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Das ist alles

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12.02.2020
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Das ist alles

Tessa parkt auf dem Parkplatz an der Waldstraße. Zu dieser Jahreszeit ist der fast immer leer. Ich steige aus, schließe für einen Moment die Augen und halte mich an der Autotür fest, bis der Schwindel vergeht.
“Immer mit der Ruhe!”, sagt sie.
“Ach was”, sage ich und bin froh, dass ich sie überreden konnte, bei diesem Wetter mit mir an den Strand zu fahren. Ich nehme ihre Hand und strecke mein Gesicht Wind und Regen entgegen.
“Fühlst du das?”, frage ich und merke, wie sie steif wird.
“Komm!”, sagt sie, löst ihre Hand aus meiner und ihre Schritte knirschen über den Kies, bevor sie die asphaltierte Straße erreicht. Ich weiß, dass sie es nicht ertragen kann, das Leben zu spüren. Es kommt ihr vor wie Verrat, weil meines bald zu Ende sein wird.

Einen Moment noch bleibe ich stehen, genieße Wind und Regen in meinem Gesicht, dann folge ich ihr über den Parkplatz und die Straße, den kleinen Sandweg an der Klinik vorbei. Beim Findling am Ende des Weges wartet sie. Ich präge mir ein, wie sie da steht: in Gummistiefeln, Regenhose, die Kapuze der Jacke eng über den Kopf gezogen. Sie lächelt mich an.

Durch den Sand gehen wir ans Wasser, dorthin, wo zu gehen leichter ist. Der Wind schiebt uns vor sich her Richtung Osten. Sein Tosen macht Unterhaltungen schwierig und Tessa ist immer ein paar Schritte voraus, weil ich im Sand nach Hühnergöttern suche oder mich in den Wind stelle und den Wellen zusehe, wie sie an den Buhnen brechen, bevor sie am Strand aufschlagen.

Manchmal versucht sie witzig zu sein. “Hättest du nicht im Frühling sterben können oder im Sommer?”, fragt sie dann. Aber ich mag den Herbst: Ungezähmt stürmen die Winde über die Ostsee und peitschen dir ungerührt den Regen ins Gesicht.

Am Kugelfangberg gehen wir wieder nach oben, treten den Rückweg an, hinter dem Küstenschutzwald, wo es weniger stürmt. Ausbeute: zwei Hühnergötter. Wieder zu Hause, lege ich sie in die Schale zu den anderen. Ich weiß, dass Tessa sie auffädeln und an den alten Kirschbaum hängen wird.

Wir trinken Tee und reden über Norwegen. Nach der Reha waren wir dort. Drei Monate ist das her. Dann liest Tessa mir vor. Als ich aufwache, regnet es noch immer und ich setze mich ans Fenster, beobachte, wie der Regen in Pfützen Blasen bildet.
Tessa sagt: “Du wirst noch ganz trübsinnig werden, wenn du die ganze Zeit in den Regen starrst.”
Aber meine Sinne waren nie weniger trüb, obwohl ich ständig müde bin. Aus uns allen entweicht jeden Tag ein bisschen Leben wie Luft aus einem Ballon. Aus mir aber schneller als gedacht.

Am Nachmittag kommt Kathrin, meine Ex-Frau. Sie weint und ich sage: „Ist schon gut!“
„Es tut mir so leid!“, sagt sie und: „Das ist einfach nicht fair!“
Ich sage nichts, schließe die Augen und lausche dem Rhythmus, den die Regentropfen auf das Fenster trommeln.
„Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“, fragt Kathrin.
„Was würde es ändern?“, frage ich zurück und versuche nicht an all die Pläne zu denken, die ich nicht mehr umsetzen werde, nicht an all die Tage, an denen ich vermeide in den Spiegel zu sehen, weil ich die Angst nicht ertrage, die mich daraus anblickt.
Es ist so: Ich habe keine Zeit, wütend zu sein. Weder auf die Ungerechtigkeit des Lebens, noch auf Kathrins Mitleid. Wieder einmal bin ich dankbar für Tessa. Ich weiß, dass sie weint, aber nie vor mir. Denn ich bin damit beschäftigt, Dinge zum letzten Mal zu tun. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass ich zu Tessa gesagt habe: „Wir müssen mehr Dinge zum ersten Mal tun. Mit fünfzig ist man in diesem Alter.“

„Er braucht Ruhe!“, sagt Tessa und Kathrin nickt. Sie umarmt mich. Das nächste Mal wird Tessa sagen, es gehe mir zu schlecht, um Besuch zu empfangen. Abends geht sie zum Sport und ich schreibe weiter an dem Brief für sie.

