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- 10.07.2007
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Das Erbe
Ich wünschte, ich könnte euch eine gute Geschichte erzählen. Eine, die wärmt und Licht spendet wie ein Lagerfeuer in der Dunkelheit und die euch besser schlafen lässt. Aber die Zeiten sind schlecht, und wir müssen die Geschichten nehmen, die wir bekommen können. Ich habe in all den Jahren immer dieselbe erzählt, die Geschichte meines Stammes. Ich bin der Letzte, und ich habe ein Versprechen gegeben. Aber je älter ich werde, desto weniger richtig erscheint mir das. Es ist die Geschichte von Kara, die erzählt werden sollte. An sie erinnere ich mich am besten, obwohl sie gar nicht richtig zu uns gehörte.
Wir waren die Rabenfelsenleute, und Karas Stamm waren die westlichen Wasserleute. Das war ein Teil des Problems. Der Großvater sagte immer, es ist wichtig, Frauen von anderen Stämmen zu nehmen, sonst bekommt man dumme Kinder. Aber nach Großvaters Ansicht gab es eben die richtigen und die falschen Stämme. Die Ziegenfelsenleute zum Beispiel, oder die südlichen Waldleute, gehören zu den richtigen. Sie tragen ihre Haare anders als wir und malen sich andere Muster auf die Haut, aber sie wissen trotzdem, was sich gehört. Aber diesen Wasserleuten kann man nicht über den Weg trauen, sagte Großvater. Sie fahren mit ihren Boten überallhin, und an jedem Ort sammeln sie die dümmsten Geschichten ein. Sie haben keine festen Jagdgründe, also stehlen sie von den anderen Stämmen. Und ihre Frauen wissen sich nicht zu benehmen. Sie essen immer nur Fisch, denn es gibt keine richtigen Jäger bei ihnen, die es mit einem Hirsch oder einem Eber aufnehmen könnten. Deshalb denken ihre Frauen, sie wären Männer. All das sagte Großvater oft, und dann sagte er: Wäre es nach ihm gegangen, hätte der ganze Stamm sich von den Wasserleuten ferngehalten.
Aber es gab einen Sommer, in dem die Rabenfelsenleute und die westlichen Wasserleute zufällig aufeinander trafen. Das war auch der Sommer, als Großvaters Sohn Ono ein junger Mann war, der eine Frau suchte. Kara war eine junge Frau, die einen Mann suchte. Und beide suchten nach Gelegenheiten, ihre Stammesältesten zu ärgern.
So war Kara zu uns gekommen.
Anfangs versuchte sie, eine Rabenfelsenfrau zu sein. Vielleicht dachte sie, dass Großvater dann aufhören würde, so zu reden. Aber je mehr schwarze Federn sie trug, desto öfter musste sie sich anhören, dass man den Wasserleuten nicht trauen konnte. Schließlich hatte sie wieder damit begonnen, Wellen und Fische auf ihren Körper zu malen und das Haar in der Art ihres Stammes zu tragen.
Ono und Kara stritten viel, oft den ganzen Tag. Manchmal versöhnten sie sich am Abend, aber meistens schliefen sie in verschiedenen Ecken der Höhle. Es war immer der gleiche Streit. Er stand ihr nie zur Seite, wenn die anderen Rabenfelsenleute schlecht über sie redeten. Sie wusste sich nicht zu benehmen und ließ ihn vor den anderen wie einen Dummkopf aussehen. Ich weiß nicht, wer von beiden Recht hatte. Oder ob das überhaupt eine Rolle spielte. Mir war nur wichtig, dass Kara für mich da war.
Meine Eltern waren beide gestorben, noch bevor ich ihnen bis zum Knie reichte. Und Kara bekam in all den Jahren keine Kinder von Ono. Es war, als ob jeder von uns dazu bestimmt sei, ein Loch im Leben des anderen zu füllen. Aber ich glaube, wenn das nicht gewesen wäre, hätten wir trotzdem zusammengehört. Ich habe immer Fragen gehabt, auf die keiner der Rabenfelsenleute eine Antwort hatte. Und Kara wusste Dinge.
Als ich sehr klein war, dachte ich, sie könne sich an alles erinnern, was jemals passiert war. Später zeigte sie mir, dass die Wasserleute dafür einen Trick haben: Sie zählen die Zeit. Sie tragen Ketten mit kleinen hohlen Knochen. Darauf ritzen sie für jeden vollen Mond eine Kerbe. Und wenn etwas geschieht, an das sie sich erinnern wollen, dann machen sie eine besondere Kerbe. So wissen sie immer, wann der letzte Winter endete oder wann jemand gestorben ist. Kara konnte sogar die Monde bis zurück zu ihrer Geburt zählen, weil die Mütter der Wasserleute eine Kette für ihre Kinder machen, sobald sie auf die Welt kommen. Das habe ich immer beneidet. Ich weiß gar nicht genau, wie lange ich schon auf der Welt bin. Die Rabenfelsenleute zählten nicht, wie lange ihre Kinder auf der Welt waren, nur wie viele es über den Winter schafften. Deshalb wollte ich so oft den ältesten Knochen in Karas Kette sehen, in den ihre Mutter vor langer Zeit die erste Kerbe geritzt hatte.
