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Das andere Leben
Die erste Zigarette, noch im Bett sitzend, war kein Genuss auf der pelzigen Zunge, das war sie noch nie gewesen, und das Kopfkissen war von den Rotweinrändern an seinen Mundwinkeln verfärbt. Den Bezug hätte seine Frau längst gewechselt, hätte sie im letzten Winter nicht den Mann gewechselt. Sie lebte jetzt in in einer Gegend, die sie früher auf einer Radtour im Scherz als "bessere Gegend" bezeichneten, zusammen mit dem "besseren Mann" und mit ihren drei Töchtern.
Gestern sollte er sie abholen, die Jüngste hatte ihre Mutter gebeten, ein Foto von sich mit dem neuen Prinzessinenkostüm zu schicken und ihm auszurichten, so früh wie möglich zu kommen. Aber als das Finale in die Verlängerung ging, öffnete sein Kumpel vor Aufregung die mitgebrachte Flasche Vodka. Nach der Siegerehrung kamen sie ins Reden über alte Zeiten, in denen die Zukunft noch leuchtend war, und er holte er den Karton Rotwein, der seit Weihnachten im Regal stand, hervor. Es war ein Geschenk seines ehemaligen Partners, der die Kunden jetzt allein betreute. Dieser hatte zunächst immer seltener und nun auch schon vier Monate gar nicht mehr angerufen, um sich zu erkundigen, wie es ihm ginge und wann er wohl zurückkehren würde. Möglicherweise hatte er auch probiert, aber das Telefon war gekündigt, indem er die Rechnungen nicht mehr bezahlte, und das war's dann. Wer etwas von ihm wollte, und das waren nicht mehr viele, konnte ja klingeln.
Auf dem Umschlag, den der Briefträger nur gegen Unterschrift da lassen wollte, schimmerte von innen das Wort "Räumungsklage" durch. Die zerknüllten Taschentücher auf dem Boden neben seinem Bett und der Geruch, der sich aus der kleinen Küchenzeile mit dem der Aschenbecher vermengte, die leeren Flaschen und das Sirren des PCs, die Schuldgefühle und die Angst vor der Zukunft - es würde nicht mehr lange so weitergehen können, dessen war er sich ganz sicher.
Er fühlte sich wie eine Ratte, der ein Wissenschaftler dabei zusieht, wie sie sich den Weg durch das Labyrinth zu ihrem Futter und dem Ausgang sucht, aber einen Ausgang konnte er nicht finden. Er zündete eine weitere Zigarette an, machte einen starken Kaffee, startete dann wie jeden Tag das nächste Level und bewegte die kommenden Stunden seinen Avatar durch das "Alternative Life 3.5".