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Das Date
Baumlange Männer beeindruckten sie.
Das Handy in der Hand kam er mit großen Schritten auf sie zu und sein Lächeln ließ Erleichterung spüren, dass sie ihn nicht versetzt hatte. Dann begann es verwickelt zu werden und wie bei einer Oper, deren Ouvertüre bereits das Thema in einem Zeitraffer vorwegnimmt, verlief der Abend in Wirbeln zwischen kraus und glatt.
Im Bahnhof war er zu schnell in Richtung Ausgang gegangen und ließ sie ein paar Schritte hinter sich. Abrupt stoppte er, drehte sich um, beugte sich vor und wollte sie zur Begrüßung umarmen.
Sie wich ihm aus. Zwei Tage zuvor hatte er im Chat geflachst, sie sei ein Aidsrisiko, deshalb würde er sie nicht anrühren.
Mit blitzgescheiten Augen, die seine Scheu und Verlegenheit nicht verleugnen konnten, schaute er sie lächelnd an. Es war ein offenes, ehrliches Lächeln.
Sie brauchte keine zwei Sekunden, um zu wissen, dass er ihr gefiel.
Noch auf dem Weg ins Bistro analysierte sie, dass all ihre innige Vertrautheit im Chat nichts gegen ihre jetzige Verlegenheit ausrichten konnte.
Erleichtert spürte sie, dass es ihm ebenso ging. Er versuchte, seine fahrigen Bewegungen zu unterdrücken, schob seine Hände tief in die Manteltaschen als suchte er etwas, zog sie wieder hervor, weil eine Windbö die Rockschöße hochflattern ließ und wischte sich ungelenk die auf die Stirn gewehten Haare fort.
Es war wie bei einem komplizierten Computerspiel. Man hat auf dem Basislevel alle erdenklichen Situationen durchgestanden und schlüpft nun durch die Tür in eine andere Ebene mit unbekannten Herausforderungen, fühlt sich bange und gleichzeitig aufgekratzt.
Im Bistro steuerte er, so wie sie es von ihm aus den Chats gewohnt war, das Gespräch mit seinen Fragen und seinen stetigen Themenwechseln. Wer fragt, der führt, dachte sie. Nach kurzer Zeit türmten sich in ihrem Kopf all die ungesagten Sätze, die sie wegen seiner rasanten Sprünge nicht mehr hatte sagen können.
Wenn sie sich angrinsten, und das taten sie oft an diesem Abend, war nicht nur Freude, sich endlich lebendig gegenüber zu sitzen, dabei. Es war auch das prickelnde Wissen aus den gemeinsamen Chats, die während der nie endenden Coronazeit ihren Fixpunkt darstellten. Und es lag ihre Scheu voreinander darin.
Während sich im Laufe des Abends seine Fahrigkeit mehr und mehr verlor, stieg ihre Nervosität. Sie konnte weder stillsitzen, noch ihr Hände ruhig halten. Und obwohl sie sich bewusst war, dass ihm vielleicht eine solche Vertrautheit in der Öffentlichkeit unangenehm war, gab sie ihrem starken Verlangen nach und reichte ihm ihre Hände. Den ganzen Abend hätte sie so dasitzen können, seine Hände ihre streichelnd. Als er augenzwinkernd bemerkte, dass ihre verschwitzt seien, zog sie sie zurück. Sie schämte sich.
So wie ihr Minuten davor peinlich war, in Tränen ausgebrochen zu sein. Sie fürchtete, er könnte sie für eine hysterische überzogen reagierende Dramatikerin halten. Aber die Flut der Tränen brach vorkehrungslos durch ihre Schutzmauer. Er hatte nur eine einzige, aber entscheidende Frage gestellt. Was sie denn suche und wieso sie unter ihren doch zahlreichen Begegnungen nichts finde. Sie wäre in der Lage gewesen, es ihm zu beantworten. Sie hätte gern über ihre unbändige Sehnsucht gesprochen, und ihre gleichzeitige Panik, damit bis an ihr Lebensende festgelegt zu sein. War es nicht besser, immerzu weiter zu driften? Aber während eines solchen Geständnisses hätte sie keine Kontrolle mehr über ihre Tränen gehabt.
