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Das Bild des Tigers
„Warum bringen wir Paul nicht ins Bett? Wir warten, bis er eingeschlafen ist und machen uns eine Flasche Wein auf. Unten am See. Auf der Halbinsel, wo uns niemand sehen kann.“ Während ich die Worte an Mark richte, beobachte ich Paul; den Fünfjährigen, dessen dicke Beine in Gummistiefeln stecken und der mit einem Stock auf den See einschlägt. Mark steht auf, umrundet das Picknickensemble, das man uns Hüttenbewohnern vor die Tür getischlert hat, setzt sich hinter mich, schlingt die Arme um meine Taille und ich spüre seine Wärme in meinen Rücken kriechen. Da sitzen wir zwei, wie auf einem Motorrad. Er küsst mich, den Nacken, die Schultern, gräbt seine Hände unter meinen Pullover und ich schließe die Augen, höre, wie Paul das Wasser aufpeitscht; spüre Marks wachsende Erregung.
„Ich will es doch auch“, flüstert er und klammert, drückt mich so fest, dass es fast weh tut. „Aber du weißt, dass ich den Jungen nicht allein lasse.“
Vor einem halben Jahr, als Paul das erste Mal bei uns über Nacht blieb, träumte Mark, sein Sohn würde am Morgen als erwachsener Mann aufstehen. Kindheit, Jugend, alles hatte er verschlafen. Den Rest der Nacht hat Mark vor Pauls Bett verbracht und darüber gewacht, dass der Junge nicht wuchs.
Ich höre Pauls Gummistiefel auf uns zuschmatzen. Höre, wie der Schmadder in seiner Nase blubbert. Mark rutscht fort von mir, zieht den Jungen auf seinen Schoß und sucht ein Taschentuch. Väterliche Hände wärmen Kinderbeine und Arme. Pauls Augen fallen zu und werden wieder aufgerissen, um uns zu demonstrieren, wie wach sie doch sind. Mir wird kühl. Mark steht auf, er will den Jungen ins Bett bringen. Ich suche im Gepäck nach meinem Springseil, nehme mir 600 Durchschläge vor.
143 - 44 - 45 Die beiden sind im Waschhaus. Paul wird sich die Zähne putzen und Mark das Geschirr spülen. Zum Abendessen gab es Nudeln und Tomatensoße.
„Das schmeckt nicht“, hat Paul gesagt und den Teller von sich geschoben.
„Aber du hast dir doch Nudeln gewünscht.“
„Nicht die von Ronja. Ronjas Essen schmeckt nicht.“
Wenn das Kind meinen Namen ausspricht, könnt ich kotzen. Nicht genug, dass ich den Namen nicht mag, meine Mutter benannte mich tatsächlich nach der Räubertochter. Paul zieht das "O" so stark: Roohnja. Am liebsten würde ich einen Korken in seinen Mund stopfen, wenn seine Lippen das "O" formen.
467 - 68 Die beiden kommen zurück. Mark mit der orangefarbenen Plastikschüssel, darin unser Geschirr, Paul mit Gummistiefeln und im Schlafanzug.
„Gute Nacht, Paul“, keuche ich, als die beiden an mir vorbeimarschieren.
„Nacht, Roohnja“, antwortet er, ohne mich anzuschauen.
499 - 500 Der Urlaub hier war eine Scheißidee!
„Paul und du. Das ist doch eine gute Gelegenheit, dass ihr euch näher kommt. Der Junge gewöhnt sich schon an dich.“
Eine Scheißidee war es. Und ich wusste es. Ich wollte nicht mit in dieses verdammte Schweden, das aus Felsen, Seen und Bäumen besteht. In das man ab und an ein braunes oder gelbes Haus gesetzt hat, um Zivilisation vorzutäuschen.
578 - 79 Mark liest Paul die Trollgeschichte vor. Wir haben das Buch in einem Souvenirladen gekauft. Das heißt, ich. Ich habe es gekauft.