Kara zählte meistens zu einem anderen Mond zurück, dem, wo sie einen winzigen Fisch und einen winzigen Raben eingeritzt hatte, weil sie dort mit Ono gegangen war und ihre eigenen Leute zurückgelassen hatte. Es machte sie traurig, dorthin zurückzuzählen, aber es schien, als könne sie nicht damit aufhören.
Ihr müsst aber nicht denken, dass Kara immer traurig war. Zusammen haben wir beide mehr gelacht als die meisten Rabenfelsenleute. Und sie konnte gut Geschichten erzählen. Ich wurde nie müde, ihr zuzuhören, auch wenn die anderen schon die Augen verdrehten.
Bei Vollmond wollte ich immer eine ganz bestimmte Geschichte hören, die über den ältesten Stamm. Das ist eine von den guten Geschichten. Die Wasserleute erzählen sie seit langer Zeit, aber für mich war sie neu.
„Der älteste Stamm lebte vor vielen Menschenleben“, erzählte Kara, wenn ich darum bettelte. „Es war ein sehr, sehr großer Stamm. Es gab so viele Menschen wie Sterne am Himmel, und sie waren mit mächtigen Geistern verbündet, die ihnen fast jeden Wunsch erfüllen konnten. Sie bauten Hütten, so hoch wie Bäume, und Pfade, so breit wie der große westliche Fluss, und alle wilden Tiere fürchteten sie. Die Menschen konnten damals fliegen, bis hinauf zu den Sternen, und manchmal wanderten sie sogar auf dem Mond.“
„Flogen sie wie Vögel?“, fragte ich dann, obwohl ich die Antwort kannte. Es war wie ein Spiel für uns.
„Nein, nicht wie Vögel. Sie bauten Boote, die fliegen konnten.“
„Und hatten sie keine Angst, dass der Mond sie verbrennt?“
„Der Mond ist kein Feuer, das angezündet wird und verlischt. Er ist eine Welt wie unsere, nur viel kleiner. Wir sehen sie nicht immer, weil sie manchmal im Schatten liegt. Leute sind in einem Boot dorthin gefahren, und sie haben da oben gestanden und ihrem Stamm hier unten zugewinkt.“
Die Rabenfelsenleute nannten sie ein Lügenmärchen, aber ich glaubte an die Geschichte. Ich wollte sie wieder und wieder hören. Kara sagte, unter den Hügeln liegen noch heute die Hütten und Boote des ältesten Stammes. Daran glaube ich auch. Manchmal findet man Dinge, wenn man im Boden der Hügel gräbt.
Damals träumte ich davon, nach einem Boot suchen, das zu den Sternen fliegen kann. Aber nicht einmal Kara wollte mir dabei helfen. Es ist besser, sich von den Hügeln fernzuhalten, sagte sie. Denn am Ende zerbrach der Pakt mit den Geistern, und der älteste Stamm wurde verflucht.
Damals hatte ich noch keine Angst vor dem Zorn der Geister. Jetzt bin ich alt und viel weiser.
Die Wasserleute glauben, dass alle Menschen Nachfahren des ältesten Stamms sind. Das machte Großvater immer furchtbar wütend. Die anderen Wasserleutegeschichten hörte er sich an und schnaubte bloß verächtlich, aber diese eine Geschichte ließ ihm wohl keine Ruhe. Die Felsengeister haben die Stämme der Felsenleute geschaffen, die Waldgeister die der Waldleute, und die launischen, wandelbaren Wassergeister schufen die Wasserleute. Die Geschichten über den ältesten Stamm haben die Wasserleute sich nur ausgedacht, weil sie neidisch auf die Jagdgründe der anderen sind! Wenn er das sagte, wurde er ganz rot im Gesicht. Um ihn zu beruhigen, sagten die anderen dann Sachen wie „Das wundert mich nicht, wer will schon immerzu Fisch essen.“ Dann wurde Großvater wieder fröhlich, und Kara wieder traurig und still.
Als der Hunger kam, haben sie natürlich alle Fische und Schnecken gegessen, die Kara finden konnte. Ich finde, man kann es ihr nicht verübeln, dass sie manchmal in die Schneckenschüssel gespuckt hat.
Es ist schwer zu sagen, wann der Hunger schlimm wurde. Es gibt immer Tage, an denen man nichts Gutes zu essen findet, oder überhaupt nichts, und in manchen Jahren gibt es mehr hungrige Tage als in anderen. Aber als die älteren Jäger sagten, dass sie so ein schlechtes Jahr noch nicht erlebt hatten, und als den Müttern des Stammes die Milch versiegte und vier kleine Rabenfelsenkinder in nur einem Mond gestorben waren, da bekamen wir es alle mit der Angst zu tun.
Ich hatte zu der Zeit zehn oder elf Winter erlebt, und Kara war seit sieben Wintern bei uns. Manchmal, wenn niemand uns hören konnte, nannte ich sie Mama.
