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Das Fenster

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21.11.2003
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Abgestandener kalter Schweiß stand über allem und vermischte sich in der Folge mit kaltem Zigarettenrauch. Etwas frische Luft, dachte er, während seine Füße quietschend den Linoleumboden Schritt für Schritt zu einem Konzert eigenartigster Töne veranlassten. Dann blickte er auf das Schild: "Möller-Riebenau" stand darauf zu lesen. Ein Name, der ihm nichts sagte und weder mit Angst noch mit Zuversicht besetzt zu sein schien. Er setzte sich in die Stuhlgruppe aus orangefarbenen Plastikschalen einige Meter von der Tür entfernt und wartete. Kaum zu glauben, dass dies ein so entscheidender Tag sein sollte, dachte er und wischte diesen Gedanken mit einem Anflug von aufkeimender Panik schnell hinweg.
Die Entscheidung war gefallen und darum war er hier. Aus freien Stücken. Eigentlich hätte er singend und tanzend vor dieser Tür erscheinen müssen, die Sitzschalen nicht als billig, den Wartebereich nicht als beklemmend und den Geruch nicht als ekelerregend wahrnehmen dürfen. Es hätte eine Situation sein müssen, die ihn so mit Freude erfüllen sollte wie sein letztes Treffen mit Bianca. Nichts hatte damals daraufhin gedeutet, dass sie ihm seine Grübeleien würde verzeihen können. Und doch hatte sie ihm, nachdem sie genervt von seinen ständigen Erwägungen und seiner immer schlechter werdenden Laune das Ende der Beziehung in unmittelbare Aussicht gestellt hatte, dann doch plötzlich die Arme um den Hals gelegt, ihn mit jener vertrauten Art geküsst, die ihn Glauben machte, es habe nie eine Krise gegeben. Von diesem Moment an hatte er eine Sorge weniger gehabt, jedoch hatte das Gefühl nur eine knappe Woche angehalten und dann waren die Gedankenströme wieder über ihn gekommen und hatten ihn die Sicherheit gewinnen lassen, dass sie ihn nicht verschonen würden, bis er eine Entscheidung getroffen hätte. Zu allem Überfluss hatte Bianca dann doch – kurz und schmerzlos zwar – die Beziehung beendet. Das Telefongespräch war von jenem Knacken und Rauschen erfüllt gewesen, das, so überlegte er in immer weiteren Kreisen – nur in Wiederholungen aus Filmen der Siebziger Jahre zu hören war. Dann wenn zum Beispiel Derrick mit einem Hauptverdächtigen telefonierte, das Gespräch lange Pausen aufwies, weil sich der Verdächtige nun erst überlegen musste, ob er die heimtückische Tat zugeben sollte oder nicht. Diese Pausen hatten auch sein Gespräch mit Bianca ausgemacht. Sie hatte wie in einem schlechten Film gesagt, sie halte das nicht mehr aus, sie habe keine Lust mehr, immer die gleichen Argumente hin und her zu bewegen und dann die mühsam in Stunden erreichte Entscheidung schon auf dem Treppenabsatz, wenn er ging, durch einen Blick in seine Augen wieder in Frage stellen zu müssen. Sie hatte geschwiegen nach diesem Satz und ihn genötigt etwas zu sagen, obwohl er dazu nichts sagen wollte. Zudem, hatte sie nach längerer Pause und dem auf- und abschwellenden Rauschen in der Leitung gesagt, sei es ihr nach längerer Überlegung ganz bewusst geworden. Es sei kein Problem, das sich ihm von außen aufgedrängt habe, sondern aus ihm selbst heraus entstanden sei und auch eigentlich durch keine echten Gegensätze gekennzeichnet wäre, sondern durch eine Dichotomie, deren Urheber er selbst gewesen sei. Seit sie studierte, dachte er mit Rückblick an den ihm so nahen Klang ihrer Stimme, verwendete sie mehr als früher solche Begriffe. Sie hatte begonnen ihm, wenn sie nicht in endlosen Diskussionen auf ihrem Bett saßen, Begriffe wie hair toss und Psychose zu erläutern und er hatte angefangen zu erkennen, dass sie sich von ihm entfernte.
Er war immer noch mit der Frage von glitzernden Schulterstücken und den V-Ausschnitten blütenweißer Oberteile beschäftigt, da hatte sie bereits ihr Leben in die Hand genommen und begonnen, sich zielstrebig hin auf Abschlüsse und Einkommen hin zu entwickeln. Zuerst hatte er das gut gefunden, dann aber geriet er zunehmend in die Defensive. Das kann doch nicht so schwer sein, lautet der stereotype Satz seines Vaters und seine Mutter hatte ihn wie üblich vor den barschen Anfeindungen seines Vaters geschützt, was sie früher energischer gekonnt hatte und deren nachlassende Kraft ihn zusätzlich in dem Gedanken bestärkte nun endlich vorwärts zu gehen. Ich verstehe dich nicht, hatte sie gesagt und dabei ein Gesicht gemacht wie Bianca wenn sie ermattet von den Diskussionen nur mit den Augen darum bat, er möge gehen. Es ist keine Entscheidung für immer, hatten sie gesagt, sondern nur für einen überschaubaren Zeitraum, was du dann willst, hatten sie nachgesetzt, ist ohnehin noch weit weg. Mach' daraus kein Grundsatzproblem, hatte seine Mutter ihm gesagt, nachdem sie den Wagen vor der Post geparkt hatte und er hineingegangen war, um den grauen Umschlag abzuholen, mit dem Wissen darum, dass er die Entscheidung würde bald treffen müssen. Das hatte ihn in diesem Moment erleichtert.
