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Das Ende einer Expedition
Drei Worte vorneweg, obwohl es nicht gern gesehen ist. Die folgende Story ist ein Produkt der Zusammenarbeit mit Cerberus81. Er nahm sich einen alten Text von mir und verarbeitete ihn neu, dasselbe tat ich mit einem seiner Stücke. Dies hier ist also eine Art Cover-Version zu einem alten Hit [Titel der Story von Cerberus:Wenn die Zeit sich verspätet und Nacht von Blitzen triumphiert wird ]. (Ich denke, Cerberus wird seinen Beitrag in den nächsten Tagen posten - ich bin schon gespannt)
Das Ende einer Expedition
(nach Cerberus 81)
Die Aussicht hätte gut und gerne aus dem letzten TUI-Reisekatalog stammen können. Der Sonnenuntergang über dem Regenwald, die schwarzen Silhouetten der Vögel, die über den Wipfeln nach ihren Nestern suchten und nicht zuletzt die kompakte Einheit, die der Dschungel selbst als eine Art natürliches Dach bildete. Einzig die dann und wann aufblitzenden Detonationen, welche die Front markierten, zerstörten das Bild. Von den Einschlägen allerdings war noch kaum etwas zu hören.
Vor der Höhle, auf einem Vorsprung über einer meilentiefen Schlucht, im Finstern, nur erleuchtet durch die zwei Zigarettenspitzen, saßen Phillipo und Mona auf zwei Klappstühlen, die sie tatsächlich irgendwo hervorgekramt hatten.
„Sie kommen immer näher“, durchbrach Mona die Stille.
Drinnen, in der Höhle, saßen Edgar und Laura, Pablo würde sicher sein Nasenbluten stillen, unter dem er hier oben ständig zu leiden hatte, und Stromgaard saß sicher immer noch an seinem Satellitensender und versuchte ihn gangbar zu machen.
Wenn man die Moskitos ignorieren konnte, war die Luft herrlich. In der Regenzeit wurde es abends erst schön, die Tiere, die tagsüber Schutz vor den Unwettern suchten, kamen in der Dämmerung hervor und trugen mit ihrem unbeschwertem Gelärm zu der zauberhaften Atmosphäre bei.
Ganz leise war Grummeln zu hören.
„Wie lange mag es noch dauern, bis sie hier sind?“, fragte Mona.
Phillipo zuckte mit den Schultern; die Zeit für den Abflug hatten sie eh verpasst, sie konnten nur noch hoffen, dass die Rebellen es nicht schaffen würden, bis hier vorzudringen.
„Wir werden es sehen“, erwiderte er etwas spät und drückte seine Zigarette aus. „Ich hoffe nur, dass wir bis dahin irgend etwas gefunden haben.“
„Irgendetwas ist gut. Mir scheint, der gute Professor hat die Übersicht verloren, wonach er eigentlich sucht.“
Phillipo nahm seinen Hut ab und versuchte die Mücken zu vertreiben, die einen sofort anfielen, wenn man die Zigarette weglegte.
Wieder ein Grummeln, dieses Mal so laut, dass die erschreckte Tierwelt mit Schweigen antwortete.
„Diese Untätigkeit“, meinte Mona. „Sie ist am Schlimmsten. Sitzen und warten. Warten und sitzen. Nichts wäre jetzt wichtiger, als den anderen Höhleneingang zu finden um die Gänge auch von der anderen Seite untersuchen zu können. Aber was? Wir sitzen fest, weil die Front uns den einzigen Weg abschneidet, der hier herabführt. Es ist so...frustrierend.“
„Hmmh.“
Ein Gedanke ließ Phillipo nicht los: Erst wenn der Tod dein ständiger Begleiter wird, wenn er mit dir auf Reisen geht, ohne ein Wort zu sagen und du bebst vor Erregung. Wenn er dann mit seiner Sense schweift und du lebst noch, atmest, fühlst, schmeckst. Du siehst noch und hörst, trotz aller Verletzungen und scheinbarer Ruhe. Erst dann hast du den Krieg richtig erlebt. Er hatte ihn von seinem Großvater gehört und in den letzten Tagen kam er ihm immer wieder zu Bewusstsein.
