“, sagte Frank. „Lass uns-“
Von der anderen Seite klapperte und klackte es. Holz auf Metall. Vielleicht umgekehrt. Sie öffnete die Tür. Frank hielt die Luft an. Er hatte Emmy noch nie aus der Nähe gesehen. Sie trug ein altes Kleid mit fleckiger Schürze. Feiner Modergeruch ging von ihr aus. Kartoffelkellergeruch. Gemischt mit Schweiß und ein bisschen Urin. Unter ihrem fleckigen Kopftuch lugten an ein paar Stellen grauweiße Haare hervor. An den Füßen trug sie dicke, grüne Wollsocken.
„Seid ihr von der Stadt?“ Ihre heisere Stimme zerschnitt die Stille. Das linke Auge schielte weit nach außen. Frank fragte sich, ob es blind war.
„Wir wollen …“ Harald knetete seine Finger. „Meine Schwester will irgendwas von mir“, sagte er schließlich, als hätte er einen Anruf von ihr verpasst. „Ist im Krieg gestorben.“
Emmy musterte Harald von den Spitzen seiner Schuhe zur Toom-Mütze. Vielleicht, dachte Frank, wirkte sich das auf den Preis aus, ob jemand vor vier Wochen gestorben war oder vor vier Jahrzehnten.
„Ich mache nur Vorkasse“, sagte sie. „Und wenn sie nicht wollen, wollen sie nicht. Das ist dann nicht meine Schuld, also behalte ich das Geld.“
Harald nickte und zog die zweihundert Mark aus dem Portemonnaie. „Reicht das?“ Er hielt ihr die Scheine hin. Zehner, Zwanziger und Fünfziger.
Emmy nahm das Geld mit altersfleckigen Händen. Sie zählte es ungerührt und nickte, drehte ihnen den Rücken zu und sagte: „Kommt rein.“
Alter Holzboden knarrte unter ihren Füßen. Im Raum, in den Emmy sie führte, stand ein Holztisch mit einer Kerze in einem billigen Messinghalter darauf. Die vier Stühle am Tisch stammten aus mindestens zwei unterschiedlichen Dekaden. Die Tapete war an einigen Stellen zerrissen. Emmy setzte sich auf einen der Stühle. Sie zählte noch einmal das Geld und ließ es in einer Seitentasche ihres muffigen Kleides verschwinden. „Hinsetzen.“
Harald und Frank setzten sich. Harald bereitwillig, Frank rollte die Augen. Die Stühle machten Geräusche wie der Fußboden.
Emmy sah zu Harald. „Deine Schwester also.“
Harald nickte.
„Erzähl.“
Er berichtete, vom Krieg übers Rasenmähen bis zum vierten Arzttermin. Emmy hörte zu, ohne sich ein einziges Mal zu rühren. Frank beobachtete sie. Hört sie überhaupt zu?
Als Harald fertig war, blieb Emmys Blick kurz auf ihn gerichtet. Dann sah sie eine Weile zur Decke und wieder zurück. „Du hältst es für ein Omen.“
„Das heißt so, oder?“, sagte Harald. „Das habe ich zuerst gedacht, ja. Aber ich bin gesund.“
„Na und?“
„Es sieht nicht so aus, als würde ich bald sterben.“
„Vielleicht gehst du gleich über die Hauptstraße und wirst von einem Bus überfahren.“
„Ich gucke eigentlich immer links und rechts.“
„Das war nur ein Beispiel.“ Du Trottel, schien sie anfügen zu wollen. „Wer ist der andere eigentlich?“ Sie sah Frank nicht an, als sie es sagte.
„Ein Freund“, sagte Harald. „Ich dachte-“
„Ich weiß“, sagte Emmy. „Kaum einer traut sich allein.“
Harald hatte größere Sorgen als seinen verletzten Stolz. „Was will sie?“
Emmy stand auf und zog mit staubigen alten Vorhängen die Fenster zu. Sie verschwand aus dem Raum, kam mit Streichhölzern zurück und zündete die Kerze auf dem Tisch an. „Fragen wir sie.“
Sie sollten sich die Hände reichen.
