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- 01.09.2005
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Das Auge fürs Detail
Hermann wollte Lokführer werden. Oder Schaffner. Er liebte die Bahn, alles rund um die Eisenbahn, fuhr als Kind mit dem Fahrrad zu einer Brücke und sah dem Zug zu, der darunter her fuhr. Dann wartete er, bis der nächste kam. Wenn er zu lange wartete, bekam er vom Vater Ärger, weil er solange fort gewesen war. Trotzdem tat er es immer wieder, selbst wenn es was mit dem Rohrstock gab.
Einmal hatte er sich eine Zugfahrt zu Weihnachten gewünscht, aber es gab nur eine schlecht geschnitzte Holzlok. Als es Zeit war für die Lehre, wurde er Schlosser. Davon konnte man leben. Mehr hatte der Vater dazu nicht zu sagen. Dieses Luftschloss, bei der Eisenbahn zu arbeiten. Diesmal hieß es: Du bist zu alt für so einen Kinderkram. Mach was Handfestes. Verziehen hatte Hermann seinem Vater das erst, als die Erde aus seiner Hand auf den Deckel des Sarges prasselte. Und selbst da noch nicht so richtig.
Dabei hatte sein Vater Recht gehabt. Hermann wurde kein Millionär, doch es reichte für ein Haus auf Kredit und ohne Kinder auch für ein Hobby. Den ersten Zug bekam er von Anneliese zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt. Sie hatte eigentlich gedacht, er würde ihn sich irgendwo im Haus aufstellen, im Wohnzimmer vermutlich, und das wäre es dann. Stattdessen hatte sie den Grundstein gelegt für seine Leidenschaft, seinen Ersatztraum, sein kleines elektrisch betriebenes Paradies. Nach Feierabend und an den Wochenenden wurde er darin wiedergeboren. Expandierte. Ein Universum der Schienen.
Vom Frühschoppen kannte er Uwe Machule von der Sparkasse. Die dreitägige Modellbahnausstellung in deren Foyer war bald ein fester Eintrag im Kalenderjahr der Stadt, in der Bedeutung auf Augenhöhe mit dem Weihnachtsmarkt, der aus vier Buden bestand und ein verlängertes Wochenende dauerte. Dem Erdbeerfest. Schützenfest. Das große Grünkohlessen der CDU im alten Rathaus. Das große Grünkohlessen der SPD.
Ein Mittwoch, ein Donnerstag und ein Freitag im September gehörten Hermann. Lehrer schleiften Schüler in die Sparkasse. Pflichtprogramm. Jedes Jahr baute Hermann ein anderes Ereignis der lokalen Geschichte mit ein. Der Brand auf der Müllkippe am Kanal. Das Hochwasser in den Westwiesen 1988.
Den Jüngsten konnte man damit eine Freude machen. Alle über zwölf sahen nur auf ihre Telefone, bis der Lehrer schimpfte. Sie warteten das Donnerwetter ab. Dann sahen sie wieder auf die Telefone.
Darum knipste der Journalist von der Lokalzeitung sein Foto immer, wenn die Grundschulklassen da waren. Einmal war das Bild sogar auf der Titelseite gewesen. Zwei Jungen sahen mit staunend offen stehenden Mündern dabei zu, wie ein Kran Container von Waggons hob und sie auf Lastwagen lud. Wegen dieser Ehrfurcht vor seiner Arbeit waren Hermann die jüngeren Kinder viel lieber.
Der neue Nachbar hatte bei der Gartenarbeit einen Blick durch das Kellerfenster erhascht. Hermann bemalte gerade mit der Spitze einer Stricknadel die Schöller-Eiskarte aus dem Bahnhofskiosk.
„Sie legen Wert auf die kleinen Besonderheiten, was?“
Hermann erschrak und rutschte mit der Nadel aus. Jetzt sah es so aus, als wäre dem Kiosk das Eis ausgegangen. Als hätte der Besitzer einfach einen langen schwarzen Strich über die Karte gezogen.
„Oh Gott, Entschuldigung“, sagte der Störenfried. „Schöner Einstand für einen neuen Nachbarn.“
Hermann warf die Eiskarte und mit ihr vier Stunden Arbeit in den Mülleimer zwischen seinen Beinen. Eigentlich hätte der Eimer nur tropfende Farbe auffangen sollen.
„Ach was, ist kein Problem“, sagte Hermann, innerlich kochend. Er sah hoch zum Kellerfenster.
