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Darauf kommt es nicht an
In den frühen Morgenstunden beginnt Georg unter seiner dünnen Bettdecke zu frieren. Er sucht Elmas wärmenden Körper neben sich, doch ihr Bett ist leer und kalt, und Georg erinnert sich, wie sein Ältester sie gestern in einer Urne zu Grabe getragen hat. Georg war ihm gefolgt von der Kapelle zum Friedwald. Seine Tochter ging links von ihm, der Jüngste rechts, beide ihn stützend, aus Angst, er könnte zusammenbrechen wie eine alte Scheune. Der Nieselregen, der seit Tagen fiel, hatte die Erde des Friedhofwegs aufgeweicht. Matsch quoll unter den Schuhen seines Sohnes hervor und blieb haften. Die Schuhe traten auf eine Wiese und blieben stehen. Kurz nur hat Georg das kleine Loch im Rasen gesehen, umlegt mit Tannengrün. Dann war da nur noch Nieselregen, bis seine Tochter ihn mit sich zog durch den Matsch und die Pfützen, vorbei an der Kapelle, durch das Friedhofstor, über die Straße zum Parkplatz ins Auto.
Nach dem Leichenschmaus im Drei Möwen hat ihn sein Jüngster nach Hause gefahren, ihn ins Haus gebracht und gefragt, ob er bleiben solle.
“Fahr zu deiner Familie!”, hat Georg gesagt, sich an den Esstisch im Wohnzimmer gesetzt und aus dem Fenster geschaut.
“Komm doch mit. Bitte komm mit!”
“Fahr nach Hause!”
Gegenüber bei Edeka parkten Menschen ihre Autos und huschten durch den Regen zu den Einkaufswagen. Mit den Fingerkuppen fuhr Georg über die Kerben im Holztisch. Wie oft hatten sie hier Karten gespielt? Zuerst MauMau und Uno, später dann Skat und Doppelkopf. Die Kinder hatten ihre Hausaufgaben mit Vorliebe an diesem Tisch gemacht, auch noch als Elma und er längst keine Hilfe mehr waren. Abends hatten sie hier gemeinsam gegessen, weil die Küche für fünf Leute zu klein war. Georg legte seine Hand auf die Häkeldecke in der Mitte des Tisches. Die Hand war alt geworden, wie der Rest seines Körpers. Die Haut schlug Falten und war fleckig, die Adern darunter traten hervor. Eine weiße Porzellankanne mit blauen Punkten hätte auf der Häkeldecke stehen müssen, mit einem Bund frischer Blumen darin. Georg zog die Hand weg und stand auf.
Im Schlafzimmer nahm er die Sporttasche aus dem Schrank, warf ein T-Shirt und einen Pullover, ein paar Unterhosen und Socken hinein, dann den Bademantel, der die Tasche fast vollständig füllte. Aus der Küche holte er die Dose mit dem gemahlenen Kaffee, im Vorratsschrank fand er eine große Packung Haferkekse. Er legte sein Handy auf den Küchentisch, daneben einen Zettel: Brauche eine Auszeit. Bin im Harz. G.
Kurz vor Mitternacht erreichte er den kleinen Bungalow, parkte das Auto an der Straße und stapfte den Pfad zum Haus durch wattigen, knöchelhohen Schnee.
Nun allein im Dunkeln leuchtet die Erinnerung so hell, dass er nicht wegsehen kann: das kleine, dunkle Loch im Rasen, nicht viel größer als der Kopf eines Erwachsenen und eine Urne, die herabgelassen wird. Georg friert und weint zum ersten Mal seit Elmas Tod. Dann nimmt er doch ihr dickes Federbett und deckt sich zu.
Es ist hell, als er erneut erwacht. Vom Bett aus kann er Eisblumen auf den Fensterscheiben sehen und hinter den Scheiben fällt Schnee in großen, dichten Flocken. Sein Atem bildet flüchtige Nebelwolken, aber unter Elmas dickem Federbett ist ihm warm. Seit ihrem Tod war mindestens einmal am Tag eines der Kinder vorbeigekommen, um nach ihm zu sehen, wie nach einem Dreijährigen, der allein im Garten spielte.
“Geht es dir gut?”
“Brauchst du irgendwas?”
“Du wirst doch keine Dummheiten machen?!”