Wir machten Witze darüber, dass man unsere Rippen zählen konnte. Kara machte das jeden Abend mit mir, damit in der Nacht niemand eine stiehlt, sagte sie. Aber das Lachen war nur eine dünne Decke für die Angst. Und gegen den Hunger konnte es erst recht nichts ausrichten.
Auch wenn wir Rabenfelsenleute große Angst hatten, warteten wir immer, was der Großvater zu sagen hatte. Als das vierte Baby gestorben war, zog er sich lange zurück, um nachzudenken, und als er aus der Höhle trat, sagte er, wir müssten uns neue Jagdgründe suchen. Das hatten wir natürlich gewusst, aber es gehörte sich einfach, dass man wartet, bis es der Großvater sagt.
Nur wohin sollten wir gehen? Die Jagdgründe im Osten waren noch schlimmer dran als unsere, alles war vertrocknet, auch die Menschen. Im Süden wohnten die Waldleute, und im Westen die Eulenleute und die Fuchsleute. Diese Stämme waren nicht gerade unsere Freunde, und jetzt waren sie selbst hungrig. So etwas konnte übel ausgehen. Die Männer wollten endlich ihre Speere wieder benutzen, aber für die Jagd, nicht gegen andere Jäger.
„Wir müssen nach Norden gehen“, sagte Großvater also.
Die Jäger nickten ernst, und ein paar Frauen waren schon dabei, Bündel zu schnüren, aber Kara stand da wie angewurzelt, und ihr Messer fiel ihr aus der Hand. Sie sah Großvater an, als wäre er ein Geist.
„Der Norden ist verflucht“, sagte sie. „Dorthin können wir nicht gehen.“
„Das sind nur Kindergeschichten“, sagte Großvater.
„Nein! Wir sind jetzt schon weiter im Norden, als wir sein sollten. Wenn wir noch weiter gehen, werden wir alle verflucht.“
Alle schauten auf Kara und den Großvater, schüttelten mit den Köpfen und flüsterten untereinander. Wusste sie denn nach all der Zeit immer noch nicht, dass es sich nicht gehörte, ihm so zu widersprechen? Konnte sie nicht ein einziges Mal die Märchen ihrer Leute für sich behalten? Großvater wurde oft wütend, wenn Kara so etwas machte, aber jetzt blieb er ganz ruhig.
„Wenn wir nicht weiter ziehen, werden wir alle verhungern“, sagte er.
„Bitte tu das nicht“, sagte Kara. „Was glaubst du denn, warum im Norden keine Stämme leben?“
„Vielleicht, weil zu viele dumme Geschichten darüber erzählt werden“, sagte Großvater. Dann drehte er sich einfach um und ging in die Höhle zurück, um sein Schlaffell und seine sonstigen Habseligkeiten einzusammeln.
„Der Norden ist voller Geister. Die Frevel des ältesten Stammes haben sie zornig und ruhelos gemacht, und sie sind immer noch dort. Alles dort stirbt oder wird schlecht. Sie reißen selbst jungen Leuten Haare und Zähne aus, und wenn eine Frau ein Kind in sich trägt, wird sie verflucht und bringt ein Monster zur Welt.“
Niemand außer mir hörte Kara zu. Ich hörte ihr immer zu, und außerdem hatte ich diese Geschichte noch nie gehört. Ich fand sie aufregend, aber geglaubt habe ich es damals nicht so recht. Das Boot, das zu den Sternen fliegen konnte, erschien mir überzeugender als ein Land voller böser Geister. Nach meiner Erfahrung mischten sich Geister selten in das Leben normaler Leute ein.
Sie versuchte, mit Ono zu reden. „Sag deinem Vater, wir können nach Westen. Ich habe Verwandte bei den Fuchsleuten. Sie werden uns in Ruhe lassen. Wir können bis zum Fluss wandern, und meine Leute werden uns helfen.“
Dieses Mal stritt Ono nicht mit ihr. Er sagte: „Ich habe noch nie gesehen, dass du Angst hast.“ Er streichelte sogar ihre Wange. „Denk nach“, sagte er. „Was ist am gefährlichsten - der Hunger, die Fuchsleute, die vielleicht nicht auf dich hören, oder Geister, die man nicht sehen oder hören oder anfassen kann?“
„Die Geister“, beharrte Kara. „Weil man sie nicht sehen oder hören oder spüren kann, bis es zu spät ist.“
Aber sie packte ihre Sachen wie alle anderen, und sie wanderte nach Norden wie alle anderen. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Ohne einen Stamm ist man verloren.
Wir mussten weit wandern, aber je weiter wir nach Norden kamen, desto öfter fanden wir Spuren von Wild. Es gab immer noch viele schlechte Tage, aber es starb fürs erste niemand mehr. Die Angst wurde kleiner und zog sich in unsere Träume zurück.
Dafür wurde Kara von Tag zu Tag unruhiger. Sie aß und trank nur sehr wenig, und sie redete kaum noch mit den anderen. Wenn ich Geschichten hören wollte, musste ich lange betteln, und es machte nicht so viel Spaß wie sonst, ihr zuzuhören. Ihre Gedanken waren woanders.