Mona stemmte sich hoch. „Wir werden ins Loch gehen müssen.“
„Was?“ Phillipo schaute auf. „Bist du verrückt? Wir haben versucht, die Tiefe dieses Dinges zu messen; alles Seil, das wir hatte, war zu kurz. Wenn der Felsbrocken, den wir runterwarfen, mittlerweile schon unten angelangt ist, so haben wir das wenigstens nicht mitgekriegt. Dieses schwarze Loch im Fußboden der Höhle, das Stromgaard auch so fasziniert, das Ding scheint ohne Boden zu sein. Und da willst du runter?!“
„Aber was haben wir für eine Wahl? Vor zwei Stunden noch war der Geschützdonner nicht zu hören. Wir konnten das Feuerwerk, das diese Aufständischen dort veranstalten, nur sehen. Und jetzt?“
Stille. Kein Donner, um Monas Worte zu unterstützen. Aber Phillipo wusste, was sie meinte.
„Die Frontlinie ist bald hier. Und wir haben nicht mal einen dämlichen Katapult, um uns zu verteidigen.“
„Aber in diesen Abgrund?“
Ein Geräusch aus dem Inneren der Höhle, als Stromgaard hinausgestürzt kam. Die grauen Haarbüschel, die er sonst schon sehr schwer bändigen konnte, hingen ihm vollends im Gesicht – ein Strohballen machte einen gepflegteren Eindruck.
„Verdammt!“, fauchte er und warf sich in den Stuhl, in dem Mona eben noch gesessen hatte.
„Verdammt, verdammt!“ Er war manchmal wie ein Zehnjähriger – genial auf seine Weise, aber kindisch.
„Was ist los“, fragte Mona behutsam. „Funktioniert er immer noch nicht?“
Stromgaard sprang ohne zu antworten wieder auf und lief zurück in die Höhle. Als Mona und Phillipo sich entgeistert anstarrten, steckte er den Kopf noch einmal heraus und knurrte: „Kommt rein! Wir haben was zu besprechen.“
Pablo saß in der finstersten Ecke und hielt sich die Nase. Er schien kaum Notiz zu nehmen von den anderen.
Laura und Edgar blickten beinahe feindselig auf die Versammelten und hielten sich bei den Händen wie Hänsel und Gretel. Es war bezeichnend, dass sie zwar gegenüber von Pablo, doch ebenso weit entfernt von der Mitte saßen.
Die Mitte war das Loch. Etwa zwei Meter im Durchmesser, schwarz und bösartig. Phillipo hatte es entdeckt, als sie schon vier Tage hier gesucht hatten. Niemand war auf die Idee gekommen, dass unter dem Felsbrocken, der zentral in dieser Grotte thronte, etwas verborgen sein konnte. Es hatte sie einen weiteren Tag gekostet, den Stein beiseite zu rollen.
Als Phillipo die beiden ansah, und ihre Abneigung den anderen gegenüber erkannte, wusste er, dass die Mission gescheitert war.
Stromgaard sprang herum wie ein Irrer. Er gebärdete sich wie ein Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hatte. Er schimpfte in vier verschiedenen Sprachen, stieß mit dem Fuß gegen den Fels, der es stoisch ertrug, und giftete jeden der Crewmitglieder persönlich an. Als Mona und Phillipo hereinkamen, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf sie.
Urplötzlich dann war sein Wutanfall beendet und Stromgaard füllte seinen Becher mit Kaffee und setzte sich zu den anderen.
„Was können wir tun?“, fragte er erschöpft.