„Ich bin nur mitgekommen“, sagte Frank.
Harald griff seine Hand. Die andere ging an den Schirm seiner Toom-Mütze. „Soll ich die lieber absetzen?“
Emmy zuckte die Schultern. „Mach das, womit du dich wohl fühlst.“
Harald ließ den Schirm wieder los.
Emmy nahm die Hände der Männer, sodass sie einen Kreis um die Kerze schlossen. Sie bat Harald, den Namen seiner Schwester zu nennen und etwas zu erzählen, dass nur sie beide wissen konnten. Harald betrachtete die Kerze eine Weile. Die Streichhölzer lagen daneben. Er berichtete, wie sie einmal Streichhölzer aus einer Schublade in der Küche gestohlen hatten, um eine Zigarette zu rauchen, die sie hinter dem Haus gefunden hatten. Harald hatte sich nach einem Lungenzug fast übergeben müssen, Ilse hatte nur gepafft.
Ilse. Jetzt erst fiel Frank auf, dass sie für ihn bisher nur Haralds Schwester gewesen war.
Emmy schloss die Augen. „Das weißt du noch mit der Zigarette, oder, Ilse?“
Irgendwo im Haus erklang ein Geräusch, das Frank an kleine Pfoten erinnerte. Eine Ratte oder ein Frettchen vielleicht. Zu klein und zu flink für eine Katze. Er blickte zu Harald. Der sah stur auf den Tisch.
Langsam stieg der Druck von Emmys Hand. Harald sah vom Tisch auf. Seine Augen waren jetzt auf Emmy gerichtet. Sie wandte den Kopf von links nach rechts, von oben unten. Alles mit geschlossenen Augen. Frank spürte, wie der Druck ihrer Hand zu- und wieder abnahm, zu- und wieder abnahm. Sie öffnete die Augen und blickte im Raum umher, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
Was für ein Theater. Sie hatte das gut einstudiert. Selbst das Auge schielte plötzlich nicht mehr.
„Harry“, sagte sie.
Kälte breitete sich in Franks Nacken aus. Emmy klang nicht wie ein kleines Mädchen. Sie klang wie eine alte Frau, die sich für ein kleines Mädchen hielt.
„Ilse?“, fragte Harald. Frank drehte den Kopf zu ihm.
Emmy nickte.
„Ilse, es tut mir leid.“ Harald schüttelte den Kopf. „Ich war selbst noch ein Kind. Und Mutter hat das auch nicht gewollt.“
„Das weiß ich“, sagte Emmy. Frank weigerte sich, von ihr als Ilse zu denken.
Harald wirkte erleichtert. „Aber warum dann?“
„Warum?“
„Das Kleid“, sagte Harald. „Was willst du mir sagen?“
„Dass du an mich denken sollst.“
„Ich denke jeden Tag an dich.“
„Nein, tust du nicht.“
Frank fragte sich, ob er das gerade richtig verstanden hatte.
„Aber, Ilse …“, stammelte Harald.
„Aber, Ilse.“ Emmys Mädchenstimme klang kurz tiefer. Sie äffte Harald nach.
Was soll das denn? „Das reicht glaube ich“, sagte Frank. „Wir …“ Emmys Hand griff seine fester. Seine Knöchel knackten. Frank fluchte.
„Ilse, ich ...“, sagte Harald.
„Ich hab deinen Namen geschrien und mein schönes Kleid vollgepisst“, sagte Emmy. „Die erste Bombe fiel und sie war so stark. Sie drückte mich gegen ein Haus. Es knackte ganz laut. In mir drin.“
Frank sprang von seinem Stuhl auf und riss dabei seine Hände aus denen von Harald und Emmy. Emmys Fingernägel zerkratzten seinen Handrücken. „Was soll der Mist!“ Er hielt seine zerkratzte Hand.