„Papa soll es lesen“, war Pauls Kommentar, als ich ihm daraus vorlas. Ich stell mir vor, wie Pauls Kopf auf Marks Schoß liegt, wie eine Hand den Kopf des Jungen streichelt, während die andere die Seiten umschlägt. So nah bei Mark würde ich auch gern einschlafen, seine Hände spüren. Aber ich schlafe über Mark. In jeder Campinghütte Doppelstockbetten, so schmal, dass man schon allein darin Platzangst bekommt. Ich immer oben, die Männer unten, falls der Kleine mal schlecht träumt. Wenn ich im Bett liege, schaue ich auf ein Bild, das einen durchs Gras schleichenden Tiger zeigt. Kurz vor dem Sprung. Jemand hat es neben der Tür aufgehängt und ich frage mich jedes Mal: Wieso einen Tiger und nicht irgendwas Schwedisches. Ein Schaf oder so.
Durchgeschwitzt lasse ich mich auf die Bank fallen, strecke die Beine aus und schaue auf die Berge, die sich auf der anderen Seite des Sees erheben. Oben drauf die Hochebene. Ein markierter Fleck auf unserer Schwedenkarte.
„Da will ich mit dir und Paul wandern“, hat Mark gesagt und ein Kreuz eingezeichnet. „Wir übernachten in den Wanderhütten, halten Würste ins Feuer und trinken Flusswasser. Ein richtiges Abenteuer. Wenn Paul schläft und wir allein sind, dann -“ Weiter sprach Mark nicht. Er zog mich an sich, streichelte mich aus unserem Wohnzimmer über die Baumgrenze, in eine Landschaft aus Moosen und Flechten im Schein eines Feuers. Fluss und Wind im Rauschduell. Ich denke hier oft an diese Nacht.
Die Berge gegenüber beginnen zu dampfen, als würden sie in kalte Wintertage atmen. Meine Augen hängen an den Wolken, die das Felsmassiv mit trübem Weiß bedecken.
Einmal waren wir dort. Mit Schlafsäcken, Isomatten, Alugeschirr. Als wir den Aufstieg vom Parkplatz hinter uns hatten, ningelte Paul, ihm täten die Beine weh. Kein Rücken frei für den Jungen, der zeterte und bockte. Mark gab alle Überredung auf, als Paul sein Frühstück auf meine Schuhe kotzte. Wir fuhren zurück zum Zeltplatz und bezogen wieder unsere Doppelstockbett-Hütte.
Mark kommt heraus. Ich ziehe meine Beine von der Bank, mache ihm Platz, aber er setzt sich nicht.
„Ich glaub, ich brüte was aus. Besser, ich leg mich hin“, sagt er und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
Während er sich drin auszieht, greife ich nach Handtuch und Duschmünzen. Eine Münze nach der anderen fällt in den Schlitz des Automaten, der mir fünf Minuten heißes Wasser dafür freigibt. Krebsrot trockne ich meinen Körper, streichle Creme über meine Haut und verlasse die feuchtwarme Höhle.
Alle vier Wochen bringt Pauls Mutter am Freitag den Jungen und holt ihn am Sonntag wieder ab. Es sind Paul-Wochenenden, an denen ich mich überflüssig fühle.
Gestern war Sonntag. Wir saßen auf der Veranda, haben 'Mensch ärgere dich nicht' gespielt und dem Regen zugeschaut. Ich habe mich nach dem grünen Cabrio gesehnt, das vor unserer Hütte hält und später mit Paul wegfährt.
Mein Handtuch hänge ich über die Schnur, die uns als Wäscheleine dient. Überlege, ob ich Wein oder Bier trinke. Vom Kühlschrank aus sehe ich das Tigerbild. Komm doch! Spring!, denke ich. Marks Atem rasselt und fast wünschte ich dem Tiger, es wäre ihm möglich, das Bild zu verlassen, um die Beute zu reißen, die er vor Augen hat. Ich spüre, wie sich meine Muskeln und Sehnen anspannen, wie der Puls hochjagt. Mein Kopf ist leer. Nur diese Anspannung. Sie löst sich, als ich Schlafsack, Wein und Kekse in den Rucksack stopfe, die Isomatte festzerre, das Auto starte und das Camp verlasse.