„Sind die Blätter hier größer?“, fragte sie mich einmal aus heiterem Himmel.
„Größer als was?“, fragte ich. Ich machte mir Sorgen. Die anderen hatten immer behauptet, dass in ihrem Kopf etwas nicht stimmte, und ich hatte es nie für etwas anderes als böse Worte gehalten. Aber es gefiel mir nicht, wie sie in letzter Zeit an mir vorbei starrte, und wie sie manchmal vor sich hin murmelte, als würde sie mit Leuten reden, die nicht da waren.
„Größer als im Süden. Ich wünschte, ich hätte Blätter mitgenommen. Vielleicht könnten wir daran sehen, ob wir zu weit gegangen sind.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie größer sind.“
Sie sah mich an, zum ersten Mal seit vielen Tagen direkt in meine Augen. „Du denkst, ich bin verrückt. Wie sie.“ Sie nickte in Richtung der Rabenfelsenfrauen, die in der Nähe saßen und Pfeilspitzen für die Jäger machten.
Ich sagte nein, aber es klang wie eine Lüge.
Kara nahm meine Hände in ihre. „Die Dinge, die ich dir erzählt habe, sind nicht nur Geschichten. Es ist alles, was uns von den Leuten vor uns geblieben ist, und alles, was wir den Leuten nach uns weitergeben können. Sie sind unser Erbe. Die Kinder hören sie von ihren Müttern, und die haben sie von ihren Müttern gehört, und so weiter, bis zurück zu den Müttern, die noch zum ältesten Stamm gehörten.“
Ich verstand nicht, warum sie das sagte, aber ich war froh, dass sie mit mir redete, also nickte ich.
„Du musst alles weitererzählen“, sagte Kara, und ich nickte wieder. Ich wusste nicht, dass ich damit ein Versprechen gab.
An diesem Abend brachten die Jäger ein Hirschkalb mit, das ein verkümmertes Bein hatte. Kara weigerte sich, davon zu essen.
Die Jäger wollten noch weiter nach Norden. Wir waren nicht mehr am Verhungern, aber wir wurden auch nicht satt. Wir waren noch immer zu dünn und zu müde, unsere Haut juckte und blutete und wollte nicht heilen.
Großvater sagte, dass eine kleine Gruppe vorausgehen und das Gebiet erkunden sollte, bevor der Stamm folgen würde. Und Ono sagte, dass er diese Gruppe anführen würde. Ich glaube, hinterher gab Kara sich die Schuld daran.
Nachdem Ono seine Frau von einem der falschen Stämme genommen hatte, gab der Großvater ihm immer so ein Gefühl, als müsste er beweisen, dass er noch ein richtiger Rabenfelsenmann war. Großvater war gut darin, anderen Leuten Gefühle zu geben.
Ich bekam von ihm immer das Gefühl, dass aus mir nie ein richtiger Jäger werden würde. Beinahe hätte ich deshalb gefragt, ob ich mitgehen durfte. Aber bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, legte Kara mir eine Hand auf die Schulter und flüsterte: „Nein.“
Zu Ono sagte sie nichts. Es gab keinen Streit an diesem Tag. Vielleicht hatte sie nicht mehr die Kraft dazu. Jedenfalls fehlte es ihr nicht an Liebe, das weiß ich. Ich erinnere mich, wie sie geweint hat, nachdem die Jäger fortgezogen waren.
Ich bin den beiden an diesem Abend gefolgt. Vielleicht wollte ich Kara umstimmen, sie überzeugen, dass ich alt genug war, um mit den Jägern zu gehen. Oder vielleicht habe ich auf irgendeine Art gewusst, dass es mein Schicksal sein wird, die Geschichte zu erzählen.
Sie zog Ono in den Schatten eines Baumes, dessen Blätter vielleicht zu groß waren, nahm einen spitzen Knochen, und zeichnete in die Erde zu ihren Füßen. Etwas, das aussah wie ein Vollmond, und drei abgebrochene Pfeilspitzen, die darauf zeigten.
„Wenn ihr das seht, müsst ihr umkehren“, sagte sie. „Das ist das Zeichen des ältesten Stammes für den Sitz der Geister.“
Ono lachte. „Ein Stamm, den es nie gegeben hat, malt Bilder von Geistern, die es nicht gibt. Lass das nicht den Großvater hören.“
„Versprich es mir“, sagte Kara nur.
Und er versprach es ihr. Warum auch nicht, dachte er sicher, es gab doch gar kein Zeichen und keine Geister. Wegen so etwas musste man nicht an verschiedenen Enden der Höhle schlafen.
Die Zeit danach war schlimm. Ono und drei andere Jäger waren fortgezogen, und an ihrer Stelle wohnte die Angst wieder bei uns. Es gab mehr Tote, nicht nur Kinder. Nach so langer Zeit weiß ich nicht einmal mehr ihre Namen. Ich erinnere mich nur an die Gesichter: bleich und eingefallen, als hätten böse Geister sie gequält. Wir begruben sie so schnell wie möglich.
