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weiterer Teil zur Serie: Der Keller des Judenhauses
Chrissy (1): Das Judenhaus
„Mama, Melli hat mich gefragt, ob ich heute Nachmittag zu ihr nach Hause käme. Ich hab jetzt eine Freundin!“
Mama war es egal.
Melli hat keine Mutter und keinen Vater, nur eine Großmutter. Ihr Opa war Bahnwärter, ist aber seit dem Winter tot. Der Alte hat gesoffen, ist im Schnee eingeschlafen und dann erfroren.
„Warum sagst du zu deinem Opa Alter?“, fragte ich sie.
„Der heißt so. Meine Oma sagt, wir können froh sein, dass der Alte nicht mehr da ist. Hat nur Dreck gemacht.“
Angestrengt dachte ich darüber nach, ob mein Opa auch Dreck machte. „Mein Opa macht keinen Dreck“, erklärte ich Melli. Und dann zählte ich auf, wer alles bei uns wohnt. Nämlich Opa und Oma, Mama, Papa, meine drei kleinen Schwestern, Tante Isa und Onkel Uwe und deren zwei Kinder.
„So viele“, hatte sie gestaunt. „Heute spielen wir bei mir und das nächste Mal bei dir.“
Doch sofort hatte sich Mama in meinem Kopf gemeldet: „Bringt mir ja niemand ins Haus. Vier Bälger reichen, ihr könnt draußen spielen.“ Ich überlegte, ob ich es Melli sagen sollte, aber vielleicht durfte ich dann nicht zu ihr kommen. Also lieber nicht.
Ich lief los und erreichte eine große Steintreppe. Das Haus, in dem Melli lebte, war riesig. Es war aus gelben Mauersteinen gebaut, vom Schmutz vorbeifahrender Züge überzogen. Die dunklen Fensterläden gaben dem Haus etwas Düsteres, was die doppelflüglige, fast schwarze Eichentür noch verstärkte. Ich fühlte Neugier, Furcht und Vorfreude, als ich den Klingelknopf drückte. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür. Vor mir stand eine ältere, kleine Frau mit einer schmutzigen Schürze. Neugierig blickte ich auf ihre Füße. Sie trug Holzpantoffeln.
„Was willst du?“, fuhr mich die Alte böse an. Ich erkannte einen vertrauten, ekelig scharfen Geruch.
„Ich möchte zu Melli. Wir wollen zusammen spielen.“
„Nix da, hier wird nicht gespielt. Hau ab, du Flüchtlingskind.
Geh heim in dein Judenhaus!“ Jetzt schaute ich der alten Frau zum ersten Mal ins Gesicht. Es war voller Falten, dunkle Augen blickten mich zornig an. Ihr schmaler Mund war fest zusammengepresst. Sie erinnerte mich an die Hexe von Hänsel und Gretel.
Melli schrie im Hintergrund: „Lass sie rein, lass sie rein! Das ist doch meine Freundin!“
„Der Flüchtling aus dem Judenhaus bleibt draußen!" Mit einem dunklen Krachen flog die schwere Tür zu.
Warum war diese Frau so böse auf mich? Nur weg, ganz schnell weg. Ich wusste nicht, was ein Flüchtling war oder ein Judenhaus. Es musste etwas Schlimmes sein, wenn sie mich aussperrte. Ich weinte vor Angst und Enttäuschung.
„Mama, was ist ein Flüchtling?“
Mit diesen Worten stürmte ich ins Haus. Mama hatte keine Zeit.
Ich ging zu Oma, die in der Küche stand und Einmachgläser mit Gurken füllte. Sie sah so ganz anders aus als die von Melli. Meine Oma war groß und ziemlich mollig. Ihre grauen Haare hatte sie immer zu einem Knoten gebunden. Oma trug dunkle, bodenlange Röcke. Wenn sie sich mal über jemanden ärgerte, dann war es Opa. Er war der Einzige, der es schaffte, Oma wütend zu machen. Wütend war sie in einer anderen Sprache. Opa schimpfte dann auch mit fremden Wörtern zurück. „Oma, was ist ein Flüchtling?“
„Jesus, Maria, wie kommst du denn da drauf?“
Ich wusste nicht so genau, warum sie immer den Herrn Jesus und seine Mutter mit ansprach?