Der Fußweg nach oben erscheint mir länger und steiler als an jenem Tag mit Mark und Paul. Das Gewicht des Rucksacks drückt auf die Knie. Kleine Schritte! Ruhig, mahne ich mich. Zwischen den Felssteinen ist überall Schlamm, auf dem die Schuhe nicht greifen wollen, wegrutschen und mein Gleichgewicht beunruhigen. Die Adern auf meinen Handrücken sind prall mit Blut gefüllt. Ich sehe sie platzen, dunkles Rot tropft über meine Finger zu Boden, bis ich leer bin. Meine Hülle liegt zusammengesackt am Wegesrand. Ameisen tragen mich in Kleinstteilen davon.
An der Baumgrenze wird mir wohler. Der Anstieg ist nicht mehr so steil, die Sicht weiter. Unter mir im Tal sammeln sich Wolken, decken die Schlafenden zu. Hier oben riecht es nach Frühling. Verrückt, denke ich, es ist Ende Juli und es riecht nach Frühling. Schritt für Schritt gibt der Berg nach, bis sich die Ebene vor mir öffnet. Horizont in allen Himmelsrichtungen. Dazwischen Grün, Rot, Gelb, Silber. Ich kann die Schutzhütte sehen, den Rauch, der von dort aufsteigt.
Am Feuer sitzt Peer. Er hilft mir, die Weinflasche zu öffnen. Ein Däne mit halblangem Haar und wettergegerbtem Gesicht. Mein Englisch bröckelt in Wortfetzen, die er geduldig zusammenfügt. Wir teilen seine Tütensuppe und meinen Wein. Seit drei Tagen ist er unterwegs. Stolz erzählt er von den Schwarzbären, die er beobachtet hat.
„Bären? Hier gibt es Bären?“ Ich will das nicht glauben.
„Sicher.“ Aus seinem Munde klingt es so normal, als würden wir über Mäuse reden.
„Hast du keine Angst?“
„Mach Lärm, wenn du das Gefühl hast, sie kommen dir zu nahe. Aber man braucht schon viel Glück, sie überhaupt zu sehen. Sie meiden die Menschen.“
„Aha“, nicke ich und bin bereit, auf das Bärenglück zu verzichten.
Wir sitzen am Feuer, meistens still. Ich schaue mich ständig um. Peer ist die Ruhe selbst. Legt Holz nach, trinkt Wein, dreht sich Zigaretten. Irgendwann steht er auf. „Mach das Feuer aus, wenn du schlafen gehst“, sagt er.
Ich hab noch Wein in der Flasche und bin überhaupt nicht müde. Von mir aus hätten wir die ganze Nacht hier sitzen können, so nebeneinander, schweigend, darauf wartend, dass der Morgen kommt. Aber Peer ist drin. Ich lausche seinen Schritten auf den Dielen, höre den Schlafsack rascheln. Mit einem Stock stochere ich die Glut auseinander, kippe den restlichen Wein in das blinzelnde Holz. Wie kommt es eigentlich hier her, das Holz?, frage ich mich.
In der Hütte ist es düster und ein leicht muffiger Geruch füllt den Raum, der größer ist als das Familien-Quartier im Tal. Ich stoße mit dem Fuß gegen den Ofen, der in der Mitte steht. „Scheiße“, fluche ich und beiße mir vor Schmerz auf die Lippen. Peers Taschenlampe leuchtet auf, ich halte mir die Zehen und schwanke auf einem Bein. Von Peer erkenne ich nur Umrisse. In Gedanken füge ich seinem Schatten den Drei-Tage-Bart hinzu. Die kurzen Fingernägel mit den weißen Halbmonden, die widerspenstige Strähne, die ihm ins Gesicht fällt und die er wiederholt geduldig hinters Ohr streicht.