„Doch, das ist es“, sagte der Nachbar. „Ich hätte Sie nicht erschrecken dürfen.“ Er ließ den Blick über Hermanns Werk schweifen.
„Es ist nur, als ich hier draußen gehört habe, wie Ihre Bahnen über die Schienen brausen, das ist Musik für mich. Das musste ich mir einfach ansehen. Und es hat sich gelohnt. Da haben Sie ordentlich was aufgebaut."
Das Interesse und die Bewunderung des Fremden klangen ehrlich. Hermann konnte nicht anders, als sich geschmeichelt zu fühlen. Vielleicht wurde er aber auch gerade veräppelt.
„Sie interessieren sich für Modellbahnen?“
Misstrauen lag in seiner Stimme. Die Augen des Fremden weiteten sich kurz. Irgendwo auf der Straße stürzte jemand mit dem Fahrrad. Kindergeschrei.
„Das kann man so sagen, denke ich.“ Er hielt seine Gartenkralle hoch. „Also, um ehrlich zu sein, ich mache alles andere nur, um mal zehn Minuten von den Zügen loszukommen. Hat meine Frau mir beigebracht. Sie hat immer gesagt, ich muss sonst irgendwann meine Gleise in der Klapsmühle aufbauen, während die Pfleger mir Beruhigungsmittel spritzen.“
Hermann schmunzelte. Er traf Gleichgesinnte bei Messen und Wettbewerben, aber hier in der Stadt war er das einzige Gemeindemitglied der Kirche von H0. So weit er wusste jedenfalls. Die ruinierte Eiskarte war fast vergessen. Fast.
„Das könnte von meiner sein“, sagte er. „Wann sind Sie denn eingezogen?“ Als hätte er die Möbelpacker nicht durchs Küchenfenster beobachtet, bis es ihm zu langweilig geworden war. „Ich habe Ihre Frau noch gar nicht gesehen.“
„Meine Frau ist tot.“
Hermann schwieg. Nicht wegen der Frau. Er hatte ein Alter erreicht, in dem manche Leute nun mal auf den Friedhof mussten, wenn sie bei ihren Partnern sein wollten. Gang der Dinge. Was ihn ein bisschen erschreckte, war die Genugtuung, die er fühlte. Der Fremde hatte ihm die Eiskarte versaut. Dafür war seine Frau tot.
Hermann gab einem Schluckreflex nach. „Das tut mir leid.“
„Ach was“, sagte der Nachbar. „Ist drei Jahre her und ich war froh, als es vorbei war. Blasenkrebs. War für sie auch besser. Nur noch Schmerzen.“
Er räusperte sich.
„So, jetzt reicht's aber. Ich hab Ihnen den Tag schon genug versaut. Krebsgeschichten kennen Sie sicher eigene.“
Hermann lachte. Der Nachbar überlegte kurz. Dabei inspizierte er seine Gartenkralle.
„Warum kommen Sie nicht rüber auf einen Kaffee und sehen sich meine Bahn mal an?“, fragte er. „Ich bin noch nicht ganz fertig mit Aufbauen, aber das ist man ja nie, das wird ja bei Ihnen nicht anders sein.“
Widerwillig akzeptierte Hermann die Einladung. Er war viel zu neugierig, um abzulehnen. Der Nachbar stellte sich als Udo vor.
Hermann betrat Udos Heim im festen Willen, sich nicht beeindrucken zu lassen. Vergebens. Udos Bahnen fuhren durchs ganze Haus. Nicht auf dem Boden, wo man darüber hätte stolpern können. Sie schossen an den Wänden entlang, als wären es Berge. Gleich neben dem Lichtschalter hatte Udo einen kleinen Trafo installiert, der den ersten Zug – eine italienische Schmalspurlokomotive Ferrovie dello Stato der Bauart D1' – in Gang setzte.
Hermann war mehr als beeindruckt. Er fürchtete das Meisterwerk, das sich hinter dieser genialen Eröffnung verbarg. Die Ferrovie fuhr durch den Hausflur und verschwand in dem Raum, der die Küche gewesen war, als Hermann das Haus vor fünfzehn Jahren zuletzt betreten hatte. Mit den vorangegangenen Nachbarn konnte er nicht so gut. Furchtbare Kinder.
