- Beitritt
- 16.03.2015
- Beiträge
- 4.215
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 36
Das Goethe-Prinzip
Im Auto surrte die Luft vor Technik. Bunte Leuchtdioden flimmerten im Rhythmus der Straße und spiegelten sich im polierten Holzinterieur wider.
Katja las die Kurzmitteilung und blickte wieder aus dem Seitenfenster. „Ecke Bismarckstraße, schreibt er.“ Dann beugte sie sich nach vorne. „Da, Papa! An der Laterne! Der Tekki unserer Klasse.“
Sie starrte auf die Straßenkarte, in der Livestreams der Rundum-Dachkamera eingebettet wurden. Ein blinkender Punkt stellte Toms Position dar.
„Anhalten. Fahrgast mitnehmen. Hintere Tür“, sagte Karl Jansen tonlos, ohne den Blick von seiner Zeitung zu lösen, die er über die Knie aufgeschlagen hatte.
Das Auto blinkte, wechselte die Spur, reduzierte die Geschwindigkeit und hielt schließlich in einer Parkbucht. Während der Elektromotor im Stand-by-Betrieb vor sich hin gähnte, glitt die hintere Tür geräuschlos auf.
Tom fläzte sich auf das Leder. „Guten Morgen.“ Er legte seine Schultertasche auf den mittleren Platz und schnallte sich an. Das Tablet hinter dem Beifahrersitz fuhr hoch und synchronisierte sich mit dem Schul-Laptop in Toms Tasche.
Während sich seine Kopfstütze, die Klimaanlage und Sitzheizung neu justierten, ertönte Katjas Stimme aus dem Deckenlautsprecher. „Willkommen, Tom. Hoffe, du hast deine Hausaufgaben gemacht. Wünsche dir eine gute Fahrt.“
Kopfschüttelnd schaute Tom Katja an, die laut auflachte und ihn auf das Knie schlug.
„Sorry, aber das musste sein. War echt schwierig, meinen Vater dazu zu überreden.“
„Witzig“, grunzte Tom und rief dann seinen Posteingang am Tablet auf.
Das Auto hatte mittlerweile eine freie Lücke auf der Straße entdeckt und rollte ein Stück heraus. Es zögerte, um ein herankommendes Fahrrad passieren zu lassen. Plötzlich machte es einen bedrohlichen Ruck nach vorne. Der Radfahrer trat heftig in die Pedale und konnte noch rechtzeitig auf die Fahrbahnmitte ausweichen.
Jansen wischte sich den Kaffee von der Hose, der aus dem Becher übergeschwappt war. Er drückte einen Knopf an der Armatur; das Fahrzeug fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.
Die nächste Ampel überfuhr das Auto, kurz bevor die Leuchte von Gelb auf Rot umsprang. An einem Joystick regelte Jansen die Geschwindigkeit etwas herunter, schüttete frischen Kaffee nach und nahm sich den Sportteil der Zeitung vor.
Tom, der die Szenerie mit großen Augen beobachtet hatte, wandte sich endlich an Katjas Vater.
„Sie müssen mir unbedingt alles erklären, Herr Jansen.“ Seine Stimme überschlug sich, während er sich aufgeregt am Tablet vor sich zu schaffen machte. „Wie viel sind Sie schon gefahren? Und mussten Sie schon Mal eingreifen? Ich meine, so richtig …“
„Eine Ladung reicht für eintausend Kilometer, ohne Solarpanels.“ Jansen schaute aus dem Fenster. „Wenn das Wetter besser wäre, bräuchte man nicht nachzuladen. Ich selber bin erst fünfzigtausend gefahren. Meine Kollegen aber Millionen.“
Demonstrativ stieß Jansen mit dem Fuß auf die vordere Ablagefläche, unter der das System und die Not-Steuerung eingebaut waren. „Ich bin eher für das Innenleben verantwortlich. Und, nein, ich musste noch nicht eingreifen. Noch keiner. Der 4er ist völlig ausgereift, bis auf ein paar Kinderkrankheiten halt.“ Jansen drehte sich kurz nach hinten. „Meinst du, er wäre sonst zugelassen oder ich dürfte euch sonst mitnehmen?“
Tom nickte eifrig. „Aber was ist denn bei Notfällen? Entscheidet der Wagen alleine?“
„Quatsch.“ Jansen schüttelte den Kopf. „Soll eine Maschine entscheiden, ob der Wagen gegen eine Laterne donnern oder auf den Bürgersteig rasen soll? Willst du das? Ich nicht.“
„Nee, nee. Auf keinen Fall.“
Katja stieß Tom von der Seite an. „Jetzt hör doch Mal mit deiner Fragerei auf.“ Dann flüsterte sie: „Schick mir mal Mathe rüber.“
„Ist schon okay, Katja“, wiegelte Jansen ab und nahm seinen Becher Kaffee. „Kannst mich ruhig weiterfragen, Tom. Der Spruch Den Fahrer während der Fahrt nicht ansprechen gehört bald endgültig der Vergan…“
Jansen erschrak, als der Motor aufheulte und sämtliche LED-Anzeigen rot leuchteten. Fluchend schlug er den Kaffeebecher fort, der ihm auf dem Schoß gefallen war. Die Reste des heißen Getränkes flossen in die Elektronik.