Doch es war nur von kurzer Dauer gewesen. Der Termin, gut ja, den hatte er ohne Schwierigkeiten überstanden, denn dort wurde ja auch nicht gefragt, wie er sich entscheiden wolle. Niemand dort hatte seine Unsicherheit bemerkt und um ihn herum war das Lärmen und die schlüpfrigen Witze in der eigentümlich riechenden Umkleidekabine für ihn eine willkommene Ablenkung gewesen. Er hatte mit den Anderen gelacht und dann doch weit von ihnen entfernt gestanden. Husten, vorbeugen, abtreten. Das war es im Wesentlichen. Dann hatte er sich wieder angezogen und war hinausgetreten in das grelle Sonnenlicht, nicht ohne sich zu wundern wie an einem solchen Tag die Sonne hatte scheinen können.
Endlich sagte sein Vater, als der Tag langsam Schatten warf, endlich, sagte auch Bianca, nachdem er am gleichen Abend erhitzt und müde neben ihr auf dem Bett lag und den Leberfleck unter ihrem rechten Auge betrachtete. Doch es war nicht vorüber, er merkte es am nächsten Tag als er die Unterlagen durchsah. Von der Möglichkeit nachträglich zu verweigern, stand da zu lesen. Und so hatte sich die Spirale in seinem Kopf wieder begonnen zu drehen, schneller noch als vor der Musterung. Als Frage nicht lösbar, dachte er, sich auf der orangefarbenen Plastikschale hin und her schiebend, wie soll man eine solche Entscheidung auch fällen? Und doch hatten alle anderen aus seinem Jahrgang diese Hürde ohne Federlesens genommen. Bianca hatte ihn geschützt in seinem Unvermögen und hatte gegenüber Dany, David, Sissy, Rebekka und den anderen gesagt, es sei schließlich eine Gewissensfrage und die wolle eben gut überlegt sein. Er hatte bekräftigend genickt und Sissy hatte gesagt, dass sie nicht so tun sollten, als ob wegen seiner Entscheidung auch nur ein Krieg weniger geführt würde. Sie hatte Dany umarmt und mit betonter Lässigkeit ihre Hand über seinen Po gleiten lassen. Eine Geste, die er im gleichen Moment als unangemessen empfand. Als er später mit Bianca darüber sprach, erntete er Unverständnis. Da war zum ersten Mal eine wirkliche Unwilligkeit in ihrem Verhalten zu spüren gewesen. Sie war etwas von ihm abgerückt, hatte sich ihm zugewandt und dann gesagt, dass er Kleinigkeiten über die Maßen aufbauschen würde. So langsam würde ihr auch die Einsicht in seine Gedanken fehlen. Kurz danach hatte sie dann entschieden in Freiburg zu studieren, und so hatten sie sich nur noch am Wochenende gesehen. Er war mit seinen Gedanken allein geblieben und hatte auch den Kontakt zu Rebekka nicht mehr gesucht, die ihn sonst neben Bianca am stärksten angezogen hatte.
So hatte er sich dann irgendwann einkleiden lassen, hatte das Zimmer mit fünf anderen jungen Männern geteilt, war wie sie um vier Uhr morgens aus dem Bett aufgeschreckt und hatte sich mit zweihundert anderen Rekruten zur Übung eines Nachtmarsches aufgemacht. Es waren Wochen gewesen, in denen er nicht denken musste, und er empfand es als angenehm, den Tag beginnen zu können, ohne über den Verlauf entscheiden zu müssen. Wenn er es recht bedachte, war es in der Schule genauso gewesen. Er hatte Bianca, Rebekka und die anderen immer gesehen, es war eine Form der Selbstverständlichkeit gewesen. Es hatte geklingelt und dann war Frau Sezerny oder Herr Dr. Arenz in den Klassenraum gekommen und hatten 45 Minuten wichtige und unwichtige Dinge erzählt. Er hatte die endlosen Beiträge von Lucy neben sich mit Gleichmut ertragen und war dann nach dem letzten Klingeln nach Hause gegangen, hatte seine Vorbereitungen erledigt und sich abends zumeist mit den Anderen im "Speck" getroffen.
Die Tür wurde geöffnet. Ein Mann mit grauen Schläfen und einem gleichfarbigen Kinnbart trat auf den Flur und blickte ihn an. "Gefreiter Koske?" –"Jawoll". (Er hatte sich an die kurze und abgehakte Sprache dieser Welt bereits gewöhnt.) Er nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. Sein Gegenüber begann umständlich einige Formulare und Aktenblätter zu sortieren und referierte seitenlange Gesetzestexte, wobei immer wieder die Begriffe Verweigerung und Gewissensgründe fielen. Schließlich leistete er etliche Unterschriften, auf Papieren, die ihm sein Gegenüber wortlos hinschob. Dann erhoben sich beide Männer. Er bekam die Hand geschüttelt und die Frage "Was machen Sie nun?" Die Tür öffnete sich und er trat auf den Gang hinaus. Das Fenster, dachte er, öffnen und klar sehen.