„Den echten Modellbau habe ich natürlich auch nur im Keller“, sagte Udo. Es klang wie eine Entschuldigung. „Die Schienen durchs Haus werden wohl blank bleiben, keine Berge, keine Bäume, da werde ich ncihts drum herum bauen. Ich will mich ja noch bewegen können.“
Sein Lächeln gefror. Das Gesicht sah jetzt aus wie seine eigene Maske, fand Hermann.
„Vor fünf Jahren wäre es gar nicht gegangen“, sagte Udo. Es war mehr ein Seufzer als ein Satz. „Meine Frau hätte sie von den Wänden gerissen und mich gefragt, ob ich sie noch alle habe. Als ich die Halterungen angeschraubt habe, hat sie mir wahrscheinlich von oben runter einen Vogel gezeigt.“
Seine Augen wurden feucht. Hermann wollte die wunderschöne Lok wiedersehen, aber er hörte sie nicht mal mehr.
„Dann gehen wir doch ans Eingemachte“, schlug er vor.
Udo wischte sich mit Daumen und Zeigefinger durch die Augen. „Ja, sicher. Kommen Sie.“
Der Raum, in den der Gastgeber Hermann führte, bot nicht viel mehr Platz als sein eigener, aber die Schienenwelt darin ließ seinen Unterkiefer runterklappen. Er musste aussehen wie die Jungen auf dem Titelfoto damals.
Udos Grundplatten waren etwas kleiner als die Hermanns. So hatte er es geschafft, vier Welten zu erschaffen. Eine davon war inspiriert vom Wilden Westen. Entlang der Schienen grasten Büffel. Cowboys und Indianer schossen wahlweise aufeinander oder rauchten am Lagerfeuer die Friedenspfeife. In „Udo's Rock“ beförderte gerade der Gastwirt einen Trunkenbold mit einem Tritt in den Hintern aus dem Saloon, während zwei Revolverhelden sich duellierten unter der gleißenden Mittagssonne, einer nackten 42-Watt-Energiesparlampe.
Irgendwo entlang der Strecke galoppierten maskierte Banditen dem Zug hinterher. Udo drückte auf einen kleinen blauen Knopf und der Stourbridge Lion stieß Wasserdampf aus.
„Als Junge habe ich Western geliebt“, erklärte er. „Was sag ich, als Junge. Ich sehe den Kram bis heute gern. James Stewart. Winchester '73.“
„Ich interessiere mich nicht für Filme.“ Hermann war selbst überrascht, wie scharf das klang.
„Ja“, sagte Udo. „Ist nicht jedermanns Sache. Aber abgesehen davon, wie finden Sie's?“
Es war atemberaubend.
„Ist nicht schlecht.“
Udo zog ein enttäuschtes Gesicht. Hermann spürte Genugtuung.
„Ich merke schon, mit Cowboys und Indianern kann ich nicht punkten.“
Hermann zuckte die Schultern. Udo zeigte auf die anderen Platten.
„Aber was sagen Sie zum Rest?“
Ein Großstadtbahnhof nach Frankfurter Vorbild. Eine Brücke über eine achtspurige Autobahn. Eine eher urban anmutende Landschaft mit Diskotheken und Spielotheken und Palästen aus Glas und Stahl. Auf einem der Dächer in großen blauen Lettern der Name einer Versicherung.
Zwei den Elbbrücken nachempfundene Überwege verbanden diese Metropolis mit der nächsten Platte. Mit der Provinz. Wiesen und Weiden, Kühe und Pferde, Brunnen und Bauernhöfe und Fachwerkhäuser.
Grandiose Einzelheiten. Sicher, an der einen oder anderen Stelle waren sie kitschig. Idealisiert. Auf der Provinz-Platte hütete ein barfüßiges Mädchen Ziegen, ein Bild wie aus einem Heimatfilm. Andere Details waren dafür so brutal nah am Leben, dass Hermann nicht wusste, ob es sich um Mut zur Wahrheit oder zur Geschmacklosigkeit handelte. Er jedenfalls hätte sich das nie getraut.
In der Nähe des großen Bahnhofs gab es eine Fixerstube, vor der Huren mit Freiern durch Autofenster verhandelten. Hermann fühlte sich von der Szene ertappt, weil er sich vor zwei Jahrzehnten selbst ein paar Mal Sex gekauft hatte. Damals lag das Körperliche zwischen Anneliese und ihm im Sterben. Nach einem entsetzlichen Streit, der sich an der Frage entzündet hatte, was er in letzter Zeit immer mit seinem ganzen Geld mache, war es tot.