Sie hatten diese Ausraster von ihm schon des öfteren erlebt und sich mit der Zeit an sie gewöhnt. Wenn man ihn nicht unterbrach, gingen sie in der Regel sehr schnell vorüber. Hinterher war Stromgaard lockerer, entspannter – zumindest bis zum nächsten Anfall.
„Wie sind denn die Umstände?“, fragte Phillipo, nur weil er merkte, dass es sonst niemand tun würde. „Wie sieht es aus?“
„Wie es aussieht, du Spaßvogel? Scheiße sieht es aus!“ Laura aus dem Halbdunkel. Sie hatte sich kein bisschen gerührt, sie war, im Gegenteil, noch dichter an Edgar herangerückt. „Wir sitzen hier in einer vermoderten Höhle, der Weg in die Ebene wird von verrücktgewordenen Eingeborenen blockiert und das Tollste an der Sache ist: Der Grund, weshalb wir hier oben sind...“ Sie sah sich um. „...ich habe ihn vergessen.“
Sie ist kurz davor, hysterisch zu werden, dachte Phillipo.
Edgar schien das auch zu bemerken und drückte beruhigend ihren Arm.
„Was soll das heißen?“, krähte Stromgaard. „Soll ich Sie daran erinnern, wie viel Ihnen die Universität zahlt, damit Sie hier oben sind?“
„Was nützt uns das Geld, wenn wir hier nicht lebend herauskommen?“
Pablo machte eine Bewegung, hielt aber sofort inne. Stromgaard starrte Laura durch seine Brille hindurch an, als wollte er sie hypnotisieren. Er sah aus wie ein armseliger Geier mit seinem dürren Hals und dem Büschel grauer Haare auf dem Kopf.
„Wenn Sie mir bitte erklären würden, was Sie damit meinen!“ Es wurde still, Laura antwortete trotzig: „Sagen Sie mir einen Ausweg hier heraus. Nennen Sie mir eine Möglichkeit, diese Höhle lebend zu verlassen!“
Stromgaard schien ehrlich überrascht. „Warum?“, fragte er konsterniert. „Warum sollen wir die Höhle nicht verlassen können? Wenn Sie die Rebellen meinen, die sich mit den Regierungstruppen einzelne Scharmützel liefern, so kann ich Ihnen versichern, die Front ist weit weg.“
Laura lachte auf. Neben ihr Edgar erhob sich. Er sah in die Runde und fixierte dann Stromgaard.
Phillipo hatte Edgar von Anfang an nicht gemocht, zu arrogant für seinen Geschmack. Laura war hübsch auf ihre Art, aber sehr naiv. Doch Edgar sah sich über allen.
„Professor“, begann Edgar und jeder in der Höhle lauschte gespannt. Dann und wann grummelte es leise im Hintergrund. „Ich will ehrlich sein: Diese Expedition ist ein Fehlschlag! Seit über einer Woche suchen wir in diesem verdammten Berg nach Hinweisen auf das verschwundene Volk. Aufgrund dieser Karte, die Sie zugeschickt bekamen von jemandem, den Sie nicht kennen, sind wir losgestolpert. Ich gebe zu, anfangs war auch ich fasziniert von dem Text, der auf der Rückseite stand und das Schriftstück schien authentisch zu sein. Es schien so einfach: Wir finden die Grabstätte eines unbekannten Eingeborenenstammes und sind auf Schlag berühmt und anerkannt in der Fachwelt. Es konnte gar nicht schief gehen. Doch wissen Sie, was mich stört an der Sache? Kennen Sie den Haken?“
Während er eine Pause ließ, schlug irgendwo ganz in der Nähe ein Geschoss mit einem scharfen Knall ein. Sie zuckten zusammen.