Ich schreibe über den Herbstwind, der übers Wasser tost.
Ich schreibe über Blasen, die sich in Pfützen bilden.
Ich schreibe über ihr Lächeln im Regen.

 

Hallo Katta,

ich las die Story bereits bei ihrem Erscheinen, verkniff mir aber vorerst einen Kommentar. Nunmehr, nach erfolgter Empfehlung, entdeckte ich sie neu. Der Text ist äußerst einfühlsam geschrieben, zeigt die Gefühle eines schwerkranken Menschen, der seinen bevorstehenden Tod akzeptiert hat und solcherart Frieden findet. Schöne Szene, atmosphärisch, stimmungsvoll dargebracht, sie hat mich nachdenklich zurückgelassen.
Die Überarbeitung hat dem Text gut getan, ich finde, so wie er nun ist, sollte er bleiben. Bitte nicht zu Tode "korrigieren", es reicht, wenn der Prot sterben muss.
Gratulation zur Empfehlung, ganz in meinem Sinn. :)

 

Hallo liebe @Manuela K.,
lieben Dank dir für deinen Kommentar. Habe mich natürlich über deine wohlwollenden Worte gefreut. Ja, ich denke auch, dass er so bleibt, manchmal findet man dann aber irgendwie doch noch ein Komma oder so, daher noch mal die späte Korrektur.
Viele Grüße und genieße den Rest vom Sonntag!
Katta

 

Ich mag die Vorstellung, dass die Protagonistin schon tot ist und wieder ein Mal ihr Geist mit ihrer Freundin wandern geht.
Das gibt der Text nicht so wieder, aber ich denke, das würde mir gefallen. Als wäre all das schon geschehen und die treue Freundin nimmt sie immer wieder mit auf die Wanderung.

 

Hallo @Katta,
gern gelesen, gut geschrieben und ja, was ist zu dem Thema nicht schon geschrieben worden. Viel zu viel und viel zu wenig. Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens Erfahrungen mit dem Thema gemacht; deshalb reflektiert jeder unterschiedlich. Das Sterben eines Bekannten/Freundes oder Kollegen oder wie sein eigenes Ableben. Aus den Kommentaren lese ich, dass Du weit über Religion und Biologie hinaus bist, deshalb fehlt mir ein wenig der Tiefgang. Ja, ich weiß - es sind oft Floskeln, Standard-Reaktionen oder simpelste, sprichwortartige Gedanken, die einen aus der Fassung fetzen - ihre Kombi spielt da eine wesentliche Rolle; das hast Du drauf, die Reihenfolge und doch - ich habe in meinem Leben viele gehen sehen ... mit 16 eine meiner ersten Freundinnen, mit 20 Mitmusiker, mit 30 die ersten Kameraden an Krebs, meine Schwiegereltern, meine Eltern, mein Bruder und bei mir war mit 32 Verdacht auf ... die zwei Wochen bis zur OP hatte ich Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken - sollte er bösartig sein - prophezeite mir der Onkel Doktor - blieben mir noch etwa sechs Monate ... nun ja, jetzt ich bin 68 und putzmunter. Mit diesem Sack voller Erlebnisse sehe ich Deine Geschichte ein bisschen wie durch eine gefärbte Brille: Gut, aber es wäre mehr drin gewesen. Noch tiefer, noch dichter ran, noch ein bisschen näher.
Okay, das nächste Mal. Danke für´s Lesen können.
Beste Grüße
Detlev

 

Hallo @Detlev,
vielen Dank fürs Lesen und auch den Kommentar.

Aus den Kommentaren lese ich, dass Du weit über Religion und Biologie hinaus bist, deshalb fehlt mir ein wenig der Tiefgang.
Das hab ich ehrlich gesagt, nicht verstanden. Weit über Religion und Biologie hinaus?

Mit diesem Sack voller Erlebnisse sehe ich Deine Geschichte ein bisschen wie durch eine gefärbte Brille: Gut, aber es wäre mehr drin gewesen. Noch tiefer, noch dichter ran, noch ein bisschen näher.
Ich denke, wir lesen alle Geschichten durch unsere eigene Brille, wie auch immer gefärbt, was auch immer für eine Geschichte. Das ist ja genau der Moment, wenn eine Geschichte den Lesern gehört und nicht mehr dem Autor. Keine Ahnung, ob das auf die Kürze noch dichter dran sein kann. Ich für mich kann sagen, ich kann es wohl nicht - zumindest nicht ohne pathetisch oder so zu werden. Aber ich kann das gut hinnehmen, das du das so liest und freue mich trotzdem, dass du den Text gelesen und mir auch noch einen Kommentar dagelassen hast.

