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- 17.09.2010
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Das Haus eines Freundes
Die ersten spürbar warmen Sonnenstrahlen dieses Jahres erfreuen die Straßen der Innenstadt, die ich in den letzten Monaten täglich zweimal passiere, manchmal guter Dinge, oft jedoch eher betrübt und in mich gekehrt. Doch das Versprechen eines vorzeitigen Frühlings lässt auch meine Gedanken nicht unbeeinflusst und ich erinnere mich an Zeiten, in denen mir die Gesichter der anderen Menschen nicht so leer, die Tage nicht so uninteressant und beiläufig erschienen.
Die Wärme durchdringt die Beine meiner schwarzen Anzughose, die sie wie Asphalt absorbiert. Meine Gedanken schweifen zu einem schon Jahre zurückliegenden Morgen am Frühlingsanfang, an dem ich mit meinem Fahrrad die angewärmten Straßen zum Haus eines guten Freundes fuhr, es war vielleicht Dienstag oder Donnerstag, sicherlich jedoch ein Wochentag, da die meisten Autos, die mich überholten oder mir entgegenkamen, Geschäftsfahrzeuge und Busse von Handwerksunternehmen waren und bis auf ein paar Rentner niemand die laue Atmosphäre in den kleinen Gärten unseres im Wald gelegenen Dorfes genoss. Ich kam wie immer unangekündigt und traf ihn wie gewöhnlich in gastfreundlicher Laune an. Wir gingen in die Küche, er kümmerte sich geruhsam um Kaffee, und ich warf derweilen einen Blick in die frische Zeitung, die auf dem Tisch lag.
"Frühlingsanfang verspricht Aufschwung am Arbeitsmarkt", zitierte ich eine Überschrift.
"Ja, hab's gelesen. Gott behüte uns."
Wir lachten, warteten auf den Kaffee und diskutierten darüber, ob es nicht Lebenssinn und Erfüllung genug sei, einen wundervollen Vormittag wie diesen müßig zu verleben. Wir waren uns einig darin, dass alles andere schlichtweg ignorant wäre.
Als der Kaffee fertig war, nahmen wir uns jeder eine Tasse und außerdem ein Stück selbstgebackenen Käsekuchen und setzten uns voller Vorfreude auf unseren simplen Genuss in den schlecht gepflegten Garten. Unser gelebter Affront gegen Leistungsfixiertheit und blindem Streben ergab für gewöhnlich immer genügend Gesprächsstoff, doch an diesem Vormittag waren wir eher schweigsam und darauf bedacht, die Eindrücke um uns herum so genau wie möglich aufzunehmen: den noch ungewohnt klingenden Gesang der Vögel, die Ruhe der Straße, die eigentümliche Verlassenheit des Dorfes, den Duft des Waldes, das Rauschen des Baches nicht weit hinter dem Haus. Wir fühlten uns gewissermaßen privilegiert.
Meine Gedanken kehren unvermittelt zurück in den Frühlingsmorgen der Gegenwart, in dem ich sein Haus leer und seinen Garten wahrscheinlich besser gepflegt vorfinden würde, wenn ich die Zeit hätte, ihn zu besuchen.
Das Leben hat uns voneinander weggetragen, an uns fremde Positionen in der Gesellschaft, getarnte Geheimagenten in ungewollter Mission, und ich frage mich, ob ich gerade der Einzige bin, der sich wehleidig an jenen Morgen erinnert.