Ich wähle nicht den zweiten Schlafplatz. Ich gehe zu Peer. Zwei mal zwei Meter, genügend Platz für uns beide. Schweigend rückt er zur Seite. Mein Herz hämmert und mir ist, als könne er es hören. Alles so still, bis auf mein Herz. Nicht einmal der Wind legt ein Rauschen darüber. Das Geräusch meines Reißverschlusses vom Schlafsack hat etwas Beruhigendes. Vertrautes. Hier, neben Peer, riecht es nach Mango. Wieder ein Streich meines Hirns, aber ich rieche Mango von seiner Seite, während ich nach Räucherware stinke. Ich will mehr von seinem Duft und rücke näher. Mein Atem spielt in seinen Haaren. Ich küsse ihn, einfach so, meine Lippen an seinem Hals. Dann seine Hände an meinem Kopf. Sie schieben mich fort, ein Stück nur. Ich höre seine Stimme von irgendwoher: „Bist du dir sicher?“
„Ja“, sage ich. Natürlich bin ich mir nicht sicher, aber es fühlt sich gut an. Ich befreie mich aus meinem Schlafkokon, ziehe das Shirt aus, die Unterwäsche. Peer wühlt in seinem Rucksack und holt ein Kondom heraus. Er hat ein Kondom dabei. Er schleppt Gummis durch die Pampa … Wie oft sind ihm schon solche Momente begegnet? Laufen die Mädels in Schweden scharenweise fort und treffen auf einen Peer? Weiter komme ich nicht mit meinen Gedanken. Seine Hand ist zwischen meinen Beinen. Keine Ouvertüre, kein Antasten. Er berührt mich und ich bin nur noch Geschlecht. Mein Becken stemmt sich ihm fordernd entgegen. Sein Daumen, seine Finger, sein Penis in mir. Ich spüre die Kraft seiner Arme, die mich stützen, drehen, ziehen, tragen. Wir rammeln durch die Hütte, keuchend, schwitzend, stöhnend. Ich verspüre Lust ihm wehzutun. Berausche mich an der Vorstellung und jage ihm meine Zähne in den Oberarm. Peer zieht mich an den Haaren fort. Der Schmerz holt mich zurück und ich schäme mich. Es war gemein. Ich habe es kaputt gemacht. Es macht mich rasend, ihn nicht mehr zu spüren. Seine Hand bleibt in meinem Haar, hält meinen Kopf auf Abstand, als er eindringt und kommt. Er reißt mich mit und ich schreie, bis nichts mehr da ist, was nach draußen drängt.
Am nächsten Morgen wache ich allein auf. Peer ist fort. Kein Rucksack, keine Sachen, kein Kondom. Kein Eintrag ins Hüttenbuch. Kein Mangogeruch. Ich suche nach den Keksen und setze mich zu der Asche, die das Feuer gelassen hat. Ich sehe den Holzstapel an der Wand, eine Axt, eine Säge. Jemand muss es hier hergebracht haben. Der Gedanke rührt mich und ich streiche über den Stapel und flüstere ein „Danke“.
Als ich das Auto auf dem Campingplatz parke, sitzt Paul auf der kleinen Veranda und spielt Karten.
„Papa! Roohnja ist da“, ruft er ins Innere der Hütte.
„Hey Paul“, grüße ich ihn, als ich vorbeigehe.
Mark liegt im Bett. Ich erkenne das Fieber in seinen Augen, sehe das Zittern der Lippen. Kein Vorwurf, keine Erleichterung in dem blassen Gesicht. Er tut mir leid.
„Willst du, dass wir nach Hause fahren?“, frage ich.
„Nein. Warten wir ab.“
Ich nicke. „Soll ich mit Paul runter zum See gehen, damit du schlafen kannst?“
Mark dreht sich zur Wand. „Wenn es dir nichts ausmacht“, flüstert er so leise, dass ich Schwierigkeiten habe, seine Worte einzufangen.
Paul und ich sitzen im Ruderboot. Unsere Füße planschen im Wasser. Ich lese ihm die Trollgeschichte vor, Paul hört mir zu. Erst gegen Ende unterbricht er mich. „Wo warst du?“, fragt er.
Ich zeige auf die Berge. „Da oben.“
Paul nickt, als verstünde er. „Gehst du wieder hin?“
„Nein“, sage ich. „Nicht allein.“ Ich schaue sie mir an, die Berge. Sie wirken heute höher, als wären sie gewachsen.
„Hat es dir dort gefallen?“
Ich nicke. „Ja, Paul. Das hat es.“