Das Wasser im Umkreis der Höhle war schlecht, sagten die Rabenfelsenleute. Alle fühlten sich schwach, müde und krank. Alle hatten diese kleinen Wunden, die scheinbar ohne Grund auftauchten und schwer wieder heilten. Alle hatten weniger Haare, außer dem Großvater, der ohnehin nicht mehr viele auf dem Kopf hatte.
Ich fragte Kara, ob sie glaubte, das Wasser sei schlecht. Ihre Leute kannten es ja schließlich am besten. Sie schüttelte den Kopf. „Es ist alles schlecht hier, Kleiner. Es ist alles verflucht. Der Fluch ist im Wasser, in der Luft, in den Tieren, in den Bäumen. Auch wenn du Blut trinkst oder Regen, es wird dir nicht helfen.“
„Vielleicht finden Ono und die anderen gutes Wasser“, sagte ich.
„Nein“, sagte sie leise. „Nicht da, wo sie hingegangen sind.“
Die Rabenfelsenleute erinnerten sich an Karas Warnungen, aber es schien, als wären sie ihr böse. Sie hätte den Großvater nicht so ärgern dürfen, dann wären wir vielleicht nie nach Norden gegangen, sagten die einen. Vielleicht hat sie uns verflucht, nur damit sie Recht behält, sagten die anderen. Ich machte mir Sorgen um Kara, es ist gefährlich, wenn man einen ganzen Stamm gegen sich hat. Aber es passierte nichts weiter. Niemand hatte Kraft dafür übrig.
Seit die Jäger fortgezogen waren, hatte Kara schon eine neue Kerbe in ihren Zeitknochen geritzt, und der nächste volle Mond stand kurz bevor.
Wir sahen jeden Tag zu den Hügeln, hinter denen die Kundschafter verschwunden waren. „Heute kommen sie sicher zurück“, sagten wir. Aber jeden Tag glaubten wir weniger daran.
An dem Tag, als Kara auf die Hügel zeigte und sagte: „Dort oben ist jemand“, sahen zuerst alle hin, denn sie hatte sehr scharfe Augen.
„Ich glaube, es ist Ono“, sagte Kara, und zum ersten Mal seit langem sah ich sie lächeln. Ich erinnere mich daran, weil es auch das letzte Mal war.
Tatsächlich schien es, als bewegte sich etwas zwischen den Bäumen, langsam und vorsichtig. Aber niemand kam den Hügel herunter, und bald wandte sich der Stamm wieder anderen Dingen zu, und manche tuschelten und tippten sich an Stirn, wenn Kara nicht hinschaute.
Sie starrte weiter zu Hügeln, sah, wie die Schatten wanderten, weil die Sonne höher stieg, und wurde unruhig. „Warum kommt er nicht zu uns?“, fragte sie. Ich folgte ihrem Blick, und ich wollte glauben, dass es dort drüben jemanden gab, weil ich nicht wollte, dass er nur in Karas Kopf war. Aber ich konnte niemanden sehen.
„Ich gehe hin“, sagte sie.
„Dann komme ich mit“, sagte ich.
Wir machten uns auf den Weg, die Blicke der anderen im Rücken. Als Kara neu bei uns war, hätte der Großvater sicher etwas gesagt, vielleicht hätte er es sogar verboten. Inzwischen kümmerte er sich meistens nicht darum, was sie machte, und der Rest des Stammes hielt es auch so.
Die Bäume auf dem Hügel standen nicht sehr dicht, aber es war trotzdem schattig und kühl dort, und der Wind raschelte in den Blättern, dass es wie ein Flüstern klang.
Kara ging schnell, ich musste mich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Anfangs rief sie immer wieder Onos Namen, aber es kam keine Antwort, und nach und nach wurde sie still. Irgendwann drehte sie sich zu mir um, und es war so ein Schmerz in ihrem Blick, dass ich wusste, sie würde sagen, dass wir umkehren sollten, noch bevor sie den Mund aufmachte. Ich wusste, was die anderen sagen würden, wenn wir zurückkehrten. Und Kara wusste es auch.
„Lass uns noch bis zu dem kleinen Fluss gehen“, sagte ich schnell. „Vielleicht hat er Durst bekommen und ist dann dort eingeschlafen.“
Ich gab mir große Mühe, zu glauben, was ich sagte, und ich muss es wohl genug geglaubt haben, denn Karas Blick war voller Dankbarkeit.
Ich ging langsam, dachte darüber nach, wie ich sie trösten könnte, wenn wir nichts fanden.
Dann stach mich etwas in die Nase, und plötzlich hatte ich selbst wieder ein bisschen Hoffnung. „Rauch“, sagte ich und griff nach Karas Hand. „Er muss ein Feuer gemacht haben!“
Wir folgten dem Geruch. Mein Herz schlug schneller, aber auf eine gute Art, wie auf der Jagd. Wir hatten eine Spur. Und sie führte wirklich zum Fluss.