Emmy stand auf, griff Frank beim Pullover, warf ihn gegen die Wand hielt ihn dort. Er spürte keinen Boden mehr unter den Füßen. Das morsche Mauerwerk, von dem Stücke zu Boden rieselten, war noch solide genug gewesen, um ihm beim Aufprall die Luft aus den Lungen zu schlagen.
„Was mischt du Kröte dich ein?“, zischte Emmy.
Frank griff ihre Handgelenke, spürte alte Haut über alten Knochen, die die Kraft nicht haben durften, mit der sie ihn festhielten. Der Druck von Emmys Unterarmen auf seiner Brust stieg. Er keuchte Haralds Namen. Der sah ihnen eine Weile verdattert zu, bis er schließlich aufstand.
„Hey!“ Emmys Kopf fuhr herum zu ihm. Sie ließ Frank los. Aber anstatt sich auf Harald zu stürzen, sackte sie in sich zusammen.
Frank behielt sie eine Weile im Auge. Sein Atem beruhigte sich langsam. Schließlich stieg er über den Körper am Boden und ging auf Harald zu. „Lass uns abhauen“, sagte er. „Sie ist irre.“
Harald sah ihn an. „Aber Ilse-“
„Das war nicht Ilse.“
„Ich hab ihre Stimme gehört.“
„Nein.“
„Doch.“
„Er hat Recht.“
Frank fuhr herum und stieß dabei gegen den Tisch. Emmy kam langsam wieder auf die Beine. Ihre alten Knochen knackten (Es hat geknackt in mir drin). Aus der Nase lief Blut. Sie stoppte es mit dem Handrücken und wischte es an ihrer Schürze ab. „Das war nicht Ilse.“
Emmy zog die Vorhänge auf, öffnete das Fenster und spuckte einen roten Brocken nach draußen. Kühle Luft strömte herein. „Ich hab den Geschmack noch im Mund“, sagte sie. „Seine Gemeinheit.“
Sie schloss das Fenster. Harald sank schon wieder auf den Stuhl. Nach einer Weile tat Frank es ihm nach. Emmy sah Harald an. „Ich mache das oft genug“, sagte sie. „Und schon sehr lange. Das war anders.“ Sie leckte ihre Fingerkuppen an und drückte die Flamme aus. „Es ist ein Dibbuk, denke ich. Eigentlich bin ich mir recht sicher. “
„Was soll das sein?“, fragte Frank. „Ein …“ Er hatte den Begriff zum ersten Mal gehört und schon wieder vergessen.
„Dibbuk“, wiederholte Emmy. „Die Juden nennen ihn so. Andere nennen es anders.“
Bei die Juden hatte Frank kurz gezuckt. Was kam denn jetzt?
Haralds Hand ging zur Zigarettenschachtel in seiner Hemdtasche. „Kann ich nichts mit anfangen.“
„Hier drin wird nicht geraucht“, sagte Emmy.
Harald ließ die Finger wieder von der Hemdtasche. Stattdessen knibbelte er am Schirm seiner Mütze.
„Deine Traurigkeit zieht es an“, erklärte Emmy. „Wie eine tote Katze die Krähen anzieht. Es lebt von deinen Schuldgefühlen.“
Haralds Augen weiteten sich. „Meine Schuld?“
„Ich weiß“, sagte Emmy. „Ich hab gesagt Schuldgefühle. Dein Kopf weiß, dass du nicht schuld bist. Aber Bauch und Herz sagen was anderes. Und gegen das Herz allein hat der Kopf schon keine Chance. Irgendwann …“
Sie wischte nachlaufendes Blut ab. Erst mit der Hand zur Nase, dann mit der Hand zur Schürze. Harald kratzte den Schirm seiner Mütze. „Irgendwann was?“
Emmy sah ihn an. „Irgendwann kannst du nicht mehr. Du wechselst die Seiten und der Dibbuk sucht sich einen neuen Wirt.“
„Ich wechsele die Seiten?“
Emmy strich sich mit dem Zeigefinger über den Hals.
