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Das Gras auf der anderen Seite...
Das Gras auf der anderen Seite…
„Wenn ich nur einen großen Bruder hätte, wie Finja,“ seufzt Nele und beugt sich entmutigt über ihr Schulheft, „dann würde er mir jetzt bei Mathe helfen.“ „Aber Du hast doch einen großen Bruder?“ erwidert Anke erstaunt. Nele schüttelt den Kopf: „Damian ist anders. Er interessiert sich kein Stück für mich. Immer dreht sich bei ihm alles um seinen Sport. Nie würde er mir beim Lernen helfen. Nie ist er für mich da!“
Anke hätte auch gerne einen großen Bruder, oder einen kleinen, oder überhaupt Geschwister, egal ob Junge oder Mädchen. Sie ist ein Einzelkind, ihre Mutter zudem alleinerziehend und berufstätig. Deshalb ist Anke oft allein zu Hause und fast genau so oft bei Nele oder Finja zu Besuch. Die drei sind dicke Freundinnen. Nur heute ist Finja nicht dabei. Ihr Bruder Marc hat einen Auftritt mit seiner Band und die ganze Familie ist dabei um ihm zuzujubeln. Wenn sie daran denkt, wird auch Anke neidisch. Ihr Mutter muss immer arbeiten, hat nur selten zeit irgendwo mit ihr hin zu gehen. Hätte sie doch nur einen Vater wie Nele und Finja, Geschwister oder zumindest Großeltern, aber Anke hatte niemanden, da waren nur ihre Mutter und sie und Anke fühlte sich oft einsam und allein.
„Finjas Bruder beschützt sie immer, wenn einer sie dumm anmacht. Und wenn es dunkel ist, lässt er sie nie alleine nach Hause gehen. Da geht er mit und passt auf sie auf!“ erzählt Nele weiter. Anke lacht: „Als bräuchten wir jemanden, der uns beschützt!“ und tippt dabei auf die Außentasche ihres Rucksacks in dem immer griffbereit eine Dose Pfefferspray steckt. Ihre Mutter hatte ihr früh beigebracht für sich selbst zu sorgen. Sie konnte Wäsche waschen, Tiefkühlpizza aufbacken und sich verteidigen, wenn es nötig wäre. „Auf andere kann man sich nicht verlassen,“ hatte ihre Mutter gesagt, „schon gar nicht auf Männer!“ und war mit ihr zum Selbstverteidigungskurs der Volkshochschule gegangen. Aber da kam sich Anke komisch vor unter all den älteren Frauen.
Jetzt lacht auch Nele: „Ja, wir können schreien, beißen und zwicken!“ aber Anke spürt, dass ihre Freundin selbst nicht so ganz überzeugt ist, von dem was sie da sagt. Und als sie daran denkt, wie sie neulich im Park von diesem Typen angemacht worden war, der so eklig nach Alkohol gestunken hatte, wurde ihr ganz mulmig zumute. An das Pfefferspray hatte sie in diesem Moment gar nicht mehr gedacht, auch nicht an kreischen, beißen und zwicken. Stattdessen hatte sie die Beine in die Hand genommen und war voller Panik bis nach Hause gerannt. Dort hatte sie die Haustüre zweimal hinter sich abgeschlossen und den ganzen Abend über geweint. Doch das wird sie Nele und Finja niemals erzählen.
Kurze Zeit später klingelt es an der Tür. Finja kommt und erzählt voller Begeisterung vom Bandauftritt ihres Bruders: „Das war soooo cool! Die haben voll abgerockt und ihr hättet den Schlagzeuger sehen sollen, der war ja sooooo süß! Marc hat gesagt, er läd ihn zu seinem Geburtstag ein. Oh man, ich glaub, ich hab mich verliebt!“
Jungs, das Gesprächsthema Nummer eins zwischen Anke und Finja. Stundenlang können sie sich über ihre neuesten Schwärme austauschen und merken dabei gar nicht, wie Nele immer stiller wird. Jungs interessieren sie nicht, sagt sie immer und fügt manchmal scherzhaft hinzu, dass die erstmal richtige Männer werden sollen. Aber eigentlich ist ihr das Thema ziemlich egal. Nur manchmal fragt sie sich, ob sie überhaupt noch ganz normal ist, weil sie sich mit ihren 14 Jahren noch gar nicht für Jungs interessiert und den Gedanken an Sex einfach nur eklig findet.