Edgar fuhr fort, ohne sich stören zu lassen: „Ich habe nirgends, in keinem Fachbuch, in keiner Zeitschrift und nicht im Netz etwas über die Girokja’x-Indianer gefunden. Es gab nicht den kleinsten Hinweis auf diese angebliche Hochkultur, die ihre zentrale Begräbnisstätte hier angelegt haben soll. Nichts, nirgends auch nur eine Idee davon. Wir ziehen los, wochenlang durch unwegsames Gelände, Regenwald at his best. Und die letzten Kilometer dürfen wir nicht einmal Träger nehmen, wir schleppen alles selbst hier rauf. Soviel Heimlichkeiten um eine Höhle, die nichts zu bieten hat!“
„Mister Fabius! Sie wissen, dass diese Expedition nicht nur den Girokja’x gilt, sondern allgemein den Begräbnisritualen der Ureinwohner dieses Kontinents. Nicht mehr und nicht weniger. Dafür sind Sie angestellt, dafür werden Sie bezahlt und dafür...“
„Was ist mit dem Sender?“
Das war Pablo gewesen. Er saß noch immer in seiner Ecke und hielt das Tuch vors Gesicht.
„Vergiss den Sender, Pablo“, knurrte Stromgaard. „Der ist hinüber.“
„Dann müssen wir einen anderen Weg finden.“ Pablo hatte diesen Satz wie nebenbei gesagt. Trotzdem zeigte er mehr Wirkung, als alles vorher Gesagte. Betroffenes Schweigen, selbst Stromgaard stierte vor sich hin und schien abwesend.
Und mit der selben Beiläufigkeit nuschelte Pablo: „Ich geh’ rein und sehe mich unten um.“ Und alle wussten, was er meinte und jeder schien aufzuatmen.
„Die Kamera!“, stotterte Stromgaard. „Denk an die verdammte Kamera!“
Gleich nachdem sie das Loch entdeckt hatten, waren sie begierig gewesen, zu wissen, was sich unten befand. Sie hatten eine Kamera mit Lampe hinab gelassen, die merkwürdige Bilder übertragen hatte. Verzerrungen, Verformungen, nichts Materielles. Es schien, als würde der Raum gekrümmt, als hätte man eine Linse vor das Objektiv gesetzt und diese dann langsam hin- und herbewegt. Dann, mit einem Schlag, wurde der Bildschirm schwarz und sie hatten minutenlang schweigend davor gesessen und vergeblich auf Bilder gewartet.
„Die Kamera, ja“, murmelte Pablo. „Vielleicht war sie defekt. Ich gehe trotzdem; kann nicht schaden zu schauen.“
Phillipo wusste nicht, was er sagen sollte. Einerseits war er froh, dass überhaupt jemand etwas unternahm, andererseits war ihm klar, dass dieses Experiment nur tödlich enden konnte. Pablo hatte sicher keine Chance. Doch Phillipo hatte ihn in den vergangenen Wochen als verschlossenen, aber grundsatztreuen Zeitgenossen kennen gelernt. Entweder war Pablo im Regenwald herumgestreift und hatte seltene Pflanzen untersucht oder aber er hatte sein hartnäckiges Nasenbluten bekämpft.
Niemand wollte seine Erleichterung offen zeigen, doch sofort war die Atmosphäre entspannter und lockerer. Phillipo hoffte, dass jetzt niemand einen Scherz machte.
Stromgaard ging zu Pablo hinüber und schüttelte ihm die Hand. Aufgeräumt sagte er: „Sehr schön, Junge.“
In dem Moment unterbrach eine metallene Stimme die Stille. In einem Singsang von Vokabeln zelebrierte sie ohne erkennbare Pause eine Sprache, die so fremd und unnatürlich klang, dass sie erst auf den zweiten Blick als Kommunikationsmittel zu erkennen war.
„Der Sender.“ Stromgaard verschluckte sich beinahe bei dieser Feststellung. Er stürzte in die Ecke, in der das Gerät stand und kniete sich davor. Atmosphärische Störungen unterbrachen die Stimme wieder.