„Und wenn wir das jetzt glauben“, sagte Frank, „was machen wir dann?“
Emmy blickte zu Frank. „Ihr seid Freunde, oder?“
„Kann man so sagen.“
„Dann solltest du es glauben. Freunde helfen. Du störst ihn. Er mag das nicht.“
„Wie werde ich ihn los?“ fragte Harald.
„Du vergibst dir selbst“, sagte Emmy. „Das macht dich uninteressant. Geschmacklos. Das ist der erste Weg, aber der ist fast unmöglich zu schaffen. Ich kann auch nicht garantieren, dass du die Zeit noch hast. Weg zwei ist schnell und … gefährlich.“
Emmy machte eine Pause. Frank schnaufte ungeduldig. „Und? Weg zwei? Ist?“
Emmy zog die Augenbrauen hoch: Das liegt doch wohl auf der Hand. „Wir treiben ihn aus.“
Frank lachte leise auf. „Kostet noch mal zweihundert Mark.“
„Arbeitest du umsonst, junger Mann?“
„Arbeit?“
Harald hob die Hand. „Ich mache es. Ich habe das Ding an mir hängen, ich kann entscheiden, was ich machen will. Aber was heißt gefährlich? Wie gefährlich?“
Emmy presste die Lippen aufeinander. „Wie eine schwierige Operation“, sagte sie. „Manchmal gehen sie schief.“
Frank stand auf. „Das ist doch jetzt alles nur noch-“
„Wie viel willst du dafür?“, fragte Harald.
Frank drehte das Bierglas auf der Theke ein paar Mal um die eigene Achse. „Fünfhundert Mark“, seufzte er. „Ich kann nicht fassen, dass du ihr fünfhundert Mark für den Scheiß gibst.“
Harald pustete Rauch aus. „Ich glaub ihr nun mal“, sagte er. „Du verstehst das noch nicht. Ab vierzig hörst du die Kiste langsam lauter klappern. Du guckst in die Zeitung und dein alter Lehrer ist tot. Irgendwann der erste Mitschüler. Dann machst du den Fernseher an und irgendein Schauspieler ist gestorben, den du als Junge gern gesehen hast. Und die Nachbarin von früher, die dir immer ein Bonbon geschenkt hat, die ist jetzt auch tot. Das ist wie Regen. Du merkst einen Tropfen und dann einen zweiten. Einen dritten und einen vierten und dann geht’s richtig los.“
Frank ließ das Glas wieder ein bisschen rotieren. „Das bedeutet?“
„Dass du anfängst, an Sachen zu glauben, bei denen du früher gesagt hättest, hier.“ Harald ließ die Hand vor seinem Gesicht pendeln. „Ab fünfzig gehen ja auch wieder mehr Leute in die Kirche. Spätestens ab sechzig.“
„Kann sein“, sagte Frank. „Aber fünfhundert Mark sind immer noch eine Menge Geld.“
„Hanni und ich haben keine Kinder. Ob ich’s nun dafür ausgebe oder wieder für teures Werkzeug raushaue, das ich kaum benutze.“
„Das teure Werkzeug kannst du verleihen“, sagte Frank. „An mich zum Beispiel. Das Geld hier ist einfach futsch. Wie ein Zaubertrick. Das macht sie ja da oben in ihrer Abbruchhütte. Eben sind die Scheine noch da, jetzt sind sie weg. Abrakadabra.“
Harald steckte sich eine neue Zigarette an. „Und als sie dich gepackt hat, da hattest du nicht die Hose voll? Hast du dich nicht gefragt, wo sie auf einmal die Kraft her hatte?“
Doch. „So viel wiege ich nicht.“
„Sie ist achtzig und drüber.“
Frank trank sein Bier aus. „Harald, es ist deine Entscheidung.“ Er stellte das leere Glas auf die Theke. „Machst du mir bitte noch eins?“
Harald zapfte. „Machen wir es?“ Er gab Frank das neue Bier. Frank nahm einen Schluck.