„Der Rest ist sehr gut“, gab Hermann zu. „Also wirklich sehr, sehr gut.“ Gott, wie schmerzhaft das über die Lippen ging. Er kaute kurz auf der Zunge herum und fügte dann hinzu: „Das kann man nicht anders sagen.“
Udo verbeugte sich wie ein Magier am Ende des Abends. Er griff sich an den Steiß und kam mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder hoch.
„Vergessen“, sagte er. „Neunundsechzig, nicht neunundzwanzig.“
Hermann lächelte und dachte: Idiot.
Die vierte Platte war leer. Hermann zeigte darauf. „Was kommt da hin?“
Udo gab ihm mit einer Geste zu verstehen, er solle einen Moment warten. In einer der Ecken des Kellers, in denen sich genau wie bei Hermann die Verpackungen von Zügen und Zubehör stapelten, lag ein Ordner. Udo zeigte Hermann Stadtpläne. Fotos von Straßenzügen und dem Rathaus. Dem Schweinebrunnen auf dem Marktplatz. Internet-Ausdrucke von Artikeln aus dem Tageblatt.
„Darauf baue ich eine Ode an meine neue Heimat.“
Es klang wie eine Drohung.
„Das neueste Kapitel in meinem Leben.“ Udo seufzte. „Ist ja wahrscheinlich das letzte, da will ich mal realistisch sein.“
Hermann nickte.
„Oh!“ Udo schnippte mit den Fingern. Er holte etwas, das auf der Provinz-Platte stand, und gab es Hermann. Der drehte es ungläubig zwischen den Fingern.
„Wenn Sie mit einer Lupe drauf gucken, können Sie die Namen der Eissorten lesen“, protzte Udo.
„Wie ...“
„Wollen wir oben einen Kaffee trinken? Dann erkläre ich es Ihnen. Ich mache uns welchen. Oder trinken Sie Tee?“
Hermann schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“
Tat es nicht. Wieder sah er Enttäuschung in Udos Blick. Er war einsam. Gut so.
„Ich muss wieder rüber.“ Nach kurzem Nachdenken fügte Hermann hinzu: „Meine Frau wartet auf mich.“
In den nächsten Monaten suchte Udo den Kontakt und Hermann blockte ihn ab. Zu sehr machte ihm am jeweiligen Tag das Wetter zu schaffen, zu dringend musste der Rasen gemäht werden, zu derbe hatte ihm dieses Experiment aus der Küche seiner Frau auf den Magen geschlagen. Manchmal fiel ihm die Ausrede zu spät ein. Dann kam es zu einem ihrer entsetzlichen Treffen.
All die Preise, von denen Hermann schon immer geträumt hatte, hatte Udo gewonnen. Die längste Strecke, die meisten Züge auf dem kürzesten Schienennetz – unfallfrei versteht sich, das war die Herausforderung –, der erste Platz beim Wettbewerb eines Autoherstellers zum Thema, wie privater und öffentlicher Personenverkehr in zehn bis zwanzig Jahren ineinander greifen müssten, damit alle mobil bleiben. Das war auch der Name des Wettbewerbs. Mobil sein, mobil bleiben. Udo hatte einen Zeitungsausschnitt. Das Bild zeigte ihn mit einem Vorstandsmitglied des Konzerns. Sie schüttelten Hände vor einem Banner mit dem Motto. Natürlich nur ein Mitglied, dachte Hermann. Für so einen Quatsch kommt doch nicht der Vorsitzende. Der hat Besseres zu tun.
Noch schlimmer war es, wenn Udo zum Gegenbesuch ansetzte. Er steckte voller Verbesserungsvorschläge.
„Du hast das Licht falsch, deine schönsten Loks kommen gar nicht zur Geltung.“
„Deine Brücken sind zu lang, das kracht irgendwann zusammen.“
„Du brauchst Einzelheiten an der richtigen Stelle.“
Und natürlich:
„Mach doch mal was, womit man nicht sofort rechnet. Damit es spannend bleibt.“
Die Unverschämtheit zwischen den Zeilen speziell dieses Ratschlags brachte Hermanns Blut zum Kochen.
„So wie deine Westernplatte?“, fragte er.
Udo räusperte sich.