Kreidebleich stand der Professor auf und kam zu ihnen herüber. „Die Stromversorgung...“, krächzte er. „Das Ding dürfte gar nicht funktionieren. Es hat überhaupt keinen Saft.“
Und dann plötzlich wieder Stille, das Geleier brach übergangslos ab und der Sender zeigte wieder keine Regung – wie vorher.
Das Granatfeuer im Hintergrund war lauter geworden; man konnte nunmehr einzelne Schläge unterscheiden und dann und wann klangen die Einschläge bedrohlich nahe.
„Was zum Teufel war das für eine Sprache?“, fragte Mona entgeistert.
„War das überhaupt eine Sprache?“ Phillipos Frage war mehr als rhetorischer Natur. Jetzt, nachdem dieses Geräusch verklungen war, erschien ihm diese Einschätzung nicht mehr so klar.
„Mich interessiert, warum der Kasten plötzlich angesprungen ist, ohne Strom!“
„Restladung?“, fragte Phillipo und im selben Moment erkannte er den Unsinn seiner Frage.
Pablo hatte das Tuch sinken lassen, war aufgestanden und schien sich umzuschauen. Angestrengt lauschte er.
Dann flüsterte er: „Was geht hier vor? Irgendetwas geht hier vor!“ Und stand unbeweglich in der Halle und hatte den Kopf schiefgelegt wie ein Hund.
„Hört Ihr das?“
Auch die Anderen lauschten atemlos. Phillipo gab sich Mühe, doch außer dem Hintergrundgrummeln konnte er nichts vernehmen. Er versuchte sich nicht zu bewegen, nicht zu atmen, das kleinste Geräusch zu vermeiden, doch er nahm nichts wahr.
Ein unglaublicher Knall folgte, dem sich das blanke Chaos anschloss. Ein Gedanke durchfuhr Phillipo: Wir sind getroffen!
Und so war es. Die ganze Höhle erzitterte, die Wände barsten, von der Decke kamen Gesteinsbrocken geflogen.
Phillipo sah wie Mona schrie. Sie kam auf ihn zugelaufen und rief ihm etwas zu, doch er hörte nichts.
Stromgaard sprang schon wieder umher wie ein Verrückter und Pablo hatte das Gesicht bedeckt mit dem Taschentuch.
Edgar und Laura in ihrer Ecke hatte es am schlimmsten erwischt. Er war offensichtlich tot. In seiner Arroganz war er von einem schweren Stein getroffen worden, der Brustkorb war völlig eingedrückt – keine Chance.
Laura lag neben ihm auf dem Rücken und versuchte mühsam sich aufzurichten. Hilflos blickte sie auf ihr rechtes Bein, das fast vollständig abgetrennt war. Mit dem Oberschenkel lediglich mit einer Sehne verbunden, machte das Glied nicht mehr den Eindruck, als sei es Teil ihres Körpers. Dennoch zuckte es wie wild. Laura blickte auf und sah Phillipo entsetzt an. Dann begann sie zu husten und mühsam würgte sie Blut hervor und gelblichen Schleim, der ihr die Mundwinkel hinabrann.
Stromgaard schob sich lautlos ins Bild und brüllte etwas zu ihm. Hören konnte er es nicht, aber Phillipo sah die Laute: „Wir sind getroffen!“
Gott sei Dank haben wir Stromgaard, dachte er.
Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter – er schreckte herum. Mona stand vor ihm und redete auf ihn ein. Er hörte nichts, rein gar nichts – Totenstille. Alles um ihn herum lief ab wie ein Film mit weggedrehtem Ton. Seine Ohren mussten bei dem Krawall in Mitleidenschaft gezogen worden sein, Hörsturz oder ähnliches. Für ihn herrschte in dem Chaos totale Stille.
Vor dem Höhleneingang blitzte es einige Male. Der flackernde Schin fiel auf Laura und Edgar, die bewegungslos am dichtesten zum Eingang lagen.
