Das Bad
Wilhelmine begab sich regelmäßig an jenen seltsamen Ort, der in einer sehr schmalen dunklen Seitengasse lag und kaum zu finden war. Die Fassade des Gebäudes in dem jener geheimnisumwitterte Ort, ein türkisches Bad, verborgen lag war bereits im Zustande des Verfalls. Die überbordende Stukkatur bröckelte langsam vor sich hin, war an manchen Stellen bereits vollkommen herabgefallen. Auch der Anstrich war durch den Zahn der Zeit, sowie wegen der verschmutzten Luft, ergraut und gab an manchen Stellen die Ziegel frei.
Auch in dieser Nacht verlangte es Wilhelmine neuerlich danach, jenen Ort aufzusuchen, an dem nur erlesene Gäste willkommen waren, nicht etwa weil diese vermögend gewesen wären, sondern sich durch ausgesprochen diskretes und höfliches Benehmen auszeichneten. So bog Wilhelmine in jene schmale Gasse ein und betrat das Haus dessen Haupttor immer offen stand. Ihre Absätze klopften auf den aus sechseckig geklopften Steinen bestehenden Boden des nur schwach beleuchteten Korridors. Zielstrebig und schnellen Schrittes begab sie sich zur Tür gegenüber des Haupttores, die in einen kleinen Hof führte. Am anderen Ende des Hofes links an der Ecke des Hauses befand sich ganz unscheinbar und zum Teil verdeckt durch den dicken Stamm einer Kastanie der Eingang zu jenem geheimnisvollen Bade.
Wilhelmine preßte die Türklinke fest nach unten und trat in den Vorraum. Die Luft war erhitzt und feucht. Es roch ein wenig nach Chlor. Sie gab dem untersetzten schwarzhaarigen Mann im weißen Baumwollanzug am Empfang zwei kleine Scheine und nahm einen dicken Bademantel, zwei Handtücher und den Schlüssel, der auf einem Anhänger mit der Zahl 12 baumelte, in Empfang. Der nur weiß gekachelte Vorraum mündete in einen großen Raum, der von diesem nur durch einen Bogendurchgang über dem "Umkleidekabinen" stand, getrennt war. Wilhelmine betrat die ihr zugewiesene Kabine, deren Wände mit ägyptischen Fabelgestalten in den buntesten Farben bemalt waren. Sie entledigte sich ihrer Kleidung, ließ all ihre Sachen auf den Boden fallen und wickelte sich in den wohlig weichen Bademantel. Das Bad befand sich ein Stockwerk oberhalb und man mußte über eine Wendeltreppe steigen, um dorthin zu gelangen.
Der gesamte Badesaal war mit kleinen weißen und blauen Fliesen verkleidet, die ein Mosaik aus ineinander verschlungenen Pflanzen ergaben. Das Dampfbecken war ebenfalls mit Mosaiken verkleidet, die römische Gottheiten beim Baden darstellten. In der Ecke des Badesaals saßen zwei üppig beleibte nur mit einem Bauwolltuch bekleidete Frauen und spielten Harfe. Wilhelmine entkleidete sich, legte Bademantel und Handtuch auf den Beckenrand und stieg in das mit warmen Wasser gefüllte Becken.
An jenem Ort traf man sich, um Gespräche zu führen und um einander nachher beizuwohnen, wenn sich einigermaßen gegenseitige Sympathie einstellte. Wilhelmine suchte jenes Bad auf, da sie nach einer sehr unglücklich verlaufenen Ehe die Befriedigung ihrer fleischlichen Lust suchte, ohne eine Bindung eingehen zu müssen und auch ohne ständig gesellschaftliche Ächtung fürchten zu müssen. An jenem Ort konnte sie diese Bedürfnisse in den meisten Fällen erfüllen. Es war auch ein Ort, an dem man Themen ansprechen durfte, die außerhalb jener Mauern niemals besprochen werden konnten. Frauen kamen zahlreich, weil es in der Stadt keine andere Möglichkeit für sie gab, diese Art der Lusterfüllung zu erfahren. Hier waren alle gleich, Männer und Frauen, auch verschwanden die gesellschaftlichen Grenzen, die in der Welt außerhalb galten.