„Wir machen es“, sagte er. „Ich möchte nur, dass wir festhalten, ich habe mehrfach darauf hingewiesen, fünfhundert Mark sind eine Menge Geld.“
In dieser Nacht träumte Frank von der Theke, aber auf der anderen Seite saß nicht Harald, sondern Emmy. Sie rauchte.
„Wo ist Harald?“, fragte Frank. „Du hast gesagt, kein Rauchen hier drin.“
Emmy zuckte die Schultern. „Er will seine Operation“, sagte sie. Sie nahm Franks leeres Glas. Aus dem Zapfhahn floss stotternd und spuckend ein dickes Sekret.
„Wir müssen los“, sagte Frank. Er wollte das Zeug aus dem Hahn auf keinen Fall trinken.
Emmy stellte das Glas ab und schüttelte den Kopf. „Wir bleiben.“ Sie krallte ihre Finger in seinen Pullover und zog ihn über die Theke.
Frank riss die Augen auf. Er spürte die Trommelschläge seines Herzschlags bis zum Kehlkopf. Neben ihm atmete seine Frau regelmäßig. Frank starrte an die Decke und wartete, bis der Schweiß auf seiner Stirn getrocknet war. Dann ging er in die Küche und trank ein Glas Wasser aus dem Hahn. Sah aus dem Fenster. Drüben war alles dunkel. Er fragte sich, was Harald träumte.
Beim ihrem ersten gemeinsamen Weg hoch zum Fachwerkhaus hatten sie über Emmy und alles gesprochen, was die Leute über sie sagten. Zwischendurch hatte Frank gefragt, wie Harald der neue Rambo gefallen habe, einfach, um über etwas anderes zu reden. Dieses Mal sprachen sie kaum. Harald marschierte soldatisch und blickte geradeaus.
„Hast du das Geld dabei?“, fragte Frank.
Harald nickte.
„Dann würde es sich ja richtig lohnen, über uns herzufallen.“
Haralds Mund zuckte kurz.
„Hast du das Kleid noch mal gesehen?“
Harald ging einfach weiter.
Emmy nahm das Geld und führte sie wortlos in den Raum mit den vier Stühlen. Über ihrem Kleid trug sie weißes Tuch. Auf dem Tisch standen diesmal gleich mehrere Kerzen, und auf die Platte hatte sie mit Kreide Symbole gemalt. Frank fand, es sah aus wie die Schallplattenhülle einer Heavy-Metal-Band.
Als sie saßen, nahm Emmy ein Buch zur Hand, das auf dem Tisch gelegen hatte. „Das alte Testament“, sagte sie. „Teile daraus werde ich gleich lesen.“
Harald nickte. „Davon geht es?“
„Das hoffe ich“, sagte Emmy.
Frank räusperte sich. „Für fünfhundert Mark finde ich das ein bisschen wenig. Wie war es denn bisher?“
„Was bisher?“, fragte Emmy zurück.
„Wie oft hat es schon geklappt?“, fragte Frank.
Emmy nickte. „Schon öfter.“
„Öfter? Was heißt denn öfter? Du machst das zum ersten Mal, oder? Harald …“
„Von mir aus können wir anfangen.“
Frank stöhnte. „Wie ihr meint.“ Mit dem „ihr“ erkannte er die neuen Machtverhältnisse an. Es stand zwei gegen ihn. Er reichte Emmy die Hand.
Sie schüttelte den Kopf. „Diesmal bleiben wir zu zweit. Wenn es rauskommt, ist das gefährlich, glaube ich.“
„Du glaubst“, sagte Frank.
Emmy ignorierte ihn, setzte sich Harald gegenüber, schlug die Bibel auf und nahm links und rechts davon Haralds Hände in ihre. Sie wartete, bis Frank mit seinem Stuhl etwas abseits gerückt war.
Harald sollte die Augen schließen. Emmy redete von seiner Schwester, von ihrem Tod, von Liebe und Schuld. Zunächst sprach sie kühl und monoton wie Dagmar Berghoff in den 20-Uhr-Nachrichten. Dann änderte sich ihr Ton. Emmy klagte an. Sagte: „Das alles hast du ausgenutzt.“
Haralds Augen bewegten sich unter den Lidern wie in einem wilden Traum. „Wir haben dich gesehen“, sagte Emmy.