Dort fanden wir ein kleines Häufchen Äste, das nur noch leicht schwelte, im Schatten unter einem Baum am Ufer. Daneben lag jemand, weiß und reglos.
Ich musste schlucken. Er sah nicht aus wie ein Schlafender, sondern wie ein Toter.
„Wer ist das?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort wusste. Ich wollte es nicht aussprechen, nicht wahr sein lassen. Er sah aus wie Großvater, nur sehr krank. Und er atmete nicht.
Kara sagte nichts, sie hatte die Augen geschlossen und hielt ihre Fingerspitzen an seinen Hals. Sie blieb lange so. Ich wagte nicht, sie zu fragen, ob sie einen Herzschlag fühlte.
Ich starrte auf den Boden, weil ich den toten oder beinahe toten Mann nicht erkennen wollte. Die Blätter unter ihm waren zur Seite geschoben. Komisch, dachte ich, es ist doch besser, auf etwas Weichem zu liegen. Und da sah ich, dass neben ihm etwas in den Boden geritzt war. Seine Hand lag darauf.
„Er hat ein Zeichen gemacht“, sagte ich zu Kara.
Sie sah mich an, als würde sie aus einem Traum erwachen. „Was redest du denn da?“, sagte sie.
„Hier.“ Ich nahm die Hand weg. Sie war sehr kalt, und ich habe heute noch Träume, in denen er sich plötzlich bewegt und seine eisigen Finger mein Gesicht berühren. Das sind die Nächte, in denen ich schreie.
Es war das Zeichen, das Kara ihm gezeigt hatte, bevor die Jäger aufgebrochen waren. Der Vollmond mit den abgebrochenen Pfeilspitzen.
Kara sah nur kurz hin, dann schob sie einen Arm unter den leblosen Körper. „Hilf mir“, sagte sie. „Zu zweit können wir ihn tragen.“
Kara war stark. Ich glaube, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte sie Ono ganz allein bis zur Höhle zurückgeschleppt. Aber als wir dort ankamen, war es, als wäre all ihre Kraft verbraucht. Sie saß auf dem Boden, die Arme um sich geschlungen, als ob sie frieren würde, und sprach mit niemandem.
Ich versuchte den Großvater und die anderen zu überzeugen, dass sie mitkommen und sich das Geisterzeichen ansehen sollten, das Ono in die Erde geritzt hatte. Niemand hörte mir zu.
Sie begruben das, was die Geister von Ono übrig gelassen hatten. Sie sangen die Todeslieder und warfen Rabenfedern in den Wind. Dann legten sie sich schlafen.
Ich schlief nicht. Ich dachte an die Geschichten, daran, was unter den Hügeln lag. Was hatte Ono gefunden? Ein Geheimnis, das die Geister bewachten? Wenn sie einen Jäger wie ihn getötet hatten, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sie den Rest von uns holten.
Der Mond war fast rund, und ich dachte daran, dass er eine Welt war, die wir nur wegen des Schattens nicht richtig sehen können, und dass ich gerne ein Boot hätte, um dorthin zu fahren. Von dort oben muss unsere Welt schön aussehen.
Dann schob sich Karas Gesicht vor das Licht. „Ich gehe weg von hier“, sagte sie. „Du kannst mitkommen.“
Ich überlegte nicht lange.
Im Mondlicht war der Pfad, der von der Höhle wegführte, gut zu sehen. Nur die Bäume und Gebüsche waren schwarz, und wir sahen nicht, was sich hinter ihnen verbarg. Deshalb machte mein Herz einen kleinen Sprung, als Großvater plötzlich da stand.
„Zurück zu deinen Leuten?“, fragte er.
„Ja“, sagte Kara. Sie war ganz ruhig. Falls ihr Herz auch einen Sprung gemacht hatte, merkte ich nichts davon.
„Wie du willst“, sagte Großvater. „Aber der Kleine gehört zu uns.“
Mein Herz machte wieder einen Sprung, und diesmal tat es weh. Er hatte recht. Ich hatte Rabenfedern in meinem Haar getragen, seit ich denken kann. Ich hatte die Lieder des Stammes zusammen mit der Milch meiner Mutter getrunken. Aber er hatte auch unrecht. Wenn ich versuchte, mich an das Gesicht meiner Mutter zu erinnern, konnte ich nur Kara sehen.
Ich wollte Großvater von dem Zeichen erzählen, das Ono in die Erde geritzt hatte, bevor die Geister ihn geholt hatten, und von dem Fluch, den der älteste Stamm über uns gebracht hatte. Ich wollte ihm sagen, dass wir an anderen Orten vielleicht hungern würden oder kämpfen müssten, aber dass ein Ort auch ohne diese Dinge tödlich sein konnte. Ich hatte das Gefühl, die richtigen Worte tanzten in meinem Kopf, aber sie wollten einfach nicht herauskommen.
„Wir sterben hier“, sagte ich zu Großvater.
„Vielleicht sterben wir hier, oder wir sterben woanders. Aber wir sterben mit den Leuten, die zu uns gehören.“
„Kara gehört zu uns“, sagte ich.