Ein Knistern. Kabelisolationen begannen zu kokeln. Die Gurte im Fond strafften sich. Katja und Tom umklammerten die Vordersitze, während Jansen versuchte, sich gleichzeitig anzugurten und die Not-Steuerung zu erreichen. „Keine Sorge.“
Ein lauter Knall. Das Fahrzeug schlug hinten aus. Jansen wurde in den Sitz zurückgeschleudert. Aus den Radkästen klapperte es, die Lautsprecher-Warnhinweise wurden durch quälende Geräusche übertönt. Es roch nach angesengtem Kunststoff.
Das Fahrzeug folgte stur seiner Route und bog mit überhöhter Geschwindigkeit scharf rechts ab. „Festhalten!“, schrie Jansen und beugte sich nach vorne.
Den Leuten auf dem Ampelüberweg stand die Panik ins Gesicht geschrieben. Eine Frau stieß ihren Kinderwagen fort, ein Junge rannte zur Seite, ein Alter stolperte.
Jansen gelang es noch, den Schalter zu drücken, bevor er sich schützend die Hände vor das Gesicht hielt.
Der Richter schaut zum Zeugenstand. „Was haben Sie und Ihre Kollegen vom Kraftfahrtbundesamt bei der Untersuchung des Unfallherganges herausfinden können, Herr Habermehl?“
„Nun ja. Die Auswertung der Dateien ergab, dass Steuerung und Bremsen versagt haben …“ Er wirft einen kurzen Blick auf die erste Reihe, wo Jansen sitzt, der seine Hände wie zu einem Gebet gefaltet hat. „Herr Jansen, der Ingenieur des Autoherstellers, hatte ja weder Lenkrad, Kupplung oder Hand- und Fußbremse, die er betätigen konnte. Nur den Notschalter, den er viel zu spät gedrückt hat. Entweder wollte er sich auf das System verlassen oder er konnte nicht schneller reagieren.“
„Keine Mutmaßung, bitte“, ermahnt ihn der Richter.
„Entschuldigung.“ Habermehl trinkt einen Schluck Wasser. „Das System beeinflusst – besser gesagt: es steuert – bei drohenden Unfällen die Reaktion des selbstfahrenden Autos. Es wägt eventuell auftretende Schäden gegeneinander ab, sodass möglichst wenig Personenschaden anfällt. Es trifft sozusagen eine moralische Entscheidung.“
Im Zuhörerraum wird getuschelt. Einige schauen sich ungläubig um.
„Das System lädt während der Fahrt ununterbrochen Personendaten aus dem Umfeld des Autos. Zum Beispiel ganz normale Daten der Telefonprovider oder Bewegungsprofile aus Sozialen Netzwerken. Algorithmen erkennen Gesichter.“
Ein Raunen. Die Stimmung ist gereizt.
„Bitte erläutern Sie das System genauer.“
Habermehl wirft einen Blick in die Zuschauerreihen und schaut dann wieder auf seine Unterlagen. „Nun ja, Herr Vorsitzender. Die Deutschen E-Mobil Werke nennen es intern Goethe 2.0, benannt nach dem Goethe-Prinzip.“ Er trinkt wieder einen Schluck Wasser.