Pablo und Stromgaard diskutierten heftig miteinander. Phillipo sah, das, denn der sonst so ruhige Pablo redete jetzt mit Händen und Füßen und der Professor schüttelte in einem fort seinen Kopf. Dann drehte Pablo sich um und ging nach hinten zu der Nische, in der ihre Vorräte lagen. Er kam zurück mit einem Bund Seil, das er neben dem Loch auf die Erde warf. Und während Stromgaard immer fuchtiger wurde und Mona unter Tränen auch auf ihn einredete, nahm Pablo das eine Ende des Seils und schlang es sich um den Körper. Dann griff er sich das andere Ende und ging damit zu der Winde, die sie schon vor Tagen festgemacht hatten, kurz nachdem sie das Loch entdeckt hatten.
Er will tatsächlich da reingehen, dachte Phillipo entsetzt. Mona und Stromgaard gaben ihren Widerstand auf und standen nun apathisch daneben, als Pablo an den Rand der Schlucht ging und hinunter schaute. Er sah auf und blickte Phillipo in die Augen.
Es dauerte einige Momente, bis Phillipo begriff, dass Pablo ihn etwas gefragt hatte. Er tat so, als hätte er das nicht gehört – was ja tatsächlich der Fall war – und trat ebenfalls an das Loch.
Jetzt standen sie beide sich gegenüber und Phillipo vermied es, seinen Kameraden anzuschauen. Es roch nach Schwefel, fand er, und zwar nicht zu knapp. Das war ihm vorher nicht aufgefallen. Er kniete sich nieder und schnüffelte noch einmal. Es war unverkennbar.
Als er sich wieder aufrichtete, war Pablo schon halb im Schacht verschwunden. Aus seiner Nase zog sich schon wieder ein feiner Blutstreifen, er schien es nicht zu bemerken. Er winkte ihnen noch einmal zu und ließ sich dann hinab.
Stromgaard stellte sich neben ihn und sah hinunter. Sehr schnell war von Pablo nicht mehr zu erkennen als ein schemenhafter Lichtkegel.
Stromgaard rief etwas in den Schacht hinein, ging dann hinüber und überprüft die Winde.
Mona saß zusammengekauert an der Erde und blickte ängstlich wie ein kleines Kind zu ihnen hinüber. Phillipo wollte ihr aufmunternd zuwinken, unterließ es dann aber lieber.
Plötzlich wurde er geschüttelt, dass es ihn von den Beinen holte. Er fiel hin und konnte sich eben noch halten, bevor er in den schwarzen Schlund rutschte. Eine neuerliche Detonation. Es musste ein gewaltiger Krach herrschen, er sah, wie Mona aufsprang und zu Stromgaard hinüberlief. Dann schrieen sie sich an. Mona war vollkommen fertig, sie schaute panisch zum Eingang der Höhle, immer wider, als erwarte sie jeden Augenblick ein Unheil hervorbrechen. Stromgaard war nicht minder aufgeregt; sie kümmerten sich nicht um Phillipo.
„Phillipo!“
Er drehte sich um und erst dann wunderte er sich, dass er hören konnte. Eine feine, schmeichelnde Frauenstimme rief ihn. Sie drang dabei so klar an sein Ohr, als hätte er die ganze Zeit darauf gewartet.
„Es wird Zeit, dass du kommst, Phillipo. Kümmere dich nicht um das Loch! Das Wissen ist hinter der Wand. Presse den Vorsprung so fest du kannst!“
„Was?“, rief Phillipo, doch er hörte es nicht. Er ging auf die Wand zu, von der die Stimme gesprochen hatte. Langsam ging er hinüber, die Arme vorgestreckt. Ein erneutes Zittern lief durch den Raum. Phillipo sah es aufblitzen. Es wurde Zeit!