Gedankenverloren geht sie zum Käfig ihres Hamsters Bert hinüber und steckte ihm ein Stückchen Karotte durch die Gitterstäbe zu. Bert scheint manchmal der einzige zu sein, der sie wirklich versteht. Manchmal sieht er sie mit diesem wissenden und mitleidsvollen Blick an, wenn sie ihm sein Futter bringt, so als wüsste er über alles Bescheid.
„Oh, Gott, es ist ja schon fast sechs!“ ruft Finja plötzlich, springt auf und beginnt ihre Schulsachen in ihre Tasche zu stopfen. Finja muss jeden Abend pünktlich um sechs zum Abendessen mit der Familie zu Hause sein. Da sind ihre Eltern sehr streng. Manchmal, am Wochenende, darf sie danach noch mal raus, aber trotzdem ist das Abendessen Pflichttermin der Familie. Fast wie in einem Verhör erfragt ihr Vater da die Ereignisse des Tages seiner Familienmitglieder. Es ist ihm wichtig zu wissen, was alle seine Lieben so erlebt haben. Und auch wenn Finja weiß, dass ihre Eltern es nur gut meinen, beneidet sie Anke manchmal, die so etwas wie ein Privatleben hat, deren Mutter nicht immer über alles Bescheid wissen muss und ihr so viele Freiheiten lässt. Manchmal fühlt sie sich in ihrer Familie richtig eingesperrt, aber darüber kann sie mit Nele und Anke nicht reden. Sowas verstehen die nicht.
Auch Anke geht nach Hause. Sie gibt vor, zu Hause noch eine Folge ihrer Lieblingsserie im Fernsehen anschauen zu wollen, aber eigentlich hat sie Angst davor im Dunkeln alleine durch den Park nach Hause zu gehen. Ihre Mutter hat heute Spätdienst, glaubt Anke zumindest, so genau weiß sie das nie. Auf jeden Fall würde sie es bis Morgen früh nicht mit bekommen, wenn Anke etwas zustoßen würde und sie nicht nach hause käme. Und seit da neulich dieser Typ mit der Alkoholfahne… Neles Hamster schaut sie aus seinem Käfig wissend an. Anke geht hinüber und streckt ihren Finger zwischen den Gitterstäben hindurch. Und während er an ihrer Fingerkuppe leckte wünscht sie sich, zu Hause wäre jemand, der sie erwartet, auch wenn es nur ein Tier wäre, aber Haustiere waren in der kleinen Mietwohnung, die sie mit ihrer Mutter bewohnte, nicht erlaubt.
Nele bleibt alleine in ihrem Zimmer zurück. Sie öffnet die Tür am Hamsterkäfig und spielt mit ihm, während sie weiter an ihren Mathematikaufgaben herumrechnet. Unten kann sie die Stimmen ihrer Eltern hören. Sie weiß, bald werden sie sie zum Abendessen rufen, aber sie hat gar keine Lust nach unten zu gehen. Sie konnte es nicht in Worte fassen, aber irgendetwas an der Stimmung dort unten machte ihr Angst. Wenn doch zumindest Damian da wäre, aber der ist mal wieder beim Training, mit seiner Clique unterwegs oder bei seiner Freundin. Ja, Damian hat eine Freundin und Nele hasst sie, genauso wie seine Freunde, seinen Sport und alles was ihm wichtiger ist, als sie. Warum kann er nicht einfach für sie da sein und ihr bei diesen blöden Aufgaben helfen. Warum kann er sich nicht einmal wie ein großer Bruder verhalten?