„Die Oma von der Melli hat gesagt, ich wär ein Flüchtlingskind und ich soll abhauen in mein Judenhaus.“
„Komm her!“ Schwer ließ sich meine Oma auf den einzigen Hocker in der kleinen Küche fallen. Dann zog sie mich auf ihren Schoß. „Du weißt doch, dass der Opa, ich und deine Mama aus Ungarn kommen. Wir hatten dort einen kleinen Bauernhof und einen Weinberg. Dann haben die Deutschen den Krieg angefangen und viele Ungarn wurden umgebracht. Weil wir Deutsche sind, waren die Ungarn sehr wütend auf uns und deshalb haben sie uns alles weggenommen. Wir mussten nach Deutschland fliehen.“
Ich sah, wie Tränen über die faltigen Wangen meiner Oma liefen. „Oma du weinst ja!“
„Ach was“, kam es barsch zurück, und mit einer heftigen Bewegung fuhr sie sich mit dem Handrücken übers Gesicht. „Dein Papa musste aus Schlesien fliehen.“ Ein tiefer Seufzer begleitete ihre Worte. „Darum hat sie dich Flüchtlingskind genannt.“
„Sie hat aber noch Judenhaus gesagt“, ergänzte ich.
„Ja, weil das Haus, in dem wir jetzt wohnen, früher Juden gehörte, einer Familie mit einem Kind. Und jetzt muss ich weiter machen." Energisch schob sie mich von ihrem Schoß und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Ich hatte jedoch noch mehr Fragen: „Was waren Juden?", und: „Warum schimpfte Mellis Oma so, weil ich ein Flüchtlingskind war?"
Beim Abendessen, Papa war wie immer nicht da, fragte ich Mama: „Was waren das für Juden, die früher hier in dem Haus gewohnt haben?“
Mama beantwortete die Frage nicht, sie hatte wieder keine Zeit.
Als ich abends im Bett lag, konnte ich lange nicht einschlafen. Ich hörte, wie meine beiden kleinen Schwestern herumalberten, bevor es ruhig wurde. Sie teilten sich das untere Bett. Ich schlief im oberen allein. Meine kleinste Schwester, die in ihrem Gitterbettchen neben dem Bett von Mama und Papa lag, hörte ich an ihrem Fläschchen saugen.
Ich dachte an Melli und daran, dass wir in Zukunft draußen spielen mussten.
Mit diesem Gedanken schlief ich ein. Plötzlich hörte ich Mama schreien und wurde wach. Gedämpftes Licht drang durch die Milchglasscheibe der Schlafzimmertür. Ich stieg die kleine Leiter des Stockbettes hinunter und versuchte die Tür zu öffnen. Das ging nicht. Wenn Papa spät nach Hause kam, verriegelte sie meine Mutter.
Ein lautes Klatschen und ein dumpfes, polterndes Geräusch, dann das Weinen von Mama. Ich hatte Angst, dass etwas Schlimmes passiert war. Ich nahm den Stuhl, auf dem unsere Kleider lagen, und schob ihn ganz nah an die Tür, stieg hinauf und öffnete den Riegel des Türfensters. Um durchzusteigen, musste ich auf die Lehne klettern. Der Stuhl wippte hin und her, und ich befürchtete, meine Schwestern könnten davon aufwachen. Es gelang mir, zuerst das eine Bein durch das Fenster zu schieben und dann das andere. Langsam ließ ich mich nach unten gleiten und umklammerte mit den Händen den Fensterrahmen. Ich hatte Angst loszulassen, bis der Schmerz in den Fingern zu heftig wurde und ich mit einem Plumps im Wohnzimmer landete. Der Lärm musste wohl groß gewesen sein, denn auf einmal stand mein Vater neben mir, umgeben von diesem ekligen Geruch nach Bier und Schnaps. Ohne ein Wort hielt er mich am Hals fest, mit der andern Hand macht er das Fenster zu. Jetzt weinte ich auch wie Mama. Papa kniete sich hin, aber nur mit einem Bein. Dann zog er mich über das andere Knie. Ich hatte Angst und wimmerte leise. Ich durfte nicht laut weinen und nicht strampeln. Wenn meine Schwestern aufwachen, wird Papa mich in den Keller sperren, wußte ich aus Erfahrung.