Er untersuchte die Wand. Es gab tatsächlich nur einen Vorsprung, der in Frage kam, eine Art Nase in Schulterhöhe. Und wenn man es so betrachtete, konnte man diesen Vorsprung als eine Art Klinke betrachten.
Er legte beide Hände auf diesen Buckel und begann zu pressen. Er spürte die Blicke von Mona und Stromgaard in seinem Rücken. Er drückte dagegen, doch nichts passierte, nichts bewegte sich. Er stemmte sich stärker dagegen, presste mit aller Kraft, doch nichts rührte sich.
Er ließ ab und drehte sich um zu den anderen beiden. Er wollte sie entschuldigend anlächeln, doch da sah er, wie Monas Augen sich vor Schreck weiteten. Sie blickte mit Entsetzen auf etwas, das hinter Phillipos Rücken vor sich ging. Ebenso Stromgaard. Mona schrie und fuchtelte mit den Armen.
Als Phillipo sich umdrehte, erfolgte die schwerste Erschütterung und auf Schlag fiel das Licht aus.
Phillipo tastete blind und taub den Gang entlang. Seine Finger glitten über die raue Oberfläche der Wände. Dann und wann Schleim wie lebende Substanz.
Er hatte die Augen aufgerissen in Erwartung, ein helles Licht zu sehen, das größer wurde. Doch absolute Dunkelheit.
Ein Hauch streifte seinen Körper und er blieb stehen. Hielt den Kopf schief, als würde es etwas nutzen. Dann noch einmal ein Luftzug und er drehte sich um. Er war überzeugt, dass noch jemand hier war.
„Stromgaard?...Mona?“, rief er, nicht sicher, ob man es hören konnte. Er hatte sich eingebildet, die beiden seien tot Die Detonation war heftig gewesen und beide hatte in der Mitte der Halle gestanden.
Vielleicht doch nichts?
Es hatte den Anschein, als würden die Wände immer glatter werden – poliert, spiegelblank. Mit der Zeit entwickelte er ein gewisses Gefühl in den Fingerspitzen. Und dann unvermittelt der Aufprall.
Er hatte kaum Zeit, Empfindungen zu registrieren. Ganz kurz hatte er den Eindruck, ein Nebel oder Dampf rase mit der Wucht einer Lokomotive durch seinen Körper hindurch. Dabei blieb das Element an Teilen seiner inneren Organe hängen und riss sie mit sich.
Phillipo konnte wieder hören!
Das Heulen des Nebels, das wie ein verwundetes Tier klang, konnte er wahrnehmen. Und das letzte Geräusch, dessen er sich bewusst wurde, war das widerliche Klatschen, das seine linke Niere verursachte, als sie in seinem Rücken auf den Boden fiel.
Dann verließ alles Leben Phillipo.
*
Der Kleine saß friedlich zu Füßen seines Großvaters. Der Alte saß in seinem Sessel und erzählte zum dutzendsten Mal von seinen Kriegserlebnissen.
„Erst wenn der Tod dein ständiger Begleiter wird, wenn er mit dir auf Reisen geht, ohne ein Wort zu sagen und du bebst vor Erregung. Wenn er dann mit seiner Sense schweift und du lebst noch, atmest, fühlst, schmeckst. Du siehst noch und hörst, trotz aller Verletzungen und scheinbarer Ruhe. Erst dann hast du den Krieg richtig erlebt.“
Das Telefon klingelte hohl. Es war noch ein alter Wählscheibenapparat. Der Junge stand auf und lief in den Flur.
Als er den Hörer abnahm und lauschte, hörte er seltsame Töne, Stimmen sprachen in merkwürdigen Dialekten und Explosionen durchfluteten die Nacht einer vergessenen Zeit.
„Hallo Phillipo! Du musst kommen! Komm zu uns und hilf! Wir warten auf dich, lange.
Komm!
Komm!“
Der Junge legte auf und ging zurück zu seinem Großvater.