Er wirkte überrascht, peinlich berührt, eine so heftige Reaktion bei ihr ausgelöst zu haben. Er wurde nun vorsichtiger in seinen Fragen, ruhiger. Das übertrug sich auf sie. Es gelang ihr, wieder neben sich zu treten und von außen zu betrachten. War er ihr wirklich mehr als nur sympathisch?
Sie dachte an die verschiedenen Ebenen der Sympathie. Es gibt Männer, die mit ihrem Charme im Chat wie Vulkane Sätze sprühen, aber am Telefon wie erloschen wirken. Steht man voreinander, dauert es nur ein paar Sekunden, um herauszufinden, ob die Chemie, die Wellenlänge stimmt. Aber es dauert manchmal Monate, bis der Verstand danach lebt. Oftmals ist er nicht in der Lage, Kontakt zum Unterbewusstsein mit seinen Informationen aufzunehmen. Dieses für eine Zehntelsekunde aufflackernde: „Lass es, das ist nicht dein Mister Right!“-Warnsignal, das sie so oft einfach unterdrückt hatte, weil ihr Wunsch nach Intimität alles überrollte, meldete sich hier nicht.
Auch wenn sie mit Männern ungeniert in körperlichen Kontakt treten mochte, so gab es, in der Nachschau betrachtet, zwei Gruppen, die sich wesentlich voneinander unterschieden. Die einen, deren Haut sie zu berühren, zu schmecken und zu riechen liebte, und die anderen, bei denen sie es nur tat, bis ihr Bewusstsein ihr dazwischen redete.
Jeder einzelne Mann lehrte sie, immer unvermittelter auf ihre Sinne zu achten.
Während sie ihm gegenüber saß, wuchs ihr Verlangen, neben ihm zu sitzen, ihren Kopf an seiner Schulter, damit er den Arm um sie legte. Ihr war, als hätten sie es immer so gemacht, sich geküsst, sich aneinandergeschmiegt. Wie gerne wäre sie im Bistro aufgestanden, um ihn wenigstens zu umarmen.
Später im Auto war ihr alles vertraut. Die Art, wie er sie berührte, küsste, die war gewiss neu für sie, aber dass er es tat, hatte nichts Fremdes. Erst da wurde ihr bewusst, dass er zu den Männern gehörte, deren Körper sie zu berühren, schmecken und riechen liebte.
Diese Erkenntnis ließ sie noch nervöser werden, denn jetzt lag ihr daran, ihn nicht durch eine unbedachte Aktion, durch dumme Worte zu verschrecken.
Die zweieinhalb Stunden waren so kurz. Als hätte man sie gleich nach der Vorspeise vom Tisch weggeholt, als hätte sie gerade erst angefangen, sich zur Musik zu bewegen, um dann nichts mehr zu hören.
Ihr Verstand lief mit der Stoppuhr neben ihr, gemahnte sie, nicht zu spät nach Hause zu fahren und jetzt nichts zu riskieren, was später alles verbauen könnte.
Ihre Lust verlangte nach Küssen, nach Händen, Atemlosigkeit und Herzklopfen. Verlangte den Stillstand der Zeit.
Als er anfing, mit seinen Händen ihr Gesicht zu bergen und sie sanft zu küssen, dachte sie: „So hat das noch keiner getan. Er küsst dich zärtlich und doch ohne Zurückhaltung, wird fordernder, steigert sich. Ob ich ihn erschrecke, wenn ich mit meiner Hand über seine Wölbung streife?“
Sie gab sich diese Antwort nicht, handelte einfach, die Neugierde versah alles mit ihrer Genehmigung. Ihre Hand berührte mehr, als sie erwartet hatte.
Mit jedem Darüberstreifen wuchs ihr Glücksgefühl.
„Er findet mich erotisch“, jubelte es in ihr, „er hat es nicht nur im Chat daher gesagt.“ Sie wagte, daran zu glauben, dass er nicht den Abend als nette Begegnung unter guten Chatbekannten beenden wollte. Und jetzt im Auto waren seine Küsse und seine Wölbung in der Hose wie eine zweite Unterschrift unter einen Vertrag. Ich mag ihn. Er mag mich.