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Das Haus im Wald
Eisiger Wind fauchte, von Norden kommend, um das Haus. Es stand allein inmitten eines Waldes auf einem kleinen Hügel und seine Bewohner erfreuten sich seiner Abgeschiedenheit.
Zur Zeit waren hier nur zwei Menschen zuhause. Die junge Frau saß in einen alten, geschnitzten Holzstuhl mit hoher Lehne und schwungvollen Armstützen gekuschelt und konzentrierte sich auf ein Blatt Papier und auf die Bilder ihrer Phantasie, die sie mittels eines ergonomisch und ästhetisch perfekten Stiftes auf jenes Blatt bannte. Ihre Stirn war ob der Anstrengung leicht gefurcht, doch machte dieser Ausdruck ihr Gesicht zugleich verletzlich und noch anziehender, als es ohnehin schon war. Sie war nicht im klassischen Sinne schön, doch nannten viele sie hübsch mit ihren großen, braunen Augen, dem langen, welligen Haar und ihrem wohlproportionierten Gesicht, welches sich genau so viel Unregelmäßigkeit erlaubte, daß es interessant wurde. Sie selbst fand sich mal grau und unscheinbar, mal strahlend schön, je nach ihrer Verfassung. Heute hatte ihr Blick nur kurz den Spiegel gestreift, das dargebotene Bild für gut befunden und ihren Geist daraufhin wieder anderen Überlegungen überlassen.
Nun saß sie hier, vor sich ein Durcheinander aus Büchern, losen Blättern, Stiften und einigem mehr, und vergaß die Welt um sich her, während sie ihrer Arbeit nachging.
Die andere Person im Haus war ein junger Mann, welcher in gewisser Weise ihr Gegenstück darstellte. Er hatte gerade einen ausgeprägten Geländespaziergang hinter sich gebracht und kam nun mit einem Schwall kalter Luft zur Tür herein. Er war etwa zwei oder drei Jahre älter als die Frau, hatte kurzes, mittelblondes Haar und stahlblaue Augen. Er bezauberte vor allem mit seinem Lächeln und seiner offenen, freundlichen Art. Sie hatte vom ersten Augenblick an gewußt, daß er der richtige für den kommenden Lebensabschnitt war. In Lebensaltern rechnete sie trotz ihrer Jugend schon länger nicht mehr.
Als er nun in der Zimmertür stand und sie so in ihrer Welt versunken vorfand, blieb er unwillkürlich stehen, um sie zu betrachten. Er liebte diesen Anblick, wenn sie alles um sich herum vergaß und man sie unbemerkt hätte rauben können, sofern man es nur vorsichtig genug anstellte. Einen kurzen Moment erwog er den Gedanken, sie mitsamt ihrer Welt in die seine zu entführen, ließ es jedoch bei einem verträumten und von Zuneigung erfüllten Lächeln bewenden und betrachtete sie weiterhin zärtlich.
Obwohl er sich nicht gerührt hatte und auch keinen Laut von sich gab, mußte irgend etwas ihr seine Anwesenheit verraten haben, denn plötzlich sah sie mit einem Lächeln auf und fragte ihn, wie es draußen gewesen sei.
"Wunderschön!" sagte er, mal wieder davon überrascht, wie mühelos sie von einer Welt in die andere wechselte, ohne auch nur einen Hauch von Verwirrung darüber zu zeigen, daß eine plötzliche Veränderung eingetreten war. Er ging zu ihr herüber und gab ihr einen zärtlichen Kuß.
"Was ist mit den Öfen?" fragte er schließlich und erntete ein verschmitztes Lächeln.
"Der Küchenofen könnte demnächst etwas vertragen, dem Kachelofen geht es ausgezeichnet." Auch darüber war er immer wieder erstaunt: Ihre Fähigkeit, alles um sich herum zu vergessen, und gleichzeitig immer im richtigen Moment zu erwachen, um kleine Pflichten zu erfüllen, wie jetzt die Aufsicht und Pflege der Öfen. Sicher, es war ihr Haus, sie war damit aufgewachsen und all seine Bedürfnisse waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen, und dennoch überraschte sie ihn mit dieser Fähigkeit.
