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Damit das hier funktioniert
Er holt immer wieder aus, um mit der Faust in Richtung meines Gesichts zu schlagen. In seinem Blick stehen Entschlossenheit und gewaltiger Zorn. Ich versuche, beruhigend auf ihn einzureden, greife nach seinen Handgelenken und halte sie so fest wie nötig, ohne ihm weh zu tun. Linus will mich verletzen, daran besteht kein Zweifel. Wie sollte ich das nicht persönlich nehmen? Ich gebe ihm doch keinen Grund, seine Wut an mir auszulassen.
Im Kopf überschlage ich die Entfernung vom Park zur U-Bahn. Zwei Mal umsteigen. Gegen vier Uhr könnten wir zu Hause sein. Okay, jetzt heißt es abwarten, bis seine Wut verraucht ist und Linus sich entspannt. Ich stehe ein paar Schritte entfernt, dicht genug, um ihn wieder packen zu können, etwas zu weit weg, um ihm die verschwitzten hellblonden Haare aus der Stirn zu streichen. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn glitzern in der Oktobersonne. Linus schimpft vor sich hin, tritt immer wieder gegen einen der Parkmülleimer, was eine Frau im Vorbeigehen beobachtet. Sie schüttelt missbilligend den Kopf.
„Is‘ was?“, blaffe ich sie an. Sie ignoriert mich und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Soll sie doch denken, ich wäre unfähig, mein Kind zu erziehen.
Dabei war der Besuch im Technikmuseum genau sein Ding. Linus liebt es zu wissen, wie Sachen funktionieren, will deren Aufbau und Zusammenhänge verstehen. Als es vor einigen Wochen zu Hause verdächtig still war, erwischte ich ihn, wie er sämtliche Uhren und Wecker in deren Einzelteile zerlegte. So, wie er dort stand, mit roten Wangen und leuchtenden Augen, konnte ich ihm nicht böse sein. Bis auf die im Wohnzimmer bekamen wir gemeinsam alle Uhren wieder zum Laufen. Die Reaktionen von anderen Menschen und das Leben selbst laufen meistens nicht so ab, wie Linus es in seinem Plan definiert hat. Das war mir doch klar, als ich mit ihm in das brechend volle Museum ging. Und warum habe ich nicht auf die Zeichen geachtet?
Zwei ältere Jungs fahren mit ihren Rädern langsam an uns vorbei in Richtung Parkausgang. Ich sehe, dass Linus sie wahrnimmt und er deutlich weniger und leiser gegen den Abfallbehälter tritt. Das ist gut, er lässt sich schon ablenken. Wenn die beiden weg sind, werde ich versuchen, mit ihm zu reden und ihn in den Arm zu nehmen. Der Park ist bei dem schönen Wetter gut besucht. Betont entspannt setze ich mich auf eine Bank nicht weit von Linus, schaue in mein Buch und blättere ab und zu eine Seite um, ohne ein Wort gelesen zu haben, nur um die Blicke der Leute nicht zu sehen.
Nachdem wir zu Hause angekommen sind, schalte ich seine Lieblingscartoonserie an. Ich mache mir Vorwürfe, ihn überfordert zu haben, weil ich den richtigen Zeitpunkt zum Gehen verpasst habe. Jetzt wird eine weitere, negative Erfahrung in seinem kleinen Köpfchen abgespeichert. Um nicht vor Linus zu weinen, gehe ich ins Nebenzimmer, die Wäsche aufhängen, doch kann durch den verschwommenen Blick kaum die Wäscheklammern erkennen. Ich muss die Tränen wegblinzeln und mich sammeln, es ist Zeit für das Essen und die folgende abendliche Routine, in der alle Handgriffe schon mechanisch ablaufen. Heute ist Tag zwei von Christians dreitägiger Schulung in Hamburg. Die Kanzlei sehe großes Potential in ihm, betonte sein Chef. Als er anruft, um uns eine gute Nacht zu wünschen, erzählt Linus nichts von dem Streit im Park. Dabei scheint er es ihm nicht wissentlich zu verschweigen. Christian sagt, dass er uns um den schönen Ausflug beneidet. Dann fragt er, ob sonst alles in Ordnung sei. Ich weiß, dass er Linus Ausbrüche meint. Ja, ja, wir kommen schon klar.
Auch wenn ich abends völlig übermüdet in mein Bett falle, hasse ich das schnelle Einschlafen, weil der nächste Tag viel zu schnell kommt. Mit weit aufgerissenen Augen liege ich aufgedeckt da, schaue mich unruhig im Schlafzimmer um und versuche, so viel Zeit wie möglich bewusst zu erfassen, bis mich die Schwere überkommt.
Ich beobachte Linus am Morgen noch eine Weile, bevor ich ihn wecke und ins Bad manövriere. Er sieht zum Knutschen aus, wie er verschlafen in seinem Pyjama mit den vielen Krokodilen neben mir steht. Die kurzen Haare stehen in alle Richtungen ab, seine Hose schlackert ihm um die dünnen Beine. Gähnend schaut er hoch, unsere Blicke treffen sich im Spiegel.
„Mama, warum schminkst du dich an den Wimpern?“
„Dann sehen meine Augen schöner aus.“
„Ich finde, du siehst auch so schön aus.“
Am Nachmittag klingelt das Telefon. Sofort erkenne ich die Nummer von Linus Klassenlehrerin und nehme das Gespräch mit resignierter Gewissheit an.
„So geht es nicht weiter. Linus hat sich wieder im Gebüsch versteckt und sich geweigert, zurück in das Schulgebäude zu gehen. Dann wurde er leider handgreiflich. Auf Verhaltensauffälligkeiten nehmen wir Rücksicht. Aber Aggressivität gegenüber Lehrern und Erziehern können wir nicht dulden. Das müssen Sie verstehen!“
Seine Ausbrüche kommen in immer kürzeren Abständen. Jedes Mal rede ich mir den Mund fusselig, auch wenn nichts, was ich Linus erkläre oder vorbete, bei ihm anzukommen scheint. Klar verstehe ich, dass die Lehrer sein Schlagen und Treten nicht akzeptieren können. Doch sie sehen nicht, dass sein Verhalten keine Böswilligkeit ist. Er reagiert auf seine Umwelt.
Manchmal denke ich, es wäre leichter für uns, wenn Linus eine offensichtlichere Behinderung hätte. Die Menschen sind geduldiger und verständnisvoller, wenn sie einen kleinen Jungen im Rollstuhl sehen, als einen ihrer Meinung nach nur verzogenem Bengel. Die ständigen gut gemeinten Erziehungsratschläge anderer Eltern habe ich satt und meine Erklärungsversuche zu seiner Krankheit ermüden mich immer mehr. An guten Tagen wirkt Linus völlig normal, bis an einem, für Außenstehende unsichtbaren Punkt, sein Reiz-Fass überläuft.
Wegen den zunehmenden Vorfällen spricht seine Psychologin von einem Muster, das durchbrochen werden muss. Sie erklärt mir, dass, wenn Linus mit seiner Umgebung oder einer Situation nicht klarkomme, er ausbreche und darauf vertraue, dass ich ihn abhole. Ich hole ihn dann nach Hause in seinen sicheren Hafen. Um diesem Verhaltensmuster entgegenzuwirken, will sie Linus stationär in die Kinder- und Jugendpsychiatrie einweisen lassen. Der Griff um meinen Hals wird fester. Ein gut strukturiertes Umfeld soll helfen. Unweigerlich frage ich mich, was denn mit seinem häuslichen Umfeld nicht in Ordnung sein könnte.
Nach dem Gespräch renne ich zur Besuchertoilette, schaffe es gerade noch rechtzeitig, die Tür zu schließen und mich in Richtung Toilette zu drehen, bevor der erste Schwall aus mir herausbricht. Die Hand an der Wand neben der Spültaste abgestützt, warte ich, bis das Würgegefühl nachlässt. Die Fliesen kühlen meine Handinnenfläche. Auf wackligen Beinen drehe ich mich langsam zum Waschbecken um und spüle meinen Mund mit kaltem Wasser aus. Mein Rachen brennt. Ich lasse den Kopf hängen, kneife meine Augen zusammen, während aus meinem geöffneten Mund dünner, saurer Speichel tropft.
Als ich aus der Praxis in die kalte Novemberluft trete und sich mein Blick langsam klärt, sehe ich die Psychologin mit dem Rücken zu mir an der kleinen Raucherinsel stehen.
Das U-Bahnfahren im Stoßverkehr vermeiden wir - wenn möglich. Die vielen Reize überfordern Linus schnell. Aber wenn es nicht anders geht, lass ich ihn während der Fahrt zocken. Klar, registriere ich die abschätzigen Blicke, die Linus beobachten, wie er unaufhörlich, wie ein Wahnsinniger, mit seinem Zeigefinger auf das Handydisplay eindrischt, während ich neben ihm aus dem Fenster schaue und