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Das Kleid der Hoffnung
Das Kleid der Hoffnung
Eines Tages blickte das Herz tief in zwei sanfte braune Augen und schlug schneller.
Die Hoffnung, die sich gerade mit dem Verstand stritt, verstummte, lächelte und zog auf der Stelle ihr schönstes Kleid an.
Der Verstand, der zunächst alles nicht wahr haben wollte, staunte als er die Pracht dieses Kleides erblickte, dann lächelte auch er und begann Glücksformeln zu berechnen.
Das mit Goldfäden durchwobene Kleid der Hoffnung glitzerte im Sonnenlicht.
Die Hoffnung benötigte viel Raum. Wenn sie mit ihrem ausladenden Kleid vorbei ging, mußte der Verstand ein wenig beiseite rücken, damit das Kleid nicht zerdrückte.
Das Herz konnte seinen eigenen Schlag kaum noch hören, so laut rauschten die vielen übereinandergerafften Stoffe des Kleides, wenn die Hoffnung übermütig tanzte. Also schlug das Herz höher, damit es sich noch hören konnte.
"Ich kann mein eigenes Wort kaum noch verstehen", stöhnte der Verstand und strich unwirsch eine seiner Glücksformeln durch. "Dabei verrechne ich mich nur". Dann verließ er den Ort.
Die Hoffnung drehte sich immer schneller im Tanz und das Herz schlug immer lauter und heftiger bis beide der Erschöpfung nahe waren. Die Hoffnung fing an stark zu schwitzen. Ihre prachtvolle Robe sog den Schweiß ihres heftigen Tanzes auf und wurde immer schwerer. Der Stoff klebte an der Hoffnung und bereitete ihr Ungemach, weil es kratzte und scheuerte. Ihre Bewegungen wurden schleppender und schwerfälliger und der Schweiß, der in die seidigen rauschenden Stoffe gekrochen war, machte sie matt und lautlos.
Das Herz erschrak, weil es sein eigenes Pochen so laut hörte, als schlüge ein Hammer mit Wucht auf klirrendes Eisen.
"Hilf mir Herz, ich schaffe es nicht allein aus diesem Kleid", drängte die Hoffnung und das Herz eilte herbei, zerrte und zog an den Stoffen. Beide mühten sich, das Kleid der Hoffnung abzustreifen, aber wo auch immer sie anfingen, der Stoff gab nicht nach. Sie gaben verzweifelt auf.
Der Verstand, durch die eingetretene Stille neugierig herbeigelockt, fand Herz und Hoffnung in dieser hilflosen Lage.
"Ich glaube, ich weiß dir zu helfen, Hoffnung", bot der Verstand an, "ich kann dich befreien, nur dein Kleid, das werd ich nicht retten können." Die Hoffnung nickte stumm, als der Verstand mit einer großen Schere ihr Kleid in Stücke schnitt.
Von diesem Tag an trug die Hoffnung nur noch schlichte Kleider.