 

Hallo butzel,

mir hat Deine Geschichte gefallen.
Ich war vom ersten Satz an neugierg, da Du dem Leser ja nicht von Beginn an verrätst, worum es in der Geschichte geht. Das hast Du gut gemacht. Ich bin z.B. davon ausgegangen, dass es sich um eine Prüfungssituation handelt, später dachte ich der Prot hätte ein Verbrechen begangen und würde sich stellen wollen.

Du beschreibst in Deiner Geschichte die Schwierigkeit, im Leben die richtigen Entscheidungen zu treffen sowie die damit verbundene Überforderung sehr gut. Das Gefühl konnte ich nachvollziehen. Jahrelang ist alles geregelt und durchstrukturiert und plötzlich muss man Verantwortung übernehmen. Es kommt auch sehr gut rüber, dass sich an solchen entscheidenden Punkten auch die Wege von Menschen trennen, weil es einfach nicht mehr anders geht. Andererseits konnte ich stellenweise auch die Position der Eltern und Biancas nachvollziehen, da die Gesellschaft von extrem "entscheidungsunfreudigen" Menschen, die alles in Frage stellen, wirklich oft anstrengend ist ;)
Der Schluss Deiner Geschichte zeigt sehr deutlich, dass die getroffene Entscheidung den Prot nur scheinbar entlastet, da sich weitere wichtige Entscheidungen anschließen werden.

Sprachlich muss ich sagen, dass mir Deine Formulierungen ab und an zu kompliziert waren.
Ein Beispiel:

Von der Möglichkeit nachträglich zu verweigern, stand da zu lesen.
"Dort las er von der Möglichkeit, nachträglich zu verweigern," würde sich m.E. besser anhören.
Einige Sätze sind glaube ich auch einfach nur zu lang. Beispiele:
Und doch hatte sie ihm, nachdem sie genervt von seinen ständigen Erwägungen und seiner immer schlechter werdenden Laune das Ende der Beziehung in unmittelbare Aussicht gestellt hatte, dann doch plötzlich die Arme um den Hals gelegt, ihn mit jener vertrauten Art geküsst, die ihn Glauben machte, es habe nie eine Krise gegeben. Von diesem Moment an hatte er eine Sorge weniger gehabt, jedoch hatte das Gefühl nur eine knappe Woche angehalten und dann waren die Gedankenströme wieder über ihn gekommen und hatten ihn die Sicherheit gewinnen lassen, dass sie ihn nicht verschonen würden, bis er eine Entscheidung getroffen hätte.
Auch sind Dir einige Komma- und Tempusfehler unterlaufen, was ja auch leicht passiert, da Du häufig in der Konjunktiv-Form schreibst.
Letzter Vorschlag: ich würde ein paar Absätze einbauen, das macht es dem Leser leichter.

Wie gesagt: ich hab Deine Geschichte gerne gelesen.
Liebe Grüße,
Juschi

 

Hallo juschi,

vielen Dank für die Rueckmeldung und mea culpa dafuer, dass ich mich erst so spaet melde, aber mein Schreibtisch war voll, allerdings nicht mit Kurzgeschichten :-)
Es stimmt, dass einige Saetze etwas lang geraten sind, ich hatte sie eigentlich als Stilmittel gedacht, um auf einer zweiten Leseebene die langen (und wirren) Gedankengaenge des Protagonisten abzubilden. Das scheint aber nicht so angekommen zu sein. Also: Hier wird (schonungslos) gekuerzt :-) Was der Leser/die Leserin nicht versteht, ist wirklich ueberfluessig. Auf Absätze und einige Nachlässigkeiten schaue ich den Text bei Gelegenheit noch einmal durch.
Entstanden ist er uebrigens aus der Not (und in einer Stunde), weil ich unbedingt eine Situationsgeschichte mit einem jugendlichen Protagonisten für die Schule schreiben musste :-)
Viele Grueße
b.

 

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