Wir haben dich eine Show machen sehen, dachte Frank. Und es hat uns so gut gefallen, dass wir wiedergekommen sind. So wie ich überlege, mir Rambo 2 noch mal auszuleihen.
Emmy las Verse vor. Sprüche. Psalme. Frank hatte den Unterschied vergessen. Die Konfirmation war zu lange her. Er hatte sich nur die jeweils grobe Richtung gemerkt. Im Neuen Testament ist alles die Gnade des Herrn und die Liebe des Herrn. Im Alten Testament guckst du den Herrn ein Mal schief an und er haut dir Aussatz und Sintflut um die Ohren. So klang das, was Emmy jetzt las.
Sie blickte von der Bibel hoch. „Wir haben dich gesehen“, wiederholte sie.
Harald zog die Hände zurück. Emmy griff fester zu. „Wir sehen dich.“
Haralds Lippen bewegten sich jetzt, als würde er jeden Moment etwas sagen wollen. Emmy las wieder ein Stück. Einen Teil, an den Frank sich tatsächlich fast im Wortlaut erinnerte. Das mit dem ärgerlichen Auge.
„Wir reißen dich jetzt raus“, sagte Emmy.
Harald spuckte ihr ins Gesicht. Frank zuckte zusammen. Weiße Speichelspritzer liefen Emmy über die Wangen. Sie blinzelte kurz. „Wir-“
Harald zog die Hände zurück, heftiger diesmal. Emmy hielt nicht einfach fest. Sie wehrte sich. Über das Stück, das ihre Arme sich in Haralds Richtung bewegt hatten, zog sie sie auch wieder zurück. „Wir reißen dich raus!“
Diesmal schrie sie. Harald schrie zurück. Keine Worte wie Emmy, nur ein Laut wie ein Tier. Ein wütendes Tier. Von Jägern in die Enge getrieben. Frank drückte seinen Rücken gegen die Lehne des Stuhls und krallte seine Finger um den Rand der Sitzfläche.
Harald riss die Augen auf. Es war, als wären die Pupillen selbst über die Iris noch hinausgewachsen. Alles schwarz.
Der Anblick ließ auch Emmy stocken. Ihr Kinn zitterte. „Wir …“ Sie schluckte. „Reißen-“
„Du stinkst“, sagte Harald. „Nach demselben Schnaps wie dein Vater, wenn er sich neben dich gelegt und deinen Rücken gestreichelt hat.“
Harald zog Emmy wieder zu sich, ohne Gegenwehr dieses Mal. Die Entschlossenheit war aus ihrem Blick verschwunden. Frank stand auf. Er legte seine Hände auf die ineinander verkeilten von Harald und Emmy. Harald sah hoch zu ihm mit seinen schwarzen Hai-Augen. Sein Mund stand offen. Eine Fliege kroch durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen und summte davon.
Frank packte fest zu und verschob die Hände wieder in Richtung Emmy.
„Mach weiter“, sagte er.
Sie sah ihn an.
„Mach!“
Emmy nickte und las wieder aus der Bibel. Harald schrie und wehrte sich. Seine Arme wanden sich in Franks Griff wie zwei Pythons. „Ich kann nicht mehr lange!“, rief Frank.
Emmy ließ sich in ihrem Wechsel aus Bibelversen und Beschwörungen nicht mehr irritieren. Schließlich sagte sie einfach nur immer wieder: „Amen!“
Sie sprach es anders, als Frank als gelernt hatte, mit Betonung auf der zweiten Silbe. Der so bekannte und doch so fremd klingende Laut schien Harald jedes Mal wie ein Faustschlag zu treffen. Er riss den Kopf hoch.