„Goethe-Prinzip?“
„Zu Zeiten Goethes musste man, wenn man abends in Frankfurt rausging, eine Laterne mitnehmen, da es noch keine Straßenbeleuchtung gab. Man hatte entweder eine Kerze, zwei oder drei Kerzen in seiner Laterne. Man musste denen, die mehr in ihrer Laterne trugen, auf dem Weg ausweichen. Mit einer Kerze war man aus der oder sozusagen in der Gosse; nur gut Betuchte hatten zwei oder drei Kerzen.“
„Gut. Und was hat das mit dem System im Fahrzeug zu tun?“
Habermehl räuspert sich. „Goethe 2.0 teilt die Personen, die mutmaßlich verunfallen, nicht in drei, sondern in vier Kategorien ein. Berücksichtigt werden gesellschaftlicher Rang, Herkunft, Alter, Geschlecht. Berufe. Es gibt eine Kerze, zwei oder drei. Es gibt auch … keine Kerze.“
Es wird lauter, einige recken sich auf. Jemand schreit: „Wie konnte die Ethikkommission dem zustimmen?“
Der Richter erhebt die Stimme. „Ruhe!“
Habermehl hält zwei Blätter hoch. „Ich habe hier einen Auszug der Liste mitgebracht.“
Die Gerichtsdienerin bringt die Papiere zum Richtertisch.
Während der Richter die Angaben auf der Liste studiert, schaut sich Habermehl im Saal um. Er errötet, als er eine schwangere Frau sieht. Schnell lässt er den Blick weiter über die Reihen schweifen und starrt dann zwei junge Leute an, zwischen denen ein alter Mann sitzt. Er fährt fort. “Ich brauche wohl nicht zu sagen, was ich von der Einteilung in Kerzen halte.“
„Die Schweine! Mein Mann war kein Schwerverbrecher! Die müssen seinen Namen verwechselt haben!“, ruft eine Frau von hinten. – „Warum musste meine Tochter sterben? Nur, weil sie kein Handy dabei hatte und nicht erkannt wurde?“, schreit ein anderer. – „Sind drei Leute im Auto mehr wert als sechs auf der Straße?“ – „Wieso wurde meine kranke Schwester mit einem Mörder gleichgesetzt?“
Die Sicherheitsbeamten an der Tür treten einen Schritt vor.
„Ruhe! Ruhe! Oder ich lasse den Saal räumen!“ Der Richter beugt sich etwas nach vorne und sagt leiser: „Überlassen Sie diese Einschätzung bitte dem Gericht, Herr Habermehl.“ Dann setzt er wieder seine Richterstimme auf. „Herr Habermehl. Wie hat das System reagiert?“
„Goethe 2.0 musste in diesem Fall entscheiden, ob es das Fahrzeug ungebremst gegen den Ampelmast steuert oder sozusagen sanft in der Menschenmenge abbremst, die gerade die Straße überquerte. Die Software im Fahrzeug war manipuliert.“
„Mussten deswegen drei Menschen sterben?“, ruft die Frau wieder.
Der Richter gibt einem Sicherheitsbeamten ein Zeichen, der daraufhin die Frau aus dem Zuhörerraum begleitet. Dann nickt er Habermehl zu, der sich zum wiederholten Male Schweiß von der Stirn wischt.
„Der automatisch errechnete Wert der Insassen gemäß den Kategorien wurde manuell geändert. Die drei Insassen waren anstatt mit sechs mit insgesamt einhundert Kerzen eingestellt.“
Einige springen von den Bänken auf. Geballte Fäuste werden gereckt, Stimmen überschlagen sich.
Zwei Sicherheitsbeamte lehnen sich an die Tür, gegen die von außen geschlagen und gedrückt wird. Ein anderer greift an seinen Halfter, in dem der Taser sitzt.
Zuhörer drängen nach vorne, jemand ruft „Keiner darf Gott spielen!“
Handgemenge. Ein Mann sackt in sich zusammen. Die Beamten versuchen, die Leute aufzuhalten.
„Einhundert Kerzen! Das erreicht noch nicht mal der Bus, der die Arbeiter nach Feierabend zurück in die Plattenbauten bringt!“, schallt es durch den Saal.
Fotografen, Reporter und weitere Leute strömen hinein. Der Richter schnappt sich die Unterlagen und verschwindet zusammen mit der Protokollführerin, dem Staatsanwalt und den Anwälten durch die Hintertür.
Jansen packt Katja und Tom an die Hand und bahnt sich humpelnd einen Weg zum Ausgang. Beim Umdrehen sieht er noch, wie sich Beamte nach hinten durchkämpfen, wo mehrere Männer auf den anwesenden Vertreter des Autoherstellers zustürmen.