- Beitritt
- 28.12.2009
- Beiträge
- 2.438
- Anmerkungen zum Text
Zweiter Teil der Serie. Teile dieses Textes sind aus einem anderen, älteren Text entnommen.
Das dunkle Herz der Männer II
Es bebt, gleich da unter ihrem Rock. Da bin ich mir sicher. Sie bebt, und macht mich verrückt damit. Sitzt einfach so in der Gegend, lässt die Beine von der Mauer baumeln. Ein grausames Biest. Schenkt mir ein Lächeln, sagt: „Malst du mir was, Onkel Hans?“, und reicht mir Malkasten und Papier. Mein Mund ist trocken. Ich nehme das Papier an mich, breite es vor mir aus. Sie sieht mich neugierig an, ganz erwartungsvoll – und ich leide in stiller Agonie, kann keinen klaren Gedanken fassen. Malen. Sie mag Tiere. Alle Kinder mögen Tiere. Ich weiß nicht, warum, aber so ist es. Ich starre auf das Weiß, sie rückt näher. Ihr Geruch in der Luft, ganz leicht nur, gerade so wahrnehmbar … ich atme gleichmäßig, etwas pocht in meinem Kiefer, dann nehme ich den Kohlestift aus dem Kasten und zeichne ein Paar Augen auf das Papier. Ich weiß nicht, warum – sie fließen aus meinen Fingern, ich halte nur den Stift, danach passiert es von selbst, ganz organisch. Augen, und diese Augen starren mich, starren sie an.
Ich hasse ihre Haare. Blond und dünn und lang. Ich würde ihr den Kopf kahl scheren, es wäre wie eine Kastration. Sie legt ihre Hand auf meinen Arm, fragt: „Malst du weiter?“ Ihre Stimme ist die einer Sirene, es ist eine Qual, ihr zuzuhören. Man gibt mir sowieso zu viel Zeit mit diesem Gör, mein Verstand hält das kaum noch aus. Ich würde ihre Schenkel küssen, das zuerst, und dann, ganz langsam, ihre Ärmchen umdrehen, bis die Knochen brechen, bis sie nutzlos an ihrem kleinen Körper hängen. Es ist gut, denke ich, es ist gut, und dann höre ich Bernds Stimme
„Ein Elefant?“, fragt er und lacht, und sie kichert und schreit: „Papa!“ Papa, Papa, Papa – ich kann es nicht mehr hören. Bernd setzt sich und bietet mir eine Zigarette an. „Sie malt so gerne“, sagt er und gibt mir Feuer, und ich nicke und setze ein Lächeln auf. „Möchtest du noch ein Glas Wein?“, fragt er, er hat die Karaffe bereits in der Hand, aber ich lehne höflich ab. Wir beide sitzen für eine Weile einfach auf dieser Mauer, rauchen, betrachten Lisa, schweigen. Ihre schlanken Finger gleiten ungelenk über das Papier, auf ihrem Kleid überall kleinste Farbkleckse. „Wie geht es Gitta?“ Es ist eine dumme Frage, eine unnötige, denn er kennt die Antwort bereits. Er kann die Stille nicht ertragen. „Sie ist immer noch im Krankenhaus“, antworte ich. Bernd senkt den Blick. Er ist durchschaubar, kein sehr guter Schauspieler. Natürlich weiß er, dass sie nicht im Krankenhaus liegt. Krankenhaus – das ist nur ein Code, es klingt harmloser als Irrenanstalt. „Das ist schlimm“, sagt er dann und sieht mich ganz direkt an. Ich nicke stumm. Ist es schlimm? Ihr geht es besser so, denke ich, aber eigentlich steht mir kein Urteil zu. Was ist verrückt? Was ist normal? Und wer darf es bestimmen? Ich weiß es nicht, aber es scheint ein altes Spiel zu sein, ein sehr altes.