„Naja, das hätte ich jetzt nicht gesagt, um nicht wie ein Aufschneider zu klingen, aber tatsächlich ein bisschen so, ja. Tut mir leid, das klingt furchtbar großkotzig.“
„Ach was. Ich weiß, was du meinst.“
September. Das Kribbeln in Hermanns Bauch ließ sich nur mir dem vergleichen, das er früher beim Blick in Annelieses Augen empfunden hatte. Lange vor der Frage, was er in letzter Zeit mit seinem ganzen Geld mache.
Erster Schritt des Rituals: Der Gang zur Sparkasse mit einem großen Einmachglas voller Münzen. Das hatte er schon als Junge gehabt. Heute warf er das Kleingeld nach dem Einkaufen hinein. Einmal im Jahr kam so genug für einen neuen Zug und ein Abendessen mit Anneliese im Alten Krug zusammen. Schweinemedaillons, solange es noch ging. Die gelbe Karte hatte er von Dr. Kotte schon bekommen.
Zweiter Schritt: Uwe Machule nahm lachend das Glas entgegen. Er sagte: Na Hermann, bringst du wieder deine gesammelten Werke vorbei?
Er sagte wirklich immer ganz genau diesen Satz, und Hermann erwiderte immer ganz genau: Wer den Pfennig nicht ehrt, mehr sag ich nicht, wer den Pfennig nicht ehrt.
Dann ein kurzes Gespräch über Wetter, Frau und Fußball, während Machule das Glas dem aktuellen Azubi in die Hand drückte.
Schließlich sagte Hermann: Ach, Uwe, wo ich gerade hier bin, bis zur Ausstellung sind's ja auch nur noch zwei, drei Wochen.
Darauf erwiderte Machule: Ganz genau, ich wollte dich auch schon anrufen. Selbe Tage, Aufbau und Uhrzeiten alles wie immer?
Diesmal allerdings brach Machule den perfekt einstudierten Ablauf vorzeitig ab. Auf Hermanns Feststellung, es seien ja nur noch zwei oder drei Wochen, reagierte er, indem er sich die Lippen leckte.
„Ach so“, sagte er leise. Dann senkte er den Kopf, um etwas auf einen Notizblock zu schreiben. Hermann erkannte an den gleichmäßigen Bewegungen des Armes, dass Machule nur kritzelte.
„Wann legen wir los?“
Unsicherheit ließ Hermanns Stimme beben. Machule sah von seinem Gekritzel auf.
„Hermann“, sagte er. Es klang viel zu betont freundschaftlich. „Weißt du noch, als sie 2011 mit dem Sportfest ausgesetzt haben, weil keine Sau mehr hingegangen ist? Und dann haben sie 2012 mit neuem Konzept und neuem DJ wieder angefangen und hatten auf einmal fast die Besucherzahlen aus den Achtzigern.“
Hermann schüttelte den Kopf. „Was? Was hat das mit meiner Ausstellung zu tun?“
Machule räusperte sich. „Unsere Ausstellung", sagte er. „Also du und wir, in Zusammenarbeit.“
„Du weißt, was ich meine.“
„Ja.“
Machule kritzelte ein bisschen weiter.
„Also jedenfalls", fuhr er fort. "Und was ich meine, das ist übrigens im Geschäft genauso, manchmal musst du andere Wege gehen, mal was Neues ausprobieren, sonst überlebt so eine Veranstaltung sich irgendwann.“
In Hermanns Kopf verzog sich der Nebel um den Vergleich mit dem Sportfest. „Ihr wollt diesmal keine Ausstellung?“
„Doch, das natürlich schon.“
Hermann atmete erleichtert auf. „Meine Güte, Uwe, jag mir doch nicht so einen Schrecken ein.“ Er lachte. „In meinem Alter bleibt nicht mehr viel, diese Ausstellung ist für mich ein Höhepunkt des Jahres.“
Machule hustete. Er sah an Hermann vorbei zum Eingang.
„Wir würden das diesmal einmal mit jemand anderem machen“, sagte er. „Und nächstes Jahr dann wieder mit dir. Ich könnte mir vorstellen, dass wir das dann immer im Wechsel machen, was meinst du?“
Dass ich das hier gerade nur träume. Ein Alptraum.
