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Das Grab
Und wieder blickte er auf den nassen, mit Unkraut überwucherten Erdboden hinab. Wieder legte er diesen tiefschwarzen, mit Melancholie gesäuerten Blick auf und starrte ihn an. Einige Minuten stand er nur so dort, bis er seinen bereits vollkommen durchnässten Mantel schloss und seine Füße auf dem Kiesweg, welcher inzwischen einer Matschpiste glich, den Ausgang des Friedhofs suchten.
Eigentlich hatte man ihm gesagt, er solle sich nicht mehr dort aufhalten. Mehrere Male ermahnte ihn der Friedhofswächter dazu, doch es interessierte ihn nicht. Er wollte sich Tag für Tag sein Werk anschauen. Tag für Tag. Er wollte jedes Mal mit einem schwermütigen Gefühl vom Totenacker gehen und sich seine Taten eingestehen müssen. Er wollte dafür büßen, was vor Jahren in dieser dunklen, regnerischen Nacht passierte, doch es war zu spät. Wenigstens sehen wollte er seine Gräueltaten.
Ob es Zufall war, das es nunmehr immer anfing in Strömen zu gießen, wenn er den Platz betrat? Er hielt es für ein Zeichen des Schicksals. Der gleiche Ort, das gleiche Wetter, dasselbe Gefühl. Jeden Abend erlebte er die Nacht von Neuem, jeden Abend wenn er den Friedhof betrat. Eigentlich sollte er damit abschließen. Das Gericht interessierte sich nicht mehr für ihn, jedenfalls das irdische. Doch für ihn wird diese Nacht immer ein Kapitel seines Gewissens bleiben, vermutlich würde er nie abschließen können, niemals.
Jeden Abend stand er da und starrte. Er starrte auf den moosbedeckten Grabstein, niemand kümmert sich darum, und las die Inschrift. Immer wieder von Neuem, minutenlang.
H. P. Scherling 1938-1973 ruhe in Frieden
Ruhe in Frieden. Wie sehr er sich danach sehnte dem gleich zu tun, doch er konnte nicht. Er wurde verfolgt, vom ewigen Leid – An Flucht war nicht zu denken.
Wenn er dann endlich bereit war, seine Instanz des Starrens zu beenden, nahm er den Weg auf Richtung Fahrzeug. Wie immer parkte er an dem kleinen Feldweg, direkt unter der schweren Eiche, welche sich vor seinem kleinen Wagen auftürmte, als wolle sie ihn verschlingen. Den Wagen samt Fahrer. Er fuhr zurück zu seiner Wohnung um sich ins Bett zu legen. Von dem einen verhängnisvollen Tag im Jahre 1973 an, verlief sein Leben nur noch in einer elendig monotonen Art und Weise: Arbeiten – Friedhof – schlafen.
Wie immer musste er sich den hetzerischen Blicken seiner Nachbarin Anneliese Wegner aussetzen, die mit Argusaugen über ihn Wachte, als wäre er ein Verbrecher.
„Scheren sie sich endlich weg von hier, Herr Scherling!“
Jeden Abend derselbe Satz. Derselbe Blick, er war von nun an nicht mehr erwünscht. Für die Bewohner des kleinen Dorfes war es nicht wichtig, die Wahrheit zu erfahren, sie wollten lediglich Frieden in ihrem Ort, und mit Herrn Scherling konnte der nicht seine Runden ziehen.
Er war es leid. Die ewigen Anschuldigungen, die Beleidigungen und frechen Blicke – Dabei hatte er selbst doch schon genug zu kämpfen. Sollte er dem ein Ende setzen? Lange dacht er darüber nach, sich das anzutun, was man ihn anschuldigte seiner Frau angetan zu haben. Warum sollte er dafür büßen, was ein anderer getan hat? Er wusste es nicht, doch er erkannte dass er es hätte verhindern können – Er hätte seine Frau beschützen können und er tat es nicht.
Es wäre doch so einfach – dem ganzen endlich ein verfluchtes Ende zu setzen, vermutlich würde er damit der ganzen Welt einen Gefallen tun.
War es nun soweit? Setzte endlich der erkorene Moment ein, auf den er hatte minutenlang warten müssen? Ging ihm die Luft aus, die seinen Körper mit Leben versorgte? Ein letztes reflexartiges Ringen dann war es geschafft. Das Urteil war vollzogen.