Er schließt die Augen, atmet Elma ein, und hält sie in den Lungen. Eine warme Hand legt sich sanft auf seine Wange und Georg atmet aus, sagt leise: “Guten Morgen, meine Schöne!” Dann steht er auf, holt seinen Bademantel aus der Tasche. Im kleinen Wohnraum neben dem Schlafzimmer gewährt das schmale bodentiefe Fenster einen Ausblick Richtung Wald. Eine dicke, weiße Schicht liegt über der Welt und Stille umgibt das kleine Haus, eine Stille so tief, als wäre alle Zeit hineingefallen. Georg nimmt ein paar Scheite Kleinholz aus dem Korb, legt sie kreuzweise in den Ofen, der im Wohnraum steht, entzündet drei Röllchen Holzwolle und legt sie dazu. Als das Kleinholz brennt, fügt er drei Scheite Brennholz hinzu und bald ist es so warm, dass er seinen Bademantel auf das Sofa legt. In der Küche kocht er einen Kaffee und steckt zwei Haferkekse in die Tasche seines Schlafanzugs. Er setzt sich vor das Fenster in den Schaukelstuhl aus Rattangeflecht, in dem Elma so gern gelesen hat. Das Schaffell darin ist grau und verfilzt, aber weich. Er trinkt den Kaffee, isst die Kekse und schaut dem Schnee zu, wie er Zeit und Welt unter sich begräbt. Er hatte Stille gewollt, und er hat Stille bekommen.
Den ganzen Tag sitzt er schweigend da und wenn sie fragt, was ihm fehle, dann antwortet er nur: “Du! Du fehlst!” Hin und wieder legt er zwei Scheite Brennholz nach oder kocht einen Kaffee, zu dem er zwei Haferkekse isst. Als es dunkel wird, lässt er das Feuer herunterbrennen. Erst zieht er seinen Bademantel wieder über, dann holt er die Wolldecke vom Sofa und schließlich legt er sich ins Bett unter Elmas dicke Daunendecke, liegt lange wach und kann auch wieder weinen irgendwann. “Es geht nicht ohne dich!”, sagt er. “Nach 57 Jahren, wie soll das gehen ohne dich?”
Am nächsten Morgen schneit es noch immer. Er heizt den Ofen ein und isst im Schaukelstuhl zwei Haferkekse zum Kaffee. Das Brennholz in der Hütte wird bis zum Abend reichen, dann wird er das Feuer ausgehen lassen. Es wird kalt werden im Haus und wenn er friert, wird er rausgehen, sich unter den Apfelbaum in den Schnee legen, die Arme vor der Brust gefaltet, und warten. Vielleicht wird es aufhören zu schneien, vielleicht wird die Wolkendecke aufbrechen, vielleicht wird das letzte, was er sieht, der Sternenhimmel sein.
“Weißt du noch”, fragt sie, “als wir das erste Mal zusammen hier waren?”
“Du mochtest den Wald!”
Sie lacht. “Ich fand witzig, dass ihr immer Datsche sagtet.”
“Du warst die erste Frau, die ich mit hierher genommen habe. Da wussten meine Eltern, dass es was Ernstes ist!”
Es ist noch hell und im Haus ist es warm. Er legt zwei Scheite Brennholz nach, geht in die Küche, kocht einen Kaffee und steckt zwei Haferkekse in die Tasche seines Schlafanzugs, setzt sich wieder in den Schaukelstuhl und schaut der Schneedecke hinterm Fenster beim Wachsen zu.
“Wir hatten es gut!”, sagt er. “Wir hatten uns!”
“Ein paar Mal war es aber ganz schön knapp!”
“Das stimmt”, sagt er. “Besonders nach Andreas’ Geburt. Ich brauchte eine Weile, um zu akzeptieren, dass du die Kinder mehr liebst als mich.”
“So war es nicht!”
“Du hättest mich gegessen, um die Kinder zu retten.”
“Ich will nicht, dass du dich in den Schnee legst.”
Als es dämmert, wird sie still. Die letzten Scheite brennen herunter. Die Glut erhellt die Hütte, bis sie erlischt. Georg beginnt zu frieren, steht schließlich auf, öffnet die Tür und tritt in seinem Schlafanzug auf die kleine, überdachte Terrasse.
“Scheiße”, sagt er, zieht zischend Luft durch die Lippen und geht wieder rein.
Im Bett zieht er die Decke über den Kopf, weint und hält die Augen geschlossen. Er spürt Elma sich von hinten an ihn schmiegen, wagt nicht zu atmen und schläft ein.
Am nächsten Morgen fallen noch immer dicke Flocken. Die Schneedecke hinter dem bodentiefen Fenster reicht bis über Georgs Knie. Über den Bademantel hat er den Parka gezogen. So kocht er einen Kaffee, isst auf dem Sofa zwei Haferkekse dazu, die Wolldecke über die Beine gelegt.
“Das Brennholz ist alle”, sagt er. “Ich muss gar nicht rausgehen, um zu erfrieren. Mit meiner Hüfte schaffe ich es sowieso nicht durch den Schnee bis zum Schuppen. Und erst recht nicht zurück.”