„Wer?“
„Weißt du, es haben immer öfter Kunden gesagt, sie finden das nett mit den Zügen, aber irgendwie ist es auch immer dasselbe, und wenn du zwischendurch mal was anderes bringst, dann kriegen deine Sachen im nächsten Jahr wieder eine ganz andere Aufmerksamkeit und-"
„WER?“ Hermann schlug mit der flachen Hand auf den Stehtisch, an dem sonst die Kunden ihre Überweisungen ausfüllten, die zu alt waren um es online zu machen. Der Azubi lugte um die Ecke. Seinem Blick zufolge hatte er erwartet, den Chef im Schwitzkasten des schrägen alten Mannes mit dem Einmachglas zu sehen. Machule zwinkerte dem Kind mit Krawatte zu, worauf es wieder verschwand.
„Dein Nachbar“, sagte er.
Kalte Finger schlossen sich um Hermanns Herz.
„Hab ihn im Wez kennengelernt“, trällerte Machule. „Ein ganz feiner Kerl. Wir haben auch darüber gesprochen, dass er dich kennt, und dann über Modellbau, und dann hat er mir erzählt, was er alles hat und mich eingeladen, es mir mal anzusehen. Diese Cowboylandschaft da, das musst du doch auch so sehen, da rasten die Kinder aus.“
Er grinste. „Und je länger sie hierbleiben wollen, desto länger kann ich mit ihren Eltern über andere Sachen sprechen.“
Hermann starrte ihn regungslos an. Machule hustete bei vorgehaltener Hand. Als er sie wegnahm, war das Grinsen verschwunden.
„Aber nicht nur das“, sagte er. „All die Kleinigkeiten. Der Mann hat ein irres Auge fürs Detail, das musst du doch als Kollege auch so sehen.“
Machule gab Hermann die Chance für eine Reaktion. Der ergriff sie nicht.
„Und er hat diesen Blick von außen, weil er zugezogen ist. Da bekommst du automatisch eine ganz andere Perspektive, wenn der lokale Ereignisse nachbaut.“
Hermann nickte. „Du hast Recht. Wir sprechen dann nächstes Jahr wieder.“
Er drehte sich um und ging. Als er beim Ausgang war, sagte Machule: „Du bist doch nicht sauer, Hermann, oder?“
„Ach was.“
Ein paar seiner kleinen Modellmännchen, Bauarbeiter mit Vorschlaghämmern, schienen seine Schläfe zu bearbeiten. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war es nicht Udo, der Hermann einlud.
Hermann lud Udo ein.
Sie arbeitete seit neun Jahren bei der Spurensicherung. Meist hatte ihr Job mit Blut zu tun, aber hier unten war keins. Sie hatte gesucht, bis die Welt vor ihren Augen angefangen hatte zu zittern, als wäre sie betrunken. Wahrscheinlich hatte er Folie ausgelegt. Vielleicht fanden sie sie im Schuppen hinter dem Haus. Und vielleicht waren da auch die Arme und Beine.
Sie fuhr herum. Das Auge folgte ihr, genau wie bei einem Gemälde. Es faulte nicht. Er hatte es mit Paraffin überzogen.
Unter dem Auge hing an Fäden ein kleiner Korb mit zwei winzigen Menschen darin, die auf das Gebirge unter sich zeigten. Ein Heißluftballon, der in der Luft gehalten wurde von einem feinen, fast unsichtbaren Draht. Der Draht steckte im grünen Filz, der das Gras des Gebirges darstellte. Und unter dem Filz ...
Milena spürte den Drang, einen der Trafos aufzudrehen und zu sehen, was passierte. Sie lauschte nach Schritten und Stimmen oben im Haus. Als sie nichts hörte, gab sie ihrer Neugier nach und ließ einen der Züge fahren.
Der ICE kam von einer der anderen beiden Platten angeschossen, fuhr über eine der Brücken und erreichte nach der Fahrt durch einen Güterbahnhof ein Waldstück. Etwas abseits der Gleise behielt ein Jäger auf seinem Aussichtsturm die Lage mit dem Fernglas im Blick.
Nach dem Wald ging es entlang eines kleinen Baches in die Tunnelöffnung. Milena erstarrte, weil das Geräusch der Räder auf den Schienen plötzlich dumpfer klang. Damit die Tunnelöffnung auf der anderen Seite weit genug war, hatte er alle Zähne aus dem Kiefer gezogen. Milena wusste, Blut gerinnt so unheimlich schnell. Aber als der Zug aus dem zahnlosen Ende wieder herauskam, hatte ein kleiner roter Spritzer das Weiß der Waggons beschmutzt.