Bei dem Anblick zogen sich Franks Eingeweide zusammen. Haralds Gesicht war genau wie das Wort, das Emmy immerzu wiederholte. Frank kannte es, aber nicht so. Die Wangenknochen bewegten sich, der Abstand zwischen Mund und Nase war doppelt so groß wie sonst, und die schwarzen Augen lagen viel zu weit hinten in den Höhlen. Beim nächsten Amen konnte Frank Harald nicht mehr halten. Der Freund wurde zurückgeschleudert mit seinem Stuhl und schlug mit dem Rücken gegen die Wand. Er blieb auf dem Boden sitzen, den Kopf auf der Brust.
Frank wartete darauf, dass Harald aufstand und ihm an die Gurgel ging. Aber als Harald den Kopf hob, war es wieder sein Gesicht. Er blutete aus der Nase. Harald kam auf die Beine. Hätte er getrunken, dachte Frank, so würde er sich nach einer durchzechten Nacht bewegen.
Eine Weile starrten die beiden anderen Harald nur an.
„Ist er weg?“, fragte Emmy schließlich.
Harald wischte sich das Blut von der Nase. Er nickte.
„Fühlt sich an, als hätte jemand das Licht angemacht. In mir drin.“ Er schüttelte den Kopf. „Ist denn was passiert?“
„Ja“, sagte Frank.
Harald ließ den Blick über den Tisch schweifen, über Emmy und Frank und den umgeworfenen Stuhl. „Wie Narkose im Krankenhaus“, sagte er. „Ich weiß nur noch, dass ich mich hingesetzt habe.“
Frank stemmte die Hände in die Hüften. „Und wie geht’s weiter?“
„Ihr geht“, sagte Emmy. „Er ist raus. Ich brauche Ruhe jetzt.“
Das erste Drittel des Weges zurück schwiegen sie. Links und rechts von ihnen erstreckten sich winterlich brachliegende Felder. Krähen pickten darauf herum. Haralds Griff ging an seine Hemdtasche. Er zog eine Zigarette hervor und sah sie an, anstatt sie sich in den Mund zu stecken.
„Ist wirklich alles gut?“, wollte Frank wissen.
Harald steckte die Zigarette zurück in die Packung. Spielte am Schirm seiner Mütze.
„Ich überlege, ob ich aufhöre.“
„Ach Quatsch.“
„Kein Quatsch. Ich versuch’s, glaube ich.“
„Wegen … Deswegen?“
Harald blickte geradeaus ins Leere. Mit seiner Antwort ließ er sich Zeit. „Auch, glaube ich“, sagte er schließlich. „Weiß ich nicht. Glaubst du immer noch, dass alles Blödsinn ist?“
Frank ließ sich ebenfalls Zeit. „Irgendwas war da.“
„Ja,“ bestätigte Harald. „Da war was. Ich hab gesagt, es war wie Narkose, aber weißt du was?“
„Was?“
Harald ließ den Blick über die Felder schweifen. „Bei Narkose ist zwischen Einschlafen und Aufwachen ein Loch. Keine Träume, weder gute noch schlechte. Aber ich war irgendwo.“
Frank nickte nur. Dachte an Haralds Hai-Augen.
„Und wenn da was kommt nach dem Umkippen“, sagte Harald. „Und du gehst irgendwohin, wo sich auch sowas herumtreibt. Wie das Ding, das Emmy aus mir herausgeholt hat.“
„Dibbuk“, sagte Frank.
„Von mir aus. Weißt du, die Leute sagen immer, wenn ich mal tot bin, dann sehe ich ihn wieder und sie. Meinen Vater, meinen Bruder, meinen besten Freund aus der Schule, meine …“
Eine Weile gingen sie schweigend weiter.
„Aber wenn so was da auch wartet“, fuhr Harald schließlich fort. „Dann will ich da so spät wie möglich hin. Und darum rauche ich jetzt nicht mehr. Gibt das Sinn?“
„Ich glaube“, sagte Frank.
„Vielleicht fange ich sogar an mit Sport.“ Harald klopfte sich zweimal auf den Cola-Bauch. „Joggen gehen. Ich könnt sofort anfangen.“
Harald wurde schneller.
„Was soll das werden?“, fragte Frank.