“Es ist genug Holz im Haus”, sagt sie.
“Das Haus bleibt, wie es ist!”
Im Schlafanzug legt er sich aufs Bett, Bademantel und Parka hat er auf dem Sofa gelassen, Elmas Decke hat er sorgsam auf ihrer Bettseite hergerichtet. Er verschränkt die Hände hinterm Kopf und stellt sich vor, er läge draußen im Schnee und schaute in den asphaltgrauen Himmel. Am ganzen Körper hat er Gänsehaut, die Muskeln zittern, um sich selbst zu wärmen.
“Der Schrank ist aus Buchenholz”, hört er sie sagen.
“Selbst wenn”, sagt er, “den krieg ich doch nicht in den Ofen und die Säge ist im Schuppen.”
“Die Schubladen?”
Draußen fallen Schneeflocken vom Himmel. Was, wenn sie fallen, bis nichts anderes mehr sein wird als Weiß? Es gibt keinen anderen Ort, an dem er sein will, wenn die Zeit aus der Welt fällt.
“Du hast Recht”, sagt er, steht auf und nimmt zwei Schubladen mit in den Wohnraum. Das Kleinholz zündet er mit Holzwolle an, stellt zwei Bretter Buchenholz in die Flammen und lächelt, als sie zu lodern beginnen. Er ist hier mit Elma, während draußen die Welt versinkt.
“Weißt du noch …”, sagt sie. Er hat einen Kaffee gekocht, zwei Haferkekse in die Tasche seines Schlafanzugs gesteckt und sich wieder auf den Schaukelstuhl gesetzt.
“… wir waren hier schon einmal eingeschneit!”
“Jeden Tag habe ich Schnee geschippt wie ein Bekloppter.”
Sie lacht. “Es war toll mit uns; das, was wir hatten …”
“Ich habe Angst, dass es aufhört zu schneien.”
“Es wird wieder Sommer sein und du wirst mit Lorenz und Aike Fußball spielen und mit Lotta Hoppe-hoppe-Reiter. Sie wird auf deinem Schoß sitzen und sagen: “Mal Opa, mal Opa!”, und am Ende des Tages wirst du erschöpft sein. Und glücklich.”
“Das glaube ich nicht.”
“Darauf kommt es nicht an. Leg einfach noch ein bisschen Schublade nach!”
Er geht früh zu Bett, nimmt zwei Haferkekse mit, die er auf den Nachttisch legt. Am nächsten Morgen ist der Himmel blau, die Luft ganz klar bis hin zum Wald. Er atmet tief ein, hält die Luft in seinen Lungen und Elma in seinen Armen.
“Es ist okay. Du heizt den Ofen ein, der Rest wird sich finden.”
Er verfeuert die letzten Schubladen der Kommode, die Türen und Einlegeböden des Schranks sind zu groß, aber die Gartenstühle auf der Terrasse werden geeignetes Feuerholz sein. Er sitzt in Elmas Schaukelstuhl, tauscht Erinnerungen mit ihr aus und immer wieder atmet er tief ein, hält die Luft in den Lungen mit geschlossenen Augen. Manchmal hört er sie in der kleinen Küche werkeln, sie summt vor sich hin und wenn er einen Witz macht, dann lacht sie. Wenn ihn jemand fragte, was für ihn das schönste Geräusch auf der Welt sei, dann würde er sagen: “Elmas Lachen. Es ist vollmundig wie ein im Holzfass gereifter Wein mit einem leichten Keckern darin.”
Am Abend hört er ein Schneeräumfahrzeug bis ins Haus hinein wummern. Am nächsten Morgen ist der Himmel noch immer wolkenlos und die Sonne scheint ins kleine Haus. Am frühen Nachmittag dringen Stimmen von draußen bis zum Schaukelstuhl.
“Ist doch egal,” hört er seine Tochter sagen. “Schaufel einfach weiter! Wir sind doch fast da."
“Na, du hast gut reden." Das ist sein Ältester.
“Gib die blöde Schaufel einfach her!"
“Ob es ihm gut geht?”, hört er seinen Jüngsten fragen.
Georg geht ins Schlafzimmer, zieht den Schlafanzug aus, den er seit der ersten Nacht hier trägt, macht das Bett und packt die Tasche. Er stellt drei Tassen zu seiner auf die Küchenplatte, füllt alle mit gemahlenem Kaffee und setzt Wasser auf. Als das Wasser kocht, hört er die Kinder auf der Terrasse den Schnee von ihren Schuhen trampeln, gießt den Kaffee auf und öffnet die Tür.