Großvater schwieg. Es war schlimmer, als wenn er nein gesagt hätte.
„Ich gehöre zu ihr“, sagte ich.
Er sah mich lange an. Seine Augen glitzerten im Mondlicht.
„Dann geh mit ihr“, sagte er.
Wenn man ein Kind ist, denkt man, es braucht eine große Zeremonie, wenn ein Junge zum Jäger wird oder wenn ein Mädchen das erste Mal blutet, weil man dann aufhört, ein Kind zu sein, und das kommt einem geheimnisvoll und furchterregend vor. Aber kein Kind mehr zu sein, ist ganz einfach. Ich weiß genau, wann ich damit aufhörte: Es war dieser Moment.
Ich wollte weinen, aber ich tat es nicht.
Ohne einen Stamm ist man verloren. Das habt ihr schon oft gehört, aber wenn ihr noch nie von euren Leuten getrennt wart, wisst ihr nicht, was es bedeutet. Zwei Menschen sind kein Stamm, auch wenn sie zusammengehören. Alles ist schwerer, wenn es auf nur vier Schultern verteilt ist. Die Nachtwache, die Suche nach Essbarem, das Vertreiben der schlimmen Gedanken. Jede Nacht hockten wir an einem kleinen Feuer, oft hungrig, manchmal halbwegs satt. Wir konnten nur abwechselnd schlafen, deshalb sprachen wir wenig. Aber in manchen Nächten hielt ich die Stille nicht aus.
Unser Lager hatten wir am Ufer eines kleinen Sees aufgeschlagen. Kara hatte ein paar kleine Fische gefangen und Muscheln gefunden. Alles schmeckte nach Schlamm, aber ich war hungrig und dankbar.
„Wie finden wir deine Leute?“, fragte ich.
„Wir finden den großen Fluss, dann finden sie uns“, sagte Kara.
„Und dort werden wir vor den Geistern sicher sein?“ fragte ich.
Kara schwieg, lange. Sie spielte mit ihrer Knochenkette, fuhr mit den Fingern immer wieder über die letzten Kerben, mit denen sie die Zeit gezählt hatte, seit wir die Rabenfelsenleute verlassen hatten. Ich dachte, sie würde nicht antworten.
„Du solltest keine Frau nehmen“, sagte sie plötzlich. „Wenn der Fluch in dir ist, wirst du ihn an deine Kinder weiter geben.“
Ich nickte. Daran hatte ich schon gedacht.
Kara starrte ins Feuer. „Ich habe seit drei Monden nicht mehr geblutet“, sagte sie.
Ich erschrak. Über solche Dinge hatten wir nie gesprochen. Erwachsenendinge. Frauendinge. Mein Gesicht wurde heiß. Außer mir gab es niemanden, mit dem Kara sprechen konnte, und ich war ein denkbar schlechter Ratgeber.
„Was willst du tun?“, fragte ich.
„Ich sorge dafür, dass du in Sicherheit bist. An etwas anderes denke ich nicht.“
„Aber was ist, wenn …“
„An etwas anderes will ich nicht denken“, sagte Kara.
Danach redeten wir nicht mehr viel, und bald legte sie sich schlafen. Ich war an der Reihe, Wache zu halten. Aber wir waren an diesem Tag weit gelaufen, und es war alles ruhig. Wenn ich nur einen Moment die Augen schließe…, dachte ich.
Dann wachte ich auf, weil Kara schrie.
Es waren Hunde, fünf große, zottige Bestien. Es gibt eine Geschichte über der Zeit des ältesten Stammes, die sagt, dass Hunde und Menschen damals Freunde waren. Ich glaube viele Geschichten, aber diese muss ein Märchen sein.
Der größte Hund war nur eine Armeslänge von Kara entfernt, die anderen waren dicht hinter ihm. Sie knurrten, und von ihren Zähnen tropfte Geifer. Kara schwenkte einen brennenden Zweig hin und her. Die Muskeln der Tiere zuckten. Noch wagten sie nicht, anzugreifen, aber es war nur eine Frage der Zeit.
„Lauf!“, schrie Kara zu mir. Aber ich konnte nicht weglaufen. Es war meine Schuld, dass die Hunde uns so nah gekommen waren. Ich griff nach meinem Speer, der nicht mehr war als ein angespitzter Ast.
Ich war sicher, dass ich sterben würde, und ich glaube, deswegen hatte ich keine Angst. Ich sprang auf den größten Hund zu, schrie aus vollem Hals und zielte zwischen seine Augen.
Die Hunde sprangen ebenfalls, knurrend und bellend. Es gab einen Moment, der nur aus Fell und Zähnen und Schreien bestand.
Dann war es plötzlich vorbei.
Ich hatte schlecht gezielt. Der Speer traf das aufgerissene Maul des Tieres und drang tief in den Rachen ein. Der Hund machte ein schreckliches Geräusch, dann starb er.
Die anderen rannten jaulend davon.
