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Das Attentat
„Steuerungsfunktionen in Betrieb, alle Vitalparameter im Normbereich. Wir haben volle Kontrolle über das Objekt.“
„Hervorragend! Mission fortsetzen wie geplant.“
„Jawohl, Oberer!“
„Ich erwarte höchste Konzentration, Steuerer. Die Mutter verlässt sich auf uns.“
Paul Levasseur saß an seinem üblichen Tisch in der hintersten Ecke. Die Offiziersmesse war nur spärlich besucht. Das lag nicht allein an der Tageszeit; die Besatzung der Raumstation hatte sich nach den Verlusten der letzten zehn Monate fast halbiert. Die Gespräche der wenigen Anwesenden waren so gedämpft wie die Stimmung, die auf der ganzen Basis lastete. Paul hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und blickte nachdenklich an die Decke. Vielleicht saßen sie schon dort, und er konnte sie nicht einmal sehen? Unsinn, die Station gehörte zu den am besten geschützten im ganzen Sonnensystem. Und doch ... was war in diesen Tagen noch sicher?
Er schreckte aus seiner Grübelei auf, als er Ellen aus dem Augenwinkel sah. Sie durchquerte den Saal mit schnellen, präzisen Schritten. Paul sprang auf, um sie zu begrüßen. Ellen wirkte reserviert, fast fügte sie sich mehr in die Umarmung, als dass sie sie erwiderte. Rascher als beabsichtigt ließ Paul sie wieder los. Hatte sie die Neuigkeiten schon gehört?
„Schön, dich heil wiederzusehen“, sagte er. „Setz dich doch.“ Mit steifem Rücken nahm Ellen ihm gegenüber Platz. Paul wusste nicht recht, wie er sein Anliegen vorbringen sollte. Eins nach dem anderen. „Wie lief der Einsatz?“
„Wir waren erfolgreich. Der Angriff wurde zurückgeschlagen“, antwortete Ellen.
„Singh sagt, es sei sehr knapp gewesen. Ein Schwarm Fleas hätte dein Schiff infiltriert und ihr hättet sie im Nahkampf abwehren müssen? Siebzehn Tote?“ Paul sah sie besorgt an. „Verdammt, Ellen, das hätte auch anders ausgehen können! Ich bin bloß froh, dass du in einem Stück zurückgekommen bist.“
„Wir waren erfolgreich“, wiederholte Ellen. Dann fügte sie hinzu: „Unter bedauerlichen Verlusten.“
Paul runzelte die Stirn. Normalerweise sagte Ellen Dinge wie: „Wir haben ihnen in die kleinen Flohärsche getreten“, wenn es gut lief. Oder: „Scheiße, wir wären fast draufgegangen“, wenn es so lief wie heute. Doch er hatte so etwas schon mehrfach gesehen – Soldaten, die einmal zu oft nur knapp mit dem Leben davonkamen. Denen schließlich sogar ihr Sarkasmus abhandenkam. Die sich in ihrer Erschütterung an Floskeln und Regularien festklammerten, um noch irgendwie zu funktionieren. Dennoch weigerte er sich zu glauben, dass auch Ellen schon an diesem Punkt angelangt sein sollte.
Die Bedienung durchbrach seine Gedanken. „Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte die synthetische Stimme des dreirädrigen Automaten.
