Das Fest
Auf der Besitzung meines Onkels am Rigaschen Strande wurde ein Fest gefeiert. Es war eine warme, windstille Augustnacht. Hoch oben am wolkenlosen Himmel hing der Vollmond wie eine silberleuchtende Ampel. Aus dunkelgrünen Schatten erhoben sich die blendendweißen Türmchen des Hauses. Die vollerblühten gelben und roten Rosen strömten herrlich erfrischende Düfte aus und inmitten des kurzgeschorenen Rasenplatzes warf der Springbrunnen hohe Wasserstrahlen in das Mondlicht hinein. Millionen Tropfen glitzerten in der Luft und wurden zu einem hauchdünnen Diamantenschleier, der sich langsam auf die frischgeharkten roten Kieswege niederlegte. Der Garten, der sich jenseits des festlich erleuchteten Hauses bis zu einem auf den Dünen gelegenen Kiefernwäldchen ausbreitete, war mit bunten Lampions illuminiert.
Blumengirlanden waren auf Pfosten gespannt und zogen sich längs des Weges zu einer dunklen Schlucht hin. Über diese Schlucht spannte sich eine gewölbte Brücke, über welche jetzt die Damen in Spitzenkleid, die Herren in weißen Sommeranzug, die Kavaliere, die jungen Mädchen und mit ihnen die Kinder herüberkamen.
Die Gäste hatten drüben im gläsernen Pavillon, der oben auf der weißen Düne stand, kalte Vorspeisen eingenommen, die in Kristallschalen gereicht wurden. Mit Zitronen belegte Kaviarbrötchen, geräucherter Aal, Dünalachs, marinierte Neunaugen, -- eine beliebte Delikatesse -- Ochsenzunge in Aspik, kalter Kalbsbraten, russische Eier, Gänseleberpastete auf Toasts mit Butterkügelchen wurden mit pikantem eisgekühlten „Wenigret“ und „Rossol“ (gemischte russische Salate) von livrierten Dienern gereicht, während Wodka, Kümmel und giftgrüner Pfefferminzschnaps serviert wurde. Den Damen, die in Korbsesseln – von Rosenarrangements umgeben – vor den hochgeschobenen Fenstern saßen, wurden herbe Weine zu der „Sakußka“ geboten.
Zugleich mit diesen Genüssen, die dem Gaumen schmeichelten, konnte man den Sonnenuntergang bewundern und sehen, wie das weite Meer sich golden und violett färbte, wie der Himmel mehr und mehr erglühte und die purpurne Feuerkugel sich langsam zum Horizont herabsenkte, um plötzlich in der Flut unterzutauchen. Rote und giftgrüne Funken wurden in die Höhe geschleudert und lange noch hielt sich das Abendrot über der See. Die sanfte Musik rauschender, doch kaum sichtbarer Wellen tönte vom Strande herauf.
Tau hatte sich auf die Farnbüschel und die Moosbeerblätter gelegt und schon stieg der Vollmond klar und blank herauf, als die Gäste durch die Nachtschatten zum Hause zurückwandelten, wo sie auf der erleuchteten Veranda ein auserlesenes Festmahl erwartete.
Während die Erwachsenen an langen, blumengeschmückten Tischen tafelten, waren wir Kinder an Extratischen verbannt. Ich war damals ein fünfzehnjähriges, scheues Kind und mied die Gesellschaft der Erwachsenen. Heute aber wusste ich unter ihnen den Helden meiner Phantasie. Es war Sascha, ein noch junger Verwandter, der erst vor kurzem aus Marokko zurückgekommen war. Sascha war ein vorzüglicher Reiter und hatte einen herrlichen Araberschimmel aus Afrika mitgebracht, der jetzt im Stall meines Onkels neben den beiden Goldfüchsen stand.
Nichts liebte ich so sehr als diese Pferde, nichts schöneres kannte ich, als auf dem Pferderücken über den glatten Strand dahinzusprengen. Schon seit meinem Fünften Lebensjahr war ich eine leidenschaftliche Reiterin und heute Vormittag hatte Sascha mich beim Ausritt durch den Wald und zum Strande mitgenommen. Dieser Ritt hatte für mich das Fest eingeleitet. Als wir nach Hause gekommen waren, hatte mich Sascha vor dem Stallbrunnen vom Pferde gehoben, mich in seinen Armen gehalten und gesagt:
„Du Wildling—du bist eine gute Reiterin – jetzt werden wir oft zusammen hinaustraben und ich verspreche es dir“
Bei diesen Worten hatte Saschas Mund mein Ohr berührt und geflüstert:
„Bald wirst du dein eigenes Reitpferd haben.“
Ich hatte mich aus seinen Armen losgerissen und war fortgelaufen, ohne ihm ein Wort zu erwidern, denn ich schämte mich, ihm zu zeigen, dass mir Tränen der Freude in den Augen brannten und ich wollte es verbergen, wie heiß mein Begehren war.
Doch jetzt, während des Festmahles, suchten ihn meine Augen. Nur ihn sah ich.