Kurz nach zehn schaltet Anke den Fernseher aus und wirft den leeren Pizzakarton ins Altpapier. Sie will gerade in ihr Zimmer gehen, als sie den Schlüssel im Schloss hört und sich wundert: Ihre Mutter ist heute früh dran. Normalerweise kommt sie erst viel später nach Hause. Egal ob sie arbeitet oder nicht, betritt sie kaum mal vor Mitternacht die Wohnung. „Anke, Schätzchen, Du bist noch wach?“ ruft sie fröhlich, als sie die Tür öffnet. Hinter ihr wieder mal einer dieser Typen, denen Anke öfters morgens im Bad begegnete. „Das ist Pietro!“ sagt sie und kichert wieder, während sie ihn an ihrer Tochter vorbei ins Wohnzimmer schiebt und eine Flasche Wodka aus dem Schrank nimmt um sich und ihrem Lover ein Glas einzuschenken. „Willst Du auch einen, Schätzchen!“ hört Anke sie ihr noch hinterher rufen, ehe sie in ihrem Zimmer verschwindet und sich in ihr Bett legt. Sie steckt sich die Kopfhörer ihrers MP3 Players in die Ohren, doch die laute Musik schafft es kaum, die Geräusche aus dem Nebenzimmer zu übertönen. Anke stöhnt: „Warum kann ich nicht einfach eine ganz normale Familie haben, wie Nele oder Finja?“
Das klirrende Geräusch zerbrechenden Porzellans reißt Nele aus dem Schlaf. Ein dumpfer Schlag, wütendes Schreien… Nele steht auf uns schleicht in ihrem himmelblauen Flanellschlafanzug über den Flur zum Zimmer ihres Bruders und klopft leise an dessen Tür: „Sie streiten schon wieder!“ „Komm rein,“ sagt Damian und lässt seine Schwester sich zu ihm ins Bett kuscheln. „Jeden Abend dasselbe. Ich wünschte, sie würden sich endlich scheiden lassen.“, flüstert er. Nele weint. Sie wünscht, dass sie sich wieder vertragen, wie sie es früher getan haben, dass sie zusammen bleiben, sich vertragen und lieben, dass alles wieder so ist wie in einer normalen Familie, aber sie sagt es nicht, weint nur leise vor sich hin. Damian streichelt ihr über den Kopf und tröstet sie: „Egal was passiert, wir beide halten zusammen. Ich hab Dich lieb!“
Auch Finja schläft noch nicht. Sie liegt wach in ihrem Bett und lauscht den Geräuschen im Haus. Unten in der Küche klappert ihre Mutter mit dem Geschirr. Das tut sie jeden Abend. Papa will, dass die Küche jeden Abend noch aufgeräumt wird, dass kein dreckiges Geschirr mehr herum steht. Alles muss pikobello sein. Das ist ihm wichtig. Und so steht Mama Abends noch in der Küche, während er im Wohnzimmer sitzt und die Spätnachrichten sieht.
Oben klimpert Marc auf den Saiten seiner Gitarre herum, ehe er zum Duschen ins Bad geht. Bald darauf hört Finja die Schritte ihrer Mutter auf der Treppe und stellt sich schlafend, als sie die Tür öffnet, um vorm zu Bett gehen, noch einmal bei ihren Kindern nach dem rechten zu sehen. Dann wird es still im Haus. Jetzt ist nur noch ihr Vater wach und Finja, die angstvoll seinen Schritten in die Nacht hinein lauscht, bis sie ihn die Treppe herauf kommen hört. Oben, vor ihrer Zimmertür bleibt er kurz stehen. Finja hält die Luft an. Dann betritt er ihr Zimmer und schließt hinter sich die Tür. „Du brauchst Dich gar nicht schlafend zu stellen, Finja“, sagt er scharf: „Ich weiß, dass Du wach bist, und auf mich wartest!“
Am nächsten Morgen treffen sich die Mädchen in der Schule wieder. Anke ist die erste und sitzt längst mit perfekt überschminkten Augenringen auf der Mauer am Pausenhof, als Nele sich gähnen zu ihr gesellt. Sehnsüchtig blicken die beiden Mädchen zur anderen Straßenseite hinüber, wo sich Finja und Marc gerade am Auto mit einem Küsschen von ihrem Vater verabschieden. „Wenn ich doch nur einen großen Bruder hätte, wie Finja“, seufzt Nele. „Wenn ich nur einen Vater hätte, wie Finja“, seufzt Anke während die beiden Geschwister den Pausenhof betreten. Und drüben, am anderen Ende des Pausenhofs, wendet Damian schnell seine Augen ab und blickt zu Boden, denn er will nicht, dass jemand den besorgten Blick sieht, den er seiner Schwester zu wirft. „Alles ok?“ formt er tonlos mit seinen Lippen und kann sich erst wieder auf das Basketballspiel konzentrieren, als Nele unmerklich nickt.
02.12.2011