„Ellen?“ Als sie nicht sofort antwortete, bestellte Paul für beide. „Bitte zwei Starlight Supreme. Auf Eis.“ Der Roboter wandte sich ab, und Paul sah Ellens forschenden Blick. „Ja, ich weiß. Alkohol im Dienst? Verdammt, heute brauche ich wirklich etwas Unterstützung. Außerdem ...“ Er grinste schief. „Wer sollte mich deswegen maßregeln? Ich bin nun mal der ranghöchste Offizier auf der Station.“
„Steuerer, bereite die Ausführung des Vorhabens vor. Letzte Funktionsprüfung aller Systeme!“
„Alle Systeme im Normbereich, Oberer.“
„Kortikalverbindung?“
„Volle Signalstärke, Oberer.“
„Sehr gut. Wir werden der Mutter Ehre bereiten.“
„Ich muss dir etwas sagen“, begann Paul. „Ich weiß nicht, ob du schon die neuesten Meldungen kennst?“
Ellen zögerte mit der Antwort. „Ich ... komme gerade erst aus der Sanitätsstation. Dekontamination und Wundversorgung.“
„Natürlich.“ Paul holte tief Luft. „Heute haben sich die Ereignisse überschlagen. Während ihr raus in die Schlacht musstet, kamen immer neue Nachrichten herein. Anschläge auf unsere wichtigsten Kommandeure. Admiral Mulgrew, Commodore Honda, Minister Yelchin – sie sind alle tot. Insgesamt acht unserer fähigsten Anführer. Dazu Dutzende weitere, unbeteiligte Opfer. Wie es genau ablief, weiß man noch nicht, es gab Explosionen, vielleicht auch, um Spuren zu verwischen. Aber niemand zweifelt daran, dass die Fleas dahinter stecken. Die Biester müssen neue Wege gefunden haben, durch unsere Detektoren zu kommen.“
„Hörst du das, Steuerer? Maximiere das Audiosignal. Wir müssen unbedingt aufzeichnen, welche Informationen der Gegner über unser Vorgehen gesammelt hat!“
„Aber hey, alles hat auch sein Gutes. Schau mal!“, rief Paul. Er hob die Hände und drehte sie hin und her. Ellen blickte ihn verständnislos an. Paul wies auf seine Uniformärmel und lachte höhnisch auf. „Vier Streifen!“ Noch immer blieb Ellens Blick leer. Paul seufzte. „Sie haben mich befördert. Zum Admiral. Um die Ränge wieder aufzufüllen. Die Truppen dürfen ja nicht führungslos bleiben, das wäre doch genau das, was der Feind erreichen will.“
„Meinen herzlichen Glückwunsch“, sagte Ellen.
„Glückwunsch? Ist das dein Ernst? Ist dir nicht klar, was das bedeutet?“
„Was ... meinst du?“
Paul raufte sich die Haare. Er wusste selbst nicht, ob es die ausweglose Situation war, die ihn so frustrierte, oder Ellens Begriffsstutzigkeit. Ach, ich bin einfach nur angespannt. Kein Wunder. „Das bedeutet, Ellen, dass ich der Nächste sein kann. Sein werde. Sobald die Fleas mitbekommen, wie weit oben ich jetzt in der Hierarchie stehe, bin ich ein weiteres Ziel für sie! Falls sie nicht ohnehin schon so weit vorausgeplant haben.“
„Steuerer, stelle eine Direktverbindung her und übertrage dieses Gespräch ans Mutterschiff.“
„Aber Oberer, müssen wir nicht Funkstille halten?“
„Diese Informationen könnten wertvoll sein. Befehl ausführen!“
Der Bedienroboter kam zurück und servierte die Drinks. Während die Maschine umständlich zwei Untersetzer aus ihrem Staufach holte, musterte Paul sein Gegenüber. Die militärisch kurzen blonden Haare, die schmale Nase, der drahtige, fast knabenhafte Körper – all das war ihm wohlvertraut. Doch das maskenhaft unbewegte Gesicht mit den glanzlosen Augen erschreckte ihn. Seit wann hatte der Krieg auch Ellen so zugesetzt?
Dabei waren es gerade ihre Augen gewesen, in die er sich vor gut einem Jahr verliebt hatte. Diese wachen graublauen Augen und die lebhaften Gesichtszüge zeugten von Optimismus und Humor, die Ellen sich bewahrt hatte, obwohl sie wie jeder in den planetaren Streitkräften täglich mit Tod und Zerstörung konfrontiert war.
Als Paul ihre Einheit auf der Kirkwood-Raumstation empfangen hatte, war er noch im Rang eines Captains, hatte aber bereits das Kommando über die Station. Nach seiner Begrüßungsrede, in der er wie üblich die Bedeutung des Flea-Krieges für das Überleben der Menschheit hervorgehoben hatte, war Commander Ellen Søderberg vorgetreten und hatte vor versammelter Mannschaft gesagt: „Wenn Sie erlauben, Sir – meine Schwadron wird gegen jeden Feind bestehen, egal wie groß oder klein er auch sein mag. Ob nun Läuse, Flöhe oder Kakerlaken – die Kammerjäger sind da, Sir!“ Und während ihre Soldaten zustimmend grölten, hatten diese Augen ihn siegessicher angeblitzt.