Wilhelmine ließ sich vom warmen Wasser sanft umspülen. Vom anderen Ende des Beckens lachte ihr eine männliche Gestalt zwischen den Köpfen der herumstehenden Badegästen entgegen. Wilhelmine näherte sich zaghaft. Ein blonder Haarkranz umrandete seinen Hinterkopf, er war von sehniger etwas muskulöser Gestalt. Große blaue Augen leuchteten aus seinem sonst eher grob geformten Gesicht. Oberhalb seiner fein gezeichneten Lippen saß ein Schnurrbart mit nach oben gezwirbelten Enden. Wilhelmine lächelte ihn an. Sie gingen aufeinander zu, begrüßten sich und verließen das Becken. Sie zogen ihre Bademäntel an und nahmen die Handtücher. Wilhelmine fand ihn freundlich und angenehm. Sie fuhr sich während des Gespräches durch ihre langen dunkelbraunen Haare, formte ihre runden Lippen immer wieder zu einem Lächeln, nickte dann und wann und schlug die Lider ihrer dunkelbraunen Mandelaugen nieder. Seine Stimme war freundlich, nicht sehr tief und ließ auf ein gutmütiges freundliches Wesen schließen. Er erzählte, daß er manchmal hierher komme, einfach der Abwechslung wegen, daß seine Frau sich nicht mehr viel aus ihm mache und daß er eine kleine Brauerei in einer Vorstadt besitze. Wilhelmine berichtete von ihrer mißglückten Ehe, von ihrem Alltag als leitende Sekretärin, ihrem Leben als alleinstehende Frau und gab zu erkennen, daß sie eigentlich das Gespräch nicht fortsetzen wolle, sondern vielmehr etwas anderes im Sinne habe.
Sie gingen in einen großen Saal, der an das Bad anschloß. Dieser war nur von ein paar gedämpften Lampen in ein dunkeloranges Licht getaucht, das die römische Jagdszenen darstellende Wandbemalung nur sehr undeutlich erkennen ließ. An den Wänden standen gepolsterte Bänke, auf denen Badegäste sich halb im Liegen ungezwungen unterhielten, sich umarmten, sich neckten und Zärtlichkeiten tauschten.
Am anderen Ende des Saales befand sich in der Ecke neben eines mit Goldstuck umrandeten Rundbogens eine Theke, auf der sich frische Laken türmten. Dahinter stand ein schmal und groß gewachsener junger Mann, der Wilhelmine erwartungsvoll anblickte. "Zwei?" fragte er knapp. Wilhelmine nickte. "Was dazu?" "Pfirsichöl" meinte Wilhelmines Begleiter, der ihre Hand in der seinen hielt. Wilhelmine nahm die Laken und das Fläschchen Pfirsichöl und sie gingen, sich gegenseitig ein wenig verschämte Blicke zuwerfend, durch den Rundbogen in den dunklen Raum. Es war ein sehr weitläufiger Raum dessen Holzboden sachte unter den Füßen kanrrte. An den Wänden standen in regelmäßigen Abständen aufgereihte Kautschukmatratzen, neben welchen man kleine Lampen mit Pergamentschirmen gestellt hatte. "Hier in der Ecke" flüsterte Wilhemine und nahm ihrem Begleiter das Laken aus der Hand. Sie breitete die beiden Laken sorgfältig über die Matratze und knipste die kleine Lampe an. Sie legte sich auf die Matratze, zog ihn zu sich hinunter und umarmte ihn. Wilhelmine befühlte seinen weichen Körper, welcher an manchen Stellen von flaumig dünner Behaarung bedeckt war. Wilhelmine empfand die Berührungen, die sie ihm zukommen ließ als sehr angenehm und wohlig. Mit heftigen Bewegung ihrer Hände streichte sie seinen Oberkörper entlang. Er beugte sich über ihren Kopf, strich ihr mit seinen knochigen Fingern durch das Haar. Er näherte seine Lippen den ihren, Wilhelmine wandte sich ab. Ein Wust an faulig und nach Schnaps riechendem Atem kam ihr entgegen. Sie drückte ihre andere Hand ganz sanft gegen seine Schulter, sodaß er sich aufsetzte. Wilhelmine öffnete das Fläschchen und ließ das Pfirsichöl auf ihre hohle Handfläche träufeln. Sie verteilte dann das Öl in sanft kreisenden Bewegungen über seinen Körper. Er schloß die Augen, legte seinen Kopf ganz langsam nach hinten und knurrte voll wohligem Genuß. Sie zog ihn wieder zu sich hinunter, umfaßte seinen Oberkörper immer fester, krallte sich in die vom Öl rutschige Haut seines Rückens, umschloß den Oberkörper dann mit aller Kraft mit ihren Armen und drehte ihren Kopf zur Seite. Er bäumte sich auf, bis sie von ihm abließ. Schließlich richtete er sich auf und setzte sich auf den Rand der Matratze und meinte, daß er bereits zu müde sei und entschuldigte sich. Wilhelmine flüsterte nur ein lapidares "macht nichts" und ging zurück zum Badesaal. Sie ließ ihre Blicke noch einmal über das Becken und die Badegäste streifen und schüttelte den Kopf. "Eigentlich vertane Zeit" dachte sie und ging in ihre Unkleidekabine.
Als sie das Bad verlassen hatte, dachte sie, daß sie eigentlich etwas anderes hätte tun sollen. Sie war der Ansicht, sich wieder einmal um Zeit betrogen zu haben, doch trieb sie ein übermächtiger Zwang immer wieder in jenes Bad. Wilhelmine seufzte und schritt die schmale Gasse entlang, bis sie auf die Hauptstraße traf, wo sie ein Taxi aufhielt.
[ 27.06.2002, 21:10: Beitrag editiert von: Echnaton ]