Hab eine gute Woche und viele Grüße
von Katta

 

Hallo @Katta

Eine traurige und wahre Geschichte hast du hier verfasst.

Der Einstieg ist bedächtig, fast etwas gewöhnlich, bevor dann emotional richtig zugeschlagen wird.

Ich habe die vorherigen Kommentare nicht gelesen, daher weiß ich nicht wieviel von dir bereits überarbeitet wurde. In der derzeitigen Fassung halte ich den Text jedenfalls für kaum verbesserungsfähig. Da sitzt wirklich alles!

Ich möchte zwei besonders starke Abschnitte herausgreifen:

Ich weiß, dass sie es nicht ertragen kann, das Leben zu spüren. Es kommt ihr vor wie Verrat, weil meines bald zu Ende sein wird.

Hier wird einem als Leser geschickt der Boden unter den Füßen weg gezogen. Ich habe gerade erst ein paar Sätze über diesen Charakter erfahren und schon wird mir erzählt, dass wir ihn verlieren werden.

Kurz und schmerzhaft, genau wie in der Realität. Sehr gelungen!

Es ist so: Ich habe keine Zeit, wütend zu sein. Weder auf die Ungerechtigkeit des Lebens, noch auf Kathrins Mitleid. Wieder einmal bin ich dankbar für Tessa. Ich weiß, dass sie weint, aber nie vor mir.

Das halte ich für den Kernpunkt der Geschichte. Ich arbeite schon lange als Krankenpfleger, da bekommt man natürlich viele schlimme Dinge mit. Leider auch das Sterben und den Umgang damit. Es gibt diesen abgegriffenen Kalenderspruch: ,,Du wirst nur die Dinge bereuen, die du nicht getan hast.‘‘

Ich kann das absolut bestätigen. Oft nimmt man das Leben als selbstverständlich hin und schiebt Dinge auf, die einem doch so wichtig wären. Bis es zu spät ist.

Sehr schön dargestellt ist das hier mit seiner Ehefrau. Offensichtlich erkennt er, dass die Verbundenheit nicht so groß ist, wie man es sich im Alltag immer einredet. Geschieden ist er schon, neue Beziehung hat er auch. Und sie scheint ihn besser zu verstehen. Dass er diesen Abschied mehr mit sich selbst und ohne großes Drama erleben möchte.

Eine harte und wahre Studie über das Leben selbst. Hat mich schon ziemlich mitgenommen. Aber auch das spricht ja für ein gelungenes Werk!

Liebe Grüße
Rainbow Runner

 

Hallo @FieberOptik, oje, entschuldige, ich habe deinen Kommentar übersehen bzw übersehen, dass ich dir noch gar nicht geantwortet hatte. Vielen Dank jedenfalls fürs Lesen, du hast da ja noch mal einen ganz anderen Ansatz.

Hallo @Rainbow Runner,
auch dir danke für deinen Kommentar und das Lesen. Ja, ich habe den Text mit Hilfe der Kommentare überarbeitet. Ist ja auch schön, wenn du nun gar nix mehr zum Verbessern findest. :lol:

Oft nimmt man das Leben als selbstverständlich hin und schiebt Dinge auf, die einem doch so wichtig wären. Bis es zu spät ist.
Ja, ich hatte vor Kurzem ein Gespräch mit jemandem, der eine Nahtoderfahrung gemacht hat. Die Person hat danach tatsächlich ziemlich radikal ihr Leben geändert, zB ihren Job aufgegeben. Ihre Beziehung zu Materie hat sich grundlegend geändert. Sie hat zu mir gesagt, dass ihr erst da wirklich klar geworden ist, dass man das alles nicht mitnehmen kann. Sie hat nur an die Menschen gedacht, die ihr wichtig waren. Ich finde auch, dass es gut ist, sich hin und wieder daran zu erinnern. Darum habe ich diesen Text - für mich vor allem - geschrieben und ich freue mich natürlich, dass du ihn ganz in diesem Sinne gelesen hast.

Vielen Dank noch mal fürs Lesen und viele Grüße
Katta

 

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