Natürlich waren Beziehungen mit Untergebenen verboten, doch inmitten des Krieges hatte die Militärverwaltung Wichtigeres zu tun, als sich mit nichtigen Regelverstößen zu befassen. Und während Paul immer mehr Verantwortung aufgeladen wurde, war er dankbar für den Halt, den Ellen ihm gab. Wann hatte sie ihren eigenen Halt verloren? Und warum hatte er es nicht gemerkt?
„Wir haben die Freigabe für den Angriff erhalten. Programmiere die Angriffssequenz, Steuerer.“
„Steuerung programmiert, Oberer.“
„Ich wollte dich nicht nur sprechen, um mit meinen neuen Abzeichen zu prahlen“, sagte Paul. Er griff nach Ellens Händen, die sie auf der Tischplatte gefaltet hatte. Sie waren kalt, und Ellens Finger blieben verkrampft, statt den seinen wie sonst entgegenzukommen. Fast erleichtert ließ er los, als sein Kommunikator summte und das Bild seines Adjutanten vor seinem Gesicht erschien. Dieser setzte zum Sprechen an, doch der Admiral ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Nicht jetzt, Singh!“ Mit einer verärgerten Handbewegung wischte er das Hologramm zur Seite. Wenigstens mal fünf Minuten Ruhe!
„Was wolltest du mir dann sagen?“, fragte Ellen vorsichtig.
Paul sah ihr wieder in die Augen. „Ellen ... du weißt, was ich für dich empfinde. Aber dieser Krieg ... ach, verdammt!“ Frustriert schlug er mit der Faust auf den Tisch, sein Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. „Wir können uns bis auf Weiteres nicht mehr sehen. Ein Anschlag auf mich würde dich in tödliche Gefahr bringen, so ein Risiko werde ich nicht eingehen.“ Er wartete vergeblich auf eine Reaktion von Ellen, dann fuhr er fort. „Außerdem habe ich mit dem neuen Rang auch neue Aufgaben bekommen. Ich werde die Offensive am Neptun kommandieren, in zwei Stunden muss ich aufbrechen. Und so, wie die Dinge stehen – weiß ich nicht, ob ich lebend zurückkomme.“ Jetzt ist es raus. Erleichtert atmete er aus.
„Optimiere das Kontrollsignal, Steuerer.“
„Signalstärke auf Maximum, Oberer. Bereit zur Auslösung des Angriffs!“
„Gut gemacht! Auslösen auf mein Kommando ...“
„Ich verstehe“, sagte Ellen. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Du verstehst? Ist das alles?“ Paul war fassungslos. „Was ist mit ‚mir scheißegal, sollen sie doch kommen‘ oder ‚ich fliege mit, ich lasse dich nicht allein da raus‘? Ellen, ich erkenne dich gar nicht wieder!“
„Paul ...“, sagte Ellen und kniff die Augen zusammen. Ihr linker Mundwinkel zuckte. „Du musst ...“ Ihre Stimme klang rau.
Paul sah sie zweifelnd an, als sich sein Kommunikator erneut meldete, diesmal mit dem hohen Alarmton. Singh rief: „Sir, es ist höchst dringend! Wir haben ein Flea-Kommunikationssignal aufgefangen. Der Inhalt ist noch nicht entschlüsselt, aber die Quelle ist in Ihrer unmittelbaren Nähe. Ein Sicherheitsteam ist schon auf dem Weg. Sie müssen da weg, das könnte der Anschlag sein, den wir befürchtet haben!“
„Auslösen, sofort!“
„Jawohl, Oberer – ausgelöst!“
Paul setzte zu einer Antwort an, doch sein Mund blieb offen stehen, als er durch Singhs Hologramm hindurch auf Ellen sah. Sie war aufgestanden und hatte ihren Partikelstrahler gezogen. Jetzt hob sie langsam die Hand und richtete die Waffe auf Paul.