Lisa malt noch immer. Ihr Kleid ist etwas hochgerutscht, ich starre auf ihre Knie, auf das weiße Fleisch ihrer Schenkel. Bernd zündet sich eine neue Zigarette an, er wirkt entspannt, der Zeitpunkt ist günstig. „Hast du schon darüber nachgedacht?“, frage ich ihn, ganz beiläufig, und er dreht seinen massigen Körper in meine Richtung, die Zigarette zwischen seinen Lippen. Er nickt. „Ja, das habe ich“, antwortet er und die Glut lodert auf, „ich weiß nicht, Hans … sie ist erst zwölf. Versteh' mich nicht falsch, aber …“, seine Stimme bricht, er hebt seine Augenbrauen und zuckt mit den Achseln, „ich denke, sie ist einfach zu jung.“ Zuerst höre ich nur auf das Rauschen in meinen Ohren, gleichmäßig und beruhigend, dann sehe ich in dieses aufgedunsene, frisch rasierte, unbescholtene Gesicht. „Bernd – was soll schon passieren?“ Er seufzt. In meinen Ohren klingt das verächtlich und gönnerhaft. In seinem Blick, da liegt etwas Vorwurfsvolles, etwas zutiefst Vorwurfsvolles. Ich weiß es, ich erkenne es. Er will nicht sagen, was er wirklich denkt, er vertraut darauf, dass ich es selbst erkenne. Ich klopfe ihm auf die Schulter und sage: „Schon gut, ich verstehe das“, aber natürlich verstehe ich es nicht. „Sie ist meine Tochter“, sagt er, und ich gieße mir Wein ein und trinke, trinke um zu vergessen, um Bernd und seine Engstirnigkeit zu vergessen, um den fehlenden Mut zu vergessen, den ihn und all die anderen auszeichnet. Bernd prostet mir zu, er sieht mir meinen Unmut, meinen Hass nicht an. Er übersieht ihn, er will ihn übersehen. So ist es einfacher. Er verschlingt eine Artischocke und schmatzt wie ein Schwein – und dann berichtet er über diesen und jenen Galeristen, über diesen und jenen Künstler, es seien alles Versager. Geschwätz, dass der Senkgrube der Bürgerlichkeit entstammt. Ich höre hin, aber ich höre nicht zu, so ist es meistens.
Sie erkennt mich und rennt los. Sie ist schnell, fast stürzt sie und verliert das Gleichgewicht, aber im letzten Augenblick fängt sie sich wieder. Die anderen Kinder beobachten mich, ich spüre ihre neugierigen Blicke, aber mein Innerstes bleibt kalt, unberührt. Ihnen fehlt etwas, etwas ganz Bestimmtes, etwas, das ich nicht genau erklären kann. Ich wünschte, ich könnte es, es ist mir jedoch selbst ein Rätsel. Vielleicht ist es Dunkelheit, die Lisa begleitet. Dunkelheit hat mich seit jeher angezogen. Ich sehne mich eher nach dem Anblick einer Wasserleiche, aufgedunsen und welk im Mondschein, als nach einer in Blüte stehenden Blume. Ich werde angezogen vom Makaberen, vom Bizarren, von den ekelhaften Dingen; die guten, die plausiblen, die logischen Dinge sind für mich uninteressant wie nur was. An Menschen interessieren mich nur die im Niedergang befindlichen oder diejenigen, die bereits im Schmutz liegen, besser: In den Schmutz gestoßen wurden. Nur sie sind eine wirkliche Beschäftigung wert. Die Verwundeten, Benutzten, Ausgestoßenen, Schmerzensmänner und Schmerzensfrauen, solche, die zum Krüppel gestochen, geschlagen, geschossen wurden, solche, die sich willentlich haben zermürben lassen vom lauten Generator, der sich Leben nennt. Nur sie haben sich die Erinnerung, ihre Meriten verdient. Die nassforschen Könner, die verhinderten Streber und Heuchler, die, die alles legitimieren wollen, um möglichst lange zu überleben, die ewigen Talente, die man immer vor dem Absturz behütet hat, die ungebrochenen Saubermänner, die stets schön bleiben – sie alle sind mir ein Gräuel. Sie lassen mich kalt. Hässlichkeit, Zerfall, Schmerz – süße Melodien in meinen Ohren, denn sie sind unumstößliche Wahrheiten. Und das ist es doch, nach dem wir suchen: Wahrheit. Oder etwa nicht?
Das Schöne, das Reine, das Unschuldige sehe ich immer nur im Zerfall begriffen, immer schon auf der Flucht in das Reich der Dunkelheit. Ich habe schon sehr früh die Schäbigkeit hinter den schönen Dingen entdeckt – immer dann, wenn sie die Grenze zum Lächerlichen überschreiten. An die Schönheit werde ich mich nie gewöhnen. Schönheit, Schönheit ist nur eine Rechnung auf Zeit; viel zu rasch lässt sie nach. Wenn sie dahingeht, bleibt einem nur die Betäubung. So machen sie es, die petit bourgeois: Sie saufen eine Flasche teuren Wein, fressen Pasteten, verschlingen riesige Portionen von Fleisch. Am besten alles auf einmal, bis der Wanst sich bläht. Der Fraß macht müde, und müde werden auch die Sinne, wenn sie es nicht immer schon waren. Und so fallen sie alle in einen traumlosen Schlaf, der wie ein kleiner Tod für sie ist, und das Erwachen fällt schwer, so schwer. Das ist das Immergleiche, der Zirkus des In-der-Welt-Seins.