„Ich lauf nach Hause.“
„Bist du bekloppt?“
Harald lief, langsam, sein Bauch hüpfte unter der Jacke auf und ab, seine Toom-Mütze hielt er am Schirm fest.
„Was ist?“, rief er, nach den wenigen Metern bereits hörbar außer Atem. „Hol mich doch ein!“
Frank grinste. Emmy hatte etwas aus Harald herausgeholt, etwas anderes war dafür zurück. Der Junge, der er mal gewesen war, mit der Lebensfreude aus Momenten ohne Bomben. Frank ging schneller und lief dann locker, wie früher beim Aufwärmen im Sportunterricht. Er hatte Harald schnell eingeholt, denn der wurde schon wieder langsamer.
„Was ist jetzt?“, fragte Frank. „Große Fresse und nichts dahinter?“
Harald lachte auf, so weit der kurze Atem ihn ließ. Dann beugte er sich vornüber, die Hände auf den Knien. „Das war glaube ich ein bisschen plötzlich“, sagte er.
„Die bunten Punkte?“, fragte Frank.
Harald nickte. „Und …“ Er griff sich an die Schulter. „Mein Arm tut weh.“
„Vielleicht von eben“, sagte Frank. „Als es rauskam, bist du gegen die Wand geknallt.“
„Kann sein“, sagte Harald. Dann fluchte er, die Stimme schmerzerfüllt.
„Alles okay?“, fragte Frank.
Harald schüttelte den Kopf. „Nichts okay“, sagte er. „Meine Güte, Junge!“ Er fiel auf die Seite, hielt sich immer noch die Schulter. Im Sturz fiel ihm die Mütze vom Kopf und landete im Straßengraben. Frank schrie um Hilfe.
Die kam nicht, dafür war das nächste Haus noch zu weit entfernt gewesen. Niemand hatte ihn gehört. Frank hatte wieder laufen müssen, um das nächste Telefon zu erreichen, im Wohnzimmer eines Rentnerpaares. So waren zwischen Haralds Zusammenbruch und der Ankunft des Krankenwagens gut zwanzig Minuten vergangen. Frank hatte der Ambulanz hinterher gesehen und war an Ort und Stelle stehengeblieben, als wäre er festgewachsen.
Irgendwann hatte er sich auf den Weg nach Hause gemacht und war nach halber Strecke umgedreht. Sie hatte noch im Graben gelegen.
Er hatte Hanni gefragt, was sie davon hielt. Sie waren sich einig gewesen. Ohne seine Mütze würde Harald etwas fehlen. Der Bestatter wollte sie ihm unter unter den Arm klemmen, aber das schien zu wenig. Hanni fehlte die Kraft. Stattdessen verhandelte Frank, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatten. Als der Bestatter den Sarg schloss, saß Haralds Mütze genau da, wo sie hingehörte: Auf seinem Kopf.
Frank trank sein Bier auf den Stufen zur Haustür. Kein frisch gezapftes. Flaschenbier. Es war Anfang Juni. Die Sonne, so stark noch um diese Uhrzeit, versprach einen heißen Sommer. Die Haustür stand offen. Drinnen hörte er Frau und Tochter ums Fernsehprogramm streiten. Das Kind kämpfte einen aussichtslosen Kampf, in einer halben Stunde war es ohnehin Zeit fürs Bett.
Er hatte sich einmal umgedreht, um seinen väterlichen Senf hinzuzugeben. Sein Blick war dabei zur Garderobe auf dem Flur gegangen. Ohne ein Wort hatte er sich wieder zurückgewandt und über den gepflasterten Hof gesehen. Er blickte geradeaus und nahm den letzten Schluck aus seinem Bier.
Wieder drehte er sich um. Frau und Tochter stritten noch immer. Das Leben ging eben weiter. Irgendwann würden sie Rambo III drehen. Und dort an der Garderobe, am Huthaken über seiner eigenen, dünnen Frühjahrsjacke, hing eine Mütze mit Toom-Logo, an deren Schirm schon ein paar Nähte geplatzt waren.