Ich drehte mich zu Kara um, merkwürdig stolz, schließlich hatte ich nur Glück gehabt.
Kara saß auf einem Stein, hatte einen Fuß auf ihr anderes Bein gelegt und sich darüber gebeugt. In der Hand hielt sie noch immer den brennenden Zweig. Es war noch mitten in der Nacht, aber der Feuerschein reichte aus, um die dunklen Löcher zu sehen.
Mit einem Schlag war mein Stolz verschwunden. „Sie haben dich gebissen“, sagte ich.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. „Sie kommen nicht zurück. Du hast den Großen getötet.“
Der Biss eines Hundes ist tödlich. Ich habe Leute gekannt, die das große Fieber bekamen und nicht daran starben, und Leute, die einen Arm oder ein Auge verloren und trotzdem lange lebten. Ich selbst habe im verfluchten Land gelebt und bin trotzdem ein alter Mann geworden. Aber im Maul eines Hundes wohnt der sichere Tod. Die Wunden verfaulen und das Fieber tötet in wenigen Tagen.
Ich wusste das, aber ich war noch vor kurzem ein Kind gewesen. Deshalb dachte ich daran, dass der älteste Stamm alle Wunden und Krankheiten heilen konnte und dass die Wasserleute das Wissen des ältesten Stammes bewahren, indem die Kinder von ihren Müttern lernen, was die von ihren Müttern gelernt haben, bis zurück zu den ältesten Müttern.
„Kannst du laufen?“, wollte ich fragen, aber aus meinem Mund kam nur ein ersticktes Geräusch.
„Es ist nicht mehr weit bis zu meinen Leuten“, sagte Kara. „Dort wirst du in Sicherheit sein.“
„Was ist mit dir?“, brachte ich heraus.
„Ich gehe zu meiner Mutter“, sagte sie. „Schlaf ein bisschen. Bald geht die Sonne auf.“
Ich atmete auf. Karas Mutter war eine weise Frau, eine Großmutter. Bestimmt wusste sie, was zu tun war, dachte ich. Wegen des Hundebisses und wegen der anderen Sache. Der Frauensache.
Kara sang ein Lied für mich.
Ich schlief ein, weil ich glaubte, am Morgen würde alles gut sein.
Die Sonne stand schon weit oben, als ich aufwachte. Ich hob die Hand vor die Augen, weil das Licht blendete, und fühlte etwas in meinem Gesicht, als würde eine dünne, hautlose Geisterhand darüber streichen. Ich schreckte hoch und sah Karas Kette, sorgfältig um mein Handgelenk gewickelt. Die letzte Kerbe darauf war neu. Es war eine Welle.
Lange Zeit später bin ich einmal in das verfluchte Land zurück gekehrt, um zu sehen, was aus den Rabenfelsenleuten geworden war. Ich fand Gräber, und die Knochen derjenigen, die nicht mehr begraben werden konnten. Der Fluch hat niemanden verschont. Damals, und auch sonst nie wieder, habe ich nicht soviel Schmerz gefühlt wie in diesem Moment.
Sie hatte neben mir sorgfältig das Gras ausgerissen, ein Stück vom Ufer entfernt, wo das Wasser des Sees es nicht überspülen würde. In den kahlen Boden waren Zeichen geritzt. Hier der See, dort die Berge, und der große Fluss, mit einem Pfeil. Diese Richtung. Sie hatte auch das Geisterzeichen hinzugefügt. Vergiss nicht. Erzähl die Geschichte.
Ich fand ihren Körper, nachdem ich lange das Ufer abgesucht hatte. Als erstes trat und schlug ich nach ihr. Ich war wütend, vor allem auf mich selbst. Sie hatte mich nicht angelogen. Für ihre Leute ist das Wasser auch eine Mutter. Die Quelle des Lebens, von der alles kommt und zu der alles zurückkehrt.
Bald war ich nur noch traurig und nicht mehr wütend. Ich dachte daran, ein Grab auszuheben, aber ich hatte nur meine Hände. Außerdem glaubte ich, dass es ihr im Wasser besser gefallen würde als in der Erde. Als die Abenddämmerung anbrach, ließ ich sie dort zurück.
Ich fand den großen Fluss und wurde von den Wasserleuten gefunden. Alle waren freundlich zu mir, aber ich konnte mich an das Leben auf dem Fluss nicht gewöhnen. Ich verließ den Stamm, weil ich ohnehin verloren war.
Ich wurde ein Wanderer und ein Geschichtenerzähler. Ich warne die Stämme, die mir begegnen, vor dem verfluchten Land. Ich lehre sie das Geisterzeichen, damit sie erkennen, wo Gefahr droht. Es gibt noch andere Orte, von denen man sich besser fernhält.
Der älteste Stamm hat überall Spuren hinterlassen, die wir nicht mehr verstehen. Geschichten sind das einzige, was uns von ihnen geblieben ist, und was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr sind. Ich wünschte, wir könnten den Leuten nach uns gute Geschichten hinterlassen. Aber die Zeiten sind schlecht, und wir müssen die Geschichten nehmen, die wir bekommen können.