„Wo gehen wir hin?“, fragt sie und bleibt stehen, dreht sich mit suchendem Blick um, presst die Lippen aufeinander. „Wo ist Papa?“, fragt sie, und ich lächle, ziehe sie in den nächsten Hauseingang und bücke mich, streichle sanft über ihre Pausbacken, sage, dass er bald kommt, der Papa, sehr bald, und dann nehme ich das Taschentuch und presse es auf ihr Gesicht. So ist es, ich habe da kein Gewissen, und sie schreit nicht einmal. Das Äther wirkt rasch, ihre Beine knicken ein, ich halte sie fest, halte sie in meinen Armen. Der betörende Duft, der Menschen umgibt; der Geruch kalter Götter, die keine Gnade kennen. Zwischen ihnen löse ich mich auf, durch ihre Mitte fliehe ich. Es sind stets die immergleichen, rundumfrohen Gesichter, die ihre Geschwüre zur Schau tragen, so erzogen, so mündig, so unverdrossen.
Der Körper – ein Wort, das ich in seine Buchstaben zergliedere, damit sich in einer endlosen Reihe von Anagrammen aufs Neue fügt, was er in Wahrheit enthält. Sie ist nackt. Was für ein Drama es doch ist, dass wir nicht gänzlich bei uns bleiben können! Das können nur die überzeugten Pfaffen, die, die ihre keimende Wollust durch die immense Trägheit ihrer Gebete abtöten. Manchmal muss man sich eben verteilen, und sei es, dass man aus der Mansardenwohnung auf die Köpfe der Passanten wichst. Meine Hände fuhrwerken überall an ihr herum, ich bin von Sinnen. Kann man es damit erklären? Es gab ja nur diesen Körper und diesen Moment und diesen Versuch, etwas von sich mitzuteilen. Und sei es nur dieser kurzer Augenblick, an den man sich dann erinnert, an den man sich klammern kann, dem sie einem nicht mehr nehmen können. Ein wenig den Geruch eines anderen Menschen aufnehmen, kurz davon träumen, ihn zu umarmen und dabei mehr als den eigenen Herzschlag zu spüren.
Die Fäden schneiden ins Fleisch, Haut wirft Falten, Muster zeichnen sich auf Beinen, Brust und Po. Der Faden als Messer, als Zeichenstift, als Modellierspatel. Der Körper bietet das Bild der Uneinheitlichkeit, einer Hässlichkeit, die dem ewig Heilen widerspricht, es verhöhnt. Die Verwirrung, sie vor meinen Augen zu entblättern, sie zu zergliedern, sie kann nicht triumphierender sein. Das Spiel mit der Ungeduld, und wie reizend sich die hundert hellen Knöchelchen ihres Fußes vor dem dunklen Samt ihrer Eingeweide absetzen. Morgen werde ich ihren Kopf mit dem schwarzen Hut schmücken und versuchen, die Haut von den Hüften zärtlich den Rücken entlang emporzuziehen, und zwar bis sie ihr Gesicht, aber nicht ihr Lächeln verschleiert.
Sie ist perfekt, so perfekt wie kein jemals Mensch sein kann. Alabastern, mit den richtigen, mit ihren Proportionen, und – stumm wie eine Leiche. Und sie wird immer stumm bleiben, wird sich meinen Befehlen beugen, sich für mich im Schmutz suhlen wie ein Schwein, wird sich in Gebüschen erdrosseln und in Kellern erstechen lassen. Ich werde sie durch die Dunkelheit schleifen können, werde sie bespucken, auf sie einschlagen, sie wie Vieh ausweiden, und sie wird weder Schmerz noch Angst empfinden. Sie wird mein Begehren sein, und bleibt doch nur eine seelenlose Puppe, die irgendwann der Schimmel befällt, eine Hülle, ein Surrogat, ein Projekt jenes Wahnsinns, der nicht, der niemals ausbrechen darf.
Ich höre Lisa husten und stöhnen, sie erwacht. Ich werde ganz nah bei ihr sein, wenn sie die Augen aufschlägt. Sie wird mich ansehen, verwirrt, sie wird sich an nichts erinnern. Sie wird mich erkennen, vielleicht sogar lächeln. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, was ich sagen werde … die Wahrheit? Die Wahrheit wäre mir am liebsten als Aussparung, als Explosion in einem luftleeren Raum.