Er saß neben einer schönen, schlanken Frau, die eine gelbe Rose ins kastanienbraune Haar gesteckt hatte. Sie trug ein cremefarbenes, tief dekolletiertes Abendkleid und ihre Wangen glühten, als sie sich mit dem braungebrannten Sascha unterhielt. Er hatte sich ihr zugewandt, hob sein Weinglas zu ihr empor und trank, wobei ihm die Frau in die Augen schaute. Mein Herz stockte, als ich das sah.
Nach dem Essen liefen wir Kinder auf den Tennisplatz, der mit Brettern ausgelegt worden war, und wo jetzt Musik erklang, um die jungen Leute zum Tanzen aufzufordern. Meine Spielgefährten langweilten mich heute. Sie wussten nichts von der Glut des brennenden Herzens, nichts von jenem unnennbaren Empfinden, das mich beherrschte. Nichts ahnten sie von der stechenden Lust des Blutes, nichts wussten sie von der Herrlichkeit des Jagens. Nicht kannten sie die Dämonie, diese züngelnde Flamme, die aus der Mähne des galoppierenden Pferdes kam, knisternd wie Feuer und berauschend süß wie das Spiel um Liebe und Glück.
Wohin trieb es mich zu laufen? Welcher Trieb war es, der das Blut des Kindes zu dem Mondschatten lockte? Ich lief über die weiße Brücke auf die Düne hinauf. Ein milder Windhauch, vom Meere kommend ließ ein säuselndes Flüstern in den Kronen der hohen Kiefern vernehmen. Ich sah die gläsernen Wände des Pavillons auf der weißen Düne glitzern. Dieser Kristalltempel reflektierte den leuchtend hellen Meeresspiegel und den silbergrünen Mondhimmel. Gespenstisch, doch verlockend erschien mir dieser Glaspalast in der Nacht. Wie ein Märchenschloss lag er schweigend da und barg wohl alle Wunder des Mondes, alle Schätze einer fernen, fremden Welt ohne Schmerz und nur erfüllt von traumhafter Glückseligkeit.
Ich setzte mich zu den Wacholderbüschen. Die schmeichelnden Klänge der Tanzmusik, aus dem Garten kommend, waren hier oben zu hören. Im Rhythmus dieser Musik kamen die Schritte des Lebens näher an mich heran. Das zukünftige Leben näherte sich mir hörbar und verbiss sich in meinen Leib. Das Kommende dämmerte in meinem Blut. Ach – welche Phantasie entsteht im Gemüt eines erwachenden Kindes, welche Kräfte werden erweckt in einer einzigen Stunde der Nacht.
Und jetzt hörte ich Schritte von Menschen, flüsternde Stimmen und leises Lachen. Ich verkroch mich tiefer in das Gestrüpp und sah, wie Sascha – die schöne Frau mit der gelben Rose im Haar am Arm führend – vorbeiging. Auf dem schmalen Fußpfad gingen sie geräuschlos die Düne hinab, öffneten das Gartenpförtchen, stiegen die Holztreppe am Hang hinunter und promenierten
am Strande, entlang der glitzernden Meeresfläche.
Da sprang ich aus meinem Versteck, lief durch die offenstehende Pforte hinaus, lief zum Badehäuschen, schloss es auf, entkleidete mich und ging in das Meer hinein. Kühl war das Wasser, diese Kühle war herrlich an meinem Leib und ich warf mich auf den Silberspiegel und wurde getragen von unsichtbaren Armen, wurde gehoben zum Mondhimmel und schwamm fort, dem Horizont entgegen. Ach – könnte ich immer hier draußen sein, wo keine Grenze die Seele einzwängte, wo das große Auge des Himmels allein über mir war. Nie hatte ich solche Kräfte empfunden wie in dieser Nacht, Kräfte, die alles Enge zerbrechen wollten und die Unruhe meines Blutes besiegten. Doch schließlich wurde ich müde, kehrte zurück auf den Strand, ließ mich vom Winde trocknen und als ich das weiße Spitzenkleid wieder angezogen und mein Haar gekämmt hatte, ging ich zurück in den Garten. Da sah ich, dass Sascha neben der schlanken Frau im Kreise der Gäste vor der Veranda saß. Erdbeerbowle in großen bauchigen Glaskrügen, Torten, Gebäck und Schalen mit Süßigkeiten standen auf den Tischen. Das klirren der Gläser, das laute Lachen der Herren, die jauchzenden Schreie der Damen, die Tanzmusik, die sich mit den Düften der Rosen und dem bunten Licht der Lampions vermischte, dieses ganze Festgewoge berauschte mich. Ich spürte es, wie sich wieder etwas Heißes, Wildgewordenes in meinem Blute regte. Irgend eine mir bisher unbekannte Lust überwältigte mich, fast war es wie ein Schmerz.