„Ellen? Was soll das?“ Paul hob beschwörend die Hände, während er langsam seinen Stuhl zurückschob und ebenfalls aufstand. „Was ist los mit dir?“
„Ich ... weiß nicht ... kann nicht ...“ Ellens Stimme klang gepresst. Ihr Blick flackerte durch den Raum, zu Paul, zu ihrer Hand mit der Waffe. Die Hand begann zu zittern, während sich ihr Zeigefinger allmählich um den Abzug krümmte. „Ich will ... das nicht ...“ Ellens Kinn bebte, ihre Zähne schlugen aufeinander. Eine Träne löste sich aus ihrem rechten Augenwinkel und lief die Wange hinab.
Paul stand wie festgefroren. Seine militärische Ausbildung war hier nutzlos. Er konnte Feinde bekämpfen, die ihm in Raumschiffen entgegenflogen oder mit Artillerie auf ihn schossen. Sogar die winzigen Fleas in ihren millimeterkleinen Vehikeln waren ein Gegner, auf den er sich einstellen konnte. Doch dass seine Geliebte, seine Ellen, eine Waffe auf ihn richtete, war ein Umstand, mit dem sein Gehirn nichts anzufangen wusste.
Ellens Gesicht verkrampfte sich zu einem Ausdruck höchster Anstrengung, sie fletschte die Zähne, Schweiß trat aus ihren Poren und vermischte sich mit den Tränen. Ein leises Wimmern entstieg ihrer Kehle. Die zitternde Hand mit dem Strahler hob sich weiter, der rot leuchtende Zielpunkt tänzelte von Pauls Bauch über seine Brust bis zu seinem Kopf, dann darüber hinaus.
„Oberer, das Objekt richtet die Waffe nicht korrekt aus!“
„Wie kann das sein?“
„Ich weiß es nicht! Alle Steuerleitungen sind intakt, aber unser Signal bleibt wirkungslos!“
„Wie groß ist die Richtungsabweichung? Können wir das Ziel noch treffen?“
„Nein, nicht annähernd. Der Winkel verringert sich immer weiter. Die Waffe zeigt jetzt auf … auf …“
„Rede!“
„Sie zeigt auf … uns!“
Mit Entsetzen sah Paul, wie Ellen ihren Arm weiter beugte, bis die Waffe auf ihren eigenen Kopf gerichtet war. Die Tränen strömten jetzt ungehemmt ihre Wangen hinab. Doch das Zittern ihrer Hand hörte auf. „Liebst du … mich auch, wenn ...“ Dann betätigte sie den Abzug.
„Nein!“ Paul stürzte auf Ellen zu, die noch zwei Sekunden lang aufrecht dastand, bevor sie mit blutüberströmtem Kopf zu Boden sackte. Paul fing sie auf. Jetzt endlich setzten seine Schlachtfeldreflexe ein, er wurde schlagartig ruhig und analysierte die Situation. Auf sein Handzeichen hin verständigte der erste der hereinstürmenden Wachoffiziere ein Sanitätsteam, die übrigen drei sicherten in alle Richtungen.
Ellen war nicht tot, sie war sogar noch bei Bewusstsein, trotz einer klaffenden, stark blutenden Wunde an der rechten Kopfseite. Die Anspannung war aus ihrem Gesicht gewichen, sie wirkte seltsam entspannt, fast friedlich. Dabei musste sie furchtbare Schmerzen haben. Der Schock?
„Mein Ohr ...“, krächzte Ellen, „die Fleas ... ich musste ...“ Ein mattes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, ein Glitzern war in ihre Augen zurückgekehrt, sie blickte Paul in die seinen. „Liebst du mich auch … wenn ich nur noch ein Ohr habe?“
„Mutter, Vorhaben 6237/9 scheint fehlgeschlagen zu sein. Wir haben den Kontakt verloren.“
„Was ist passiert?“
„Die letzten Übertragungen deuten auf eine ungenügende Kalkulation in Bezug auf die neurochemischen Charakteristika der Indigenen dieses Sternensystems hin.“
„Dann haben die für den Fehler Verantwortlichen ihr gerechtes Ende gefunden. Wertet die Daten aus, die bei diesem Einsatz gesammelt wurden. Die nächste Konfrontation muss besser vorbereitet sein ...“