"Hast du Hunger?" fragte er, nachdem er seine zärtlichen Überlegungen zu einem vorläufigen Ende gebracht hatte. Sie sah auf, und ihr Blick spiegelte wider, daß auch sie immer wieder von seinen Fähigkeiten positiv überrascht war; in diesem Falle davon, wie er mit einem Blick erkannte, daß sie Hunger hatte, jedoch zu vertieft gewesen war, sich etwas zu essen zu holen. Also nickte sie und sagte aus tiefstem Herzen: "Oh ja, bitte", als er ihr anbot, etwas zuzubereiten. Sie wußte aus Erfahrung, daß er ein guter Koch war, aber auch, daß sogar belegte Brote durch ihn zu einer Delikatesse wurden. Und so kam es, daß sie etwa eine halbe Stunde später von ihm erneut aus ihrer Phantasiewelt gerissen wurde, nun aber für einen etwas längeren Zeitraum. Als sie die Küche betrat, staunte sie. Auf dem Tisch standen Brot und Wein, dazu, hübsch angerichtet, einige Sorten Käse, außerdem Schinken und Salami. Auf dem Herd stand eine Pfanne, aus der es verführerisch duftete, doch sie konnte nicht erkennen, was sich darin befand, da er den Deckel aufgelegt hatte. Zu all diesen Köstlichkeiten gesellte sich eine wahre Kaskade an Obst und Früchten und sie merkte erst jetzt so richtig, wie hungrig sie war.
Nun war es an ihr, zu lächeln.
"Möchtest du sehen, was du ißt?" fragte er mit einem warmen, beruhigenden Tonfall in der Stimme. Sie sah in seine Augen und wußte, daß es kaum etwas Schöneres geben konnte, als sich von ihm, des Gesichtssinnes beraubt, füttern zu lassen. Also schüttelte sie den Kopf und ließ sich von ihm die Augen mit einem schwarzen, kühlen Seidentuch verbinden. Sanft zog er sie zu sich heran, gab ihr einen Kuß und führte sie dann mit einer federleichten Berührung an ihrer Hand zu ihrem Platz am Tisch.
Er hatte ruhige und doch intensive Musik aufgelegt, welche die Situation perfekt untermalte. Nicht zu schwer und nicht zu leicht, wie ein guter Wein eine Mahlzeit unterstreicht.
Nun füllte er etwas aus der Pfanne auf ihren Teller, und sie sortierte mit ihrer Nase die verschiedenen Düfte, verglich sie mit bekannten und weniger vertrauten Gerüchen und versuchte so, das Gericht auf ihrem Teller schon vor der ersten Berührung mit ihrer Zunge zu erkennen.
Es roch sowohl süßlich als auch scharf, ein Hauch von Knoblauch spielte mit exotischem Ingwer, daneben ruhten Koriander und Muskat, umtanzt von feurigem Chili und fruchtiger Banane.
Obwohl sie kein Wort miteinander wechselten, spürte sie instinktiv, daß er eine vollgehäufte Gabel ihrem Mund näherte, und öffnete weit ihre Lippen. Sie vertraute ihm so sehr, daß sie keine Sekunde zögerte, als er die Gabel in ihren Mund schob, und wurde dafür belohnt: das Essen war genau so heiß, wie es sein mußte, um seinen köstlichen Geschmack voll zu entfalten, jedoch nicht so sehr, daß es ihr den Mund verbrennen konnte.
Ihre Zunge erkannte Reis, Nüsse und Rosinen, Paprika. Ihr Gaumen meldete Schärfe am oberen Rand der Erträglichkeitsskala, jedoch nicht den kritischen Wert überschreitend. Sie kaute, sondierte, schluckte und seufzte wohlig. Einen Bissen nach dem anderen schob er ihr zwischen die feucht schimmernden Lippen, immer mal wieder von Trauben, Apfelstückchen, Brot und Käse abgewechselt. Als der Teller leer war, lag ein befriedigtes Lächeln auf ihren Lippen und er schaute ihr zu, von ihrem Glück naschend und sich an selbigem sättigend.
"Hat es dir geschmeckt?" Sie nickte und unterstrich diese Geste der Bestätigung durch einen weiteren zufriedenen Seufzer. Seine Antwort in Form eines Lächelns konnte sie förmlich spüren, so sehr waren sie hier in der Einsamkeit zu einer Einheit verschmolzen. Eines nicht mehr allzu fernen Tages würden sie wieder in die Zivilisation zurückkehren, doch noch genoß sie die Zweisamkeit mit jeder Faser ihres Körpers, sog die bereitwilligen Beweise seiner Zuneigung auf wie ein ausgedörrter Schwamm und versank in der Produktivität ihrer Phantasie, wenn sie an ihrer Arbeit saß.
Nachdem sie eine Weile schweigend gesessen hatten, sie in ihre Gedanken vertieft, er einzig und alleine damit beschäftigt, sie zu betrachten, stand er auf, nahm ihre Hände und zog sie sanft zu sich herauf. Leise flüsterte er ihr etwas ins Ohr, küßte sie sanft, als sie unwillkürlich lächelte und führte sie dann vorsichtig nach oben.
Noch lange klang der Zauber dieser Zeit in ihr nach, doch von diesem Tag vergaß sie bis an ihr Lebensende nicht eine Sekunde.