Da hörte ich Saschas Stimme, die meinen Namen rief. Er hielt mir sein schäumendes Sektglas entgegen und als ich zu ihm kam, schlang er seinen Arm um meine Hüften und gab mir aus seinem Glas zu trinken. Ich blickte ihm in die Augen. Und mit dem Sekt zugleich trank ich den Duft der gelben Rose im Haar der schönen Frau, trank ich das Parfüm von Saschas Haar, sog ich das Geheimnisvolle, das Berauschende der Festnacht in mich hinein und leerte das Glas in einem Zuge. Sascha drückte mich an sich und fragte:
„Wildling, wer wird dich zähmen, wenn du verliebt bist?“
und er streichelte meinen Arm.
Doch die schöne Frau blickte mich streng an und meinte:
„Zu Kindern sollte man nicht derart sprechen.“
„Ist sie ein Kind?“
fragte Sascha zurück und ich löste mich aus seinen Arm und ging fort.
Ich ging zu den Pferden. Die Stalltür stand Offen. Ich hörte das Klirren der Halfterketten. Durch die kleinen, ovalen Fensteröffnungen drang das Mondlicht herein, es lag ein phosphorgrünes Glimmen auf dem Fell der beiden Fuchsstuten und Silberglanz war über dem Rücken des Araberschimmels ausgebreitet.
„Marokko – Marokko“ flüsterte ich.
Unwiderstehlich zog es mich hin zu den Leibern der Pferde, zu der Wärme, die sie ausstrahlten. Streicheln wollte ich das Fell der Tiere, ihre feurigen Augen wollte ich auf mich gerichtet sehen, wenn sie den Hals zurückbogen. Den Atemhauch, der aus ihren weichen Nüstern strömte, wollte ich an meiner Wange spüren. Ich trat in die Box und nannte die Namen der Pferde und ich hörte das leise fragende Wiehern des Araberschimmels, als ich meinen Arm um seinen Arm schlang. Diese Wiehern beglückte mich und zugleich stimmte es mich wehmütig. Denn es dämmerte eine Ahnung in mir – eine Ahnung jenseits aller Vernunft, dass die Leidenschaft, diese unheimliche Macht, die versteckt in des Menschen Blut lebte, mich hinausführen würde aus dem gehegten Rosengarten. In ungezügeltem Ritt würde ich hinausgaloppieren in die Wildnis, die mich lockte, mich verführte mit ihren Gesang von Leidenschaft und Liebe. Hinein in die lodernde Feuersbrunst trieb es mich und meine Seele erschauerte.
Lange stand ich neben dem Pferde und ich war an diese Tier gebunden, um mit ihm zusammen der Gefahr entgegenzujagen ohne Halt. Ich warf mich in das goldene Stroh neben der Haferkiste und war krank vor Sehnsucht nach dem kommenden Leben. Schon stand der Lebensbote mit flammenden Haupt vor mir in der Stalltür, er kam mich holen, und mit brennenden Augen wies er mir den Weg, der bis an die Grenze alles Irdischen führte – den gefahrvollen Weg, der gezeichnet ist durch Lust und Leid. Hatte ich geträumt? Jemand hob mich aus dem Stroh. Es war Sascha und er flüsterte:
„Wusste ich es doch, dass du hier bist – deine Mutter sucht dich. Komm zurück in den Garten – komm. Ist das Fest nicht schön heute nacht?“
„Lass mich hier bleiben, Sascha – ich will nicht dorthin zurück.“
„Du musst – ich werde dich hintragen.“
„Nein – nein“, stöhnte ich und spürte es, wie Saschas Arme zitterten, als er mich an seine Brust presste.
Ich schlang meine Hände um seinen Hals und schluchzte, und sein warmer Atem, dicht an meinem Munde, berauschte mich mehr als Sekt, den ich getrunken hatte.
„Sei ruhig – höre zu weinen auf, sonst begehe ich eine Dummheit“, Sprach Sascha streng, doch küsste er mich zärtlich und er trug mich auf den Hof hinaus.
Dort tranken wir zusammen vom kalten reinen Brunnenwasser, diesem Wasser, hervorkommend aus der Tiefe der Heimaterde, unermüdlich rieselnd Tag und Nacht.
„Wie schön und ruhig ist es hier“, sagte Sascha
nachdenklich geworden, als wir auf der hölzernen Pferdetränke saßen,
„und wie anders schön ist es dort unter dem südlichen Himmel, wenn Marokkos Wüste im Mondlicht gespenstisch glimmt. Warte nur – Wildling – auch du wirst sie einmal erleben, diese Nacht des Südens, auch du wirst dort ein Fest erleben, das dich ganz und gar gefangen nimmt. Und doch wirst du wieder zurückkehren – hierher – zu diesem Brunnen, zu diesem Wasser. – Ist dein Herz nun ruhig geworden, so wie das meine?“
Sascha, einen Arm um meine Schultern gelegt, ging mit mir zurück in den Garten, wo immer noch die Festkerzen flackerten und die Gesichter der vom Wein berauschten Gäste beleuchteten. Hoch über uns allen aber kam schon die blaue Morgendämmerung lautlos herangezogen und in den Kronen der Kiefern begannen die erwachenden Vögel zu singen........