Er holte aus und schlug mit der Hand auf meinen nackten Po. Es tat so weh! Papa, flüstere ich, Papa bitte, bitte hör auf! Papa holte wieder aus.
Er schlug zu. Ich presste die Lippen zusammen. Ich schrie innerlich, ganz tief in meinem Kopf. Ich versuchte meine Hand auf meinen Po zu schieben, damit es nicht mehr so weh tat. Papa schlug neben meine Hand. Jetzt schmerzte mein Rücken schrecklich und ich bekam keine Luft mehr. Ich weinte und schluchzte ganz leise, der Rotz lief mir aus der Nase und tropfte vor Papas Knie auf den Boden. Ich zog meine Hand wieder weg. Papa traf noch ein Mal, dann stand er auf. Ich fürchtete mich. „Bitte nicht in den Keller!" Ich war still. Doch ohne ein Wort nahm er mich auf den Arm, öffnete die Tür und warf mich zurück auf mein Bett. Ich machte mich ganz klein und rollte mich zusammen. Mein Rücken und mein Hintern brannten. Mama hatte aufgehört zu weinen. Ich hörte nur noch die Autos, die auf der Bundesstraße vor dem Haus durch die Nacht fuhren und dachte daran, wie schön es wäre, wenn ein Auto anhalten, ein nettes Ehepaar aussteigen und mich mitnehmen würde.
Ich öffnete die Augen und konnte nicht verstehen, was ich sah. An meinem Bett standen drei dunkle Gestalten. Panisch vor Angst schlüpfte ich unter meine Decke. Es waren Riesen, größer als mein Stockbett. Ich hatte gehört, wie Papa die Türe wieder abgeschlossen hatte und auch das Fenster war zu. Wie waren die reingekommen? Und warum waren sie so groß? Bitte, bitte geht weg, bat ich und hob vorsichtig die Zudecke. Sie waren noch da, dunkle Gestalten, die vor meinem Bett auf- und abliefen. Schnell zog ich das Federbett wieder über den Kopf. Hatte Mama nicht gesagt, wenn ich nicht brav wäre, würde mich der schwarze Mann holen? War er jetzt gekommen? Natürlich hatte ich gewusst, dass ich nicht durch das Fenster kriechen durfte, aber ich hatte solche Angst wegen Mama.
Würden sie mich mitnehmen? Mein kleines Herz raste, meine Hände wurden feucht und die Angst drückte auf meine Brust, so dass die Luft unter der Zudecke nicht mehr reichte. Ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Hysterisch begann ich nach Luft zu schnappen, davon wurde mir übel. Mit einem Ruck riss ich die Decke fort, die Augen fest zugepresst. Es geschah nichts. Niemand fasste mich an, keiner zog mich aus dem Bett und nahm mich mit. Ganz langsam öffnete ich die Augen. Die Umrisse der drei bewegten sich vor meinem Bett, gingen weiter auf und ab. Es war nichts zu erkennen als dunkle Schatten. Ich starrte sie an, versuchte sie zu sehen, aber es blieben dunkle Schatten. Irgendwann schlief ich ein.
Von nun an waren sie da, wenn ich in der Nacht aufwachte. Es war seltsam, aber mit der Zeit vermittelten sie mir das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Irgendwann erzählte ich meinen Eltern von den Schatten. Mein Vater meinte: „Noch einmal einen solchen Blödsinn und du kannst im Keller darüber nachdenken, was für eine Scheiße du erzählst."
Einen großen Teil meiner Kindheit lang blieben die Schatten meine nächtlichen Begleiter.