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Das alte Haus
Das alte Haus
Wenn du von Spangereid der Küstenstrasse nach Lindesnes folgst, kommst du irgendwann an einem kleinen, verwitterten, weißgestrichenen Schulhaus auf der linken Straßenseite vorbei, gleich neben der festgezimmerten, kleinen Bushaltestelle, die schon genauso lange dort zu stehen scheint, wie das kleine Schulhaus.
Stell dir vor, du läufst dort die Straße entlang, und es ist Sommer, vielleicht ende Juni, in der für Südnorwegen schönsten Jahreszeit.
Die Tage sind klar und sonnig, es ist „Jordbaertid“, Erdbeerzeit.
Die Nächte sind von gläserner, rosenfarbener Helligkeit und es scheint so, als würden selbst die fernen Sterne diesem Flecken Erde näher sein als sonst einem Ort auf der Welt.
Alles um dich herum ist Leben, alle Natur ist feiner Klang, fast so, wie ferne Musik, alles ist Licht, Duft und Farbe.
Inmitten dieses Farbentanzes steht, gleich hinter der Abfahrt zur Küste nach Goksem hinein an der rechten Wegseite hinter lichten Birken und hohen Sträuchern verborgen ein kleines, weißes, vom stetigen Wind schiefgedrücktes Holzhaus.
Die Farbe blättert an allen Flächen und Ecken ab und lässt silbern schimmerndes Kiefernholz zum Vorschein kommen.
Ein Fensterladen hängt etwas schief vor den Staubblinden, kleinen Scheiben, ein anderer ist schon vor langer Zeit heruntergefallen.
Manche Fensterläden stehen weit offen, und wieder andere sind noch geschlossen, und sehen aus, als warteten sie darauf wieder geöffnet zu werden um Licht in die nun dunkle Stube hereinfluten zu lassen.
So schief und angegriffen das kleine, alte Haus auch aussieht, so strahlt es doch eine urwüchsige Gemütlichkeit aus, und du fühlst dich von seinem Anblick angezogen.
Fast scheint so, als riefe es dir zu: „Komm herein, sei mein Gast, ruhe deine müden Glieder aus und schenke deiner Seele Ruhe und Frieden in meinem hölzernen Leib.“ Der Brunnen hinter dem Haus ist bedeckt mit altem Laub und doch ahnst du darunter das klare, silberhelle Wasser.
Ein Toilettenhäuschen steht, von Brombeeren überwuchert und kaum mehr sichtbar in sich zusammengesunken etwas abseits, rechts vom Eingang mit dem kleinen Windfang.
Du bist der Einladung des alten Hauses gefolgt, und betrittst nun die Treppe, die zum verwitterten Windfang führt.
Die äußere Türe liegt davor zerbrochen an die Wand gelehnt und ein paar Gasscherben knirschen leise unter deinen vorsichtigen, fast ehrfurchtsvollen Schritten.
Bienengesumm liegt in der Luft und Schattenkühle streift deine Wange, während du unter dem niedrigen Holzdach des Windfangs stehst und dir die schmiedeeisernen Verzierungen und die liebevollen, kleinen, handgeschnitzten Ornamente an den Tragebalken anschaust.
Möglicherweise wurden sie vor langer Zeit von der starken, hornigen Hand eines alten Seemannes geschnitzt, vielleicht auch von einem Bootsbauer, der, wenn es keine Schiffe zu bauen gab, seine Fähigkeiten auf den Bau von Häusern wie diesem verwandte.
Vielleicht wurde dieses Haus als Brautgabe für die Tochter eines Kapitäns errichtet, die einen jungen, starken, lebensfrohen und zuverlässigen Seemann zum Mann nahm, und mit ihm voller Zuversicht in eine golden scheinende Zukunft blickte.
Es war dieses Haus, welches ihm Hafen und Heimat wurde, ein warmer Platz zu dem sich sein Herz in rauher Sturmesnacht zurücksehnte und ihm dabei half, sein Schifflein durch all die tosende Gefahr hindurch den Heimweg finden zu lassen, zurück zu seiner Liebsten, und zurück zu den Kindern, die vielleicht eben gerade, während er an sie gedacht haben mochte aufgeregt lachend und schwatzend, mit von Wind und Wetter geröteten Wangen die Stufen heraufpolterten, sich hastig die verschmutzten Stiefel von den kleinen Füßen streiften, in sausendem Lauf zu Mutter in die Küche liefen und ihr erzählten, welche Wunder und Abenteuer sie gerade erlebt hatten. Vielleicht hatten sie dem tobenden Meer ein Stück Strandgut entrissen, vielleicht auch einen schönen Dorsch gefangen, den sie nun voller Stolz der Mutter auf den Küchentisch legten.
Nun bist du, im Geiste den Kindern folgend, durch die kleine Diele, an deren rechter Seite eine schmale Holztreppe ins Obergeschoss führt hindurchgegangen, und stehst nun in einer geräumigen Küche, in welcher du einen gusseisernen Ofen und einem großen, fest gemauerten Herd erblickst.
Zwei weiße Regale hängen noch etwas schief an den Wänden, ein Solide gezimmerter Tisch mit einer Eckbank dahinter steht noch dort, wo er immer gestanden haben mag, und in der Mitte des Raumes liegt ein Stuhl auf dem Rücken, so, als sei er gerade durch das wilde Spiel der Kinder umgefallen.
Die Türe zur Speisekammer steht halb offen und atmet geheimnisvoll staubflirrendes Dunkel.
Sogar ein Heiligenbild in verblichenen Farben hängt noch mit Reißzwecken festgepinnt, an der Wand über der Eckbank. Ein kleines Holzbord ist darruntergenagelt, vielleicht brannte jeden Abend eine Kerze vor dem Bild, während sich das Herz der Mutter nach ihrem Mann sehnte, der gerade weit draußen, auf dem wilden Meer war.
Im Küchenschrank findest du noch eine Ausgabe des „ Norske Dagbladet“.
Es trägt das Datum des 14. September 1953 und vergilbte Fotos sehen dich an.
Das Papier ist brüchig geworden durch die lange Zeit und es zerbricht unter deinen Fingern zu Staub.
Du verlässt mit leisem Schritt die Küche, und wendest dich der anderen Türe in dem kleinen, schmalen Flur zu, welche dich leicht geöffnet zum Eintreten einlädt.
Nun stehst du in der guten Stube.
In der Ecke, zum Küchenkamin hin, steht ebenfalls ein großer, rostiger, gusseiserner Ofen, auf dessen rauher Oberfläche du Bilder von Seefahrt und christlichem Glauben erkennen kannst.
Du kannst, deine Hand auf dem nun kalten rostrauhen Metall, noch die bullernde Hitze erahnen, die er in manch kalter Wintersnacht in das Zimmer sandte und es mit heimeliger Wärme erfüllte.
Bis auf den Ofen ist das Zimmer leer.
Tapeten mit blaugeblümtem Muster auf weißem Grund bedecken noch die Wände, hie und da etwas ausgebeult von eingedrungenem Wasser, an manchen Stellen angenagt oder durch den Lauf der Zeit heruntergeschält.
Ein paar Schattenrisse zeigen noch, wo vielleicht ein Portrait des Großvaters gehangen haben mag, oder das Bild eines prächtigen Segelschiffes unter stolzgeschwellten Segeln, welches über das gleißende Meer einem fernen Ziel entgegenstrebt... den Träumen des Betrachters entgegen.
Gleich neben dem Ofen könnte der Ohrensessel des Hausherren gestanden haben, am Fenster gegenüber vielleicht ein bequemes, weitausladendes Sofa, ein Nähtischchen daneben, ein Tisch mit geschweiften Füßen davor und drei, oder vier weitere Stühle mit bequemen blauen Polstern und golden blitzenden Ziernägeln.
Vielleicht stand gerade dort, wo ein weiterer großer, hellerer Fleck links neben der Türe ist, ein aus dunklem, glänzendem Holz gefertigtes Buffet, in welchem das Sonntagssilber, die Damasttischdecken du das Festtagsgeschirr verwahrt wurde. Darauf standen vielleicht in feinziselierten Silberrahmen die Bilder der Lieben, und auch ein Blumenstrauß mochte dort seinen Duft in das stille Zimmer vergossen haben dessen stetiger Puls das leise Ticken der eichenen Standuhr war. Wie viele freudige Stunden in geselliger Runde mag dieses Zimmer wohl gesehen haben, wie viele Stunden bangen Hoffens oder auch stummer Trauer? Wo sind sie alle hin? Was ist aus ihnen geworden? Waren sie glücklich, in diesem Haus? Das Haus aber schweigt lächelnd...
Nun wendest du deine Schritte hinauf, in das obere Stockwerk, steigst vorsichtig über die knarrenden, ausgetretenen Stufen empor, wo ein leuchtend grüner Birkenast durch ein zerbrochenes Fenster hereingewachsen ist und sich Sonnenglänzend im sachten Wind hin und her wiegt.
„Komm weiter, du bist willkommen“ scheint er dir zuzuwinken und du folgst seinem Ruf und stehst in einem kleinen Kämmerchen in welchem noch zwei verfallene Betten an der Wand stehen.
Eine große Truhe, gefüllt mit mottenzerfressenen Stofffetzen, die wohl früher einmal Kleidung waren steht still und schwer in einer Ecke unter der Dachschräge. Auch ein großer Schrank mit geöffneten Türen schaut dich erwartungsvoll an. Bist du am Ende ein neuer Bewohner? Einer, der bleiben, und das kleine Haus zu neuem Leben erwecken wird?
Gedankenversunken gehst du weiter. Im nächsten Raum ist das Dach ein Stück weit in das Haus hineingebrochen und kleine Birkenschösslinge recken sich dem lichten Blau des Himmels entgegen, wurzelnd im Holz des Fußbodens und im Moder vergangener Jahre.
Der dritte Raum im Dachgeschoss wird wohl eine Abstellkammer gewesen sein.
Auch hier liegen im Halbdunkel Kisten und Kasten herum und inmitten dieses Raumes steht ein wackeliger Tisch, auf welchem große, alte Seekarten mit feingezeichneten Linien und bunten Windrosen auf der oberen linken Ecke ausgebreitet liegen, gerade so, als wollte jemand im nächsten Moment eine neue, große Fahrt in die blaue Ferne planen.
Du wagst es nicht, etwas von all den Sachen an dich zu nehmen. Du bist Besuch und Gast in diesem Haus.
Lichtstrahlen tanzen vor dir auf dem Boden als du deine Schritte wieder die Treppe hinunter und zur Haustüre hinauslenkst. Sachte schließt du die Türe hinter dir, obwohl sie sich nicht mehr vollständig ins Schloss ziehen lassen will. Das Haus entzeiht sich im weitergehen mehr und mehr deinen Blicken. Es scheint dir, als würdest du gerufen... Noch einmal hältst du inne, und schaust zurück.
Da steht es, fast ein wenig wehmütigen Blickes aus den kleinen Fenstern hinaus in die Welt schauend, eingehüllt in ein leuchtendes Kleid aus birkenfrohem Grün und wartet... und träumt.
Wer weiß, vielleicht steht es noch immer dort und ist bereit, auch dir eine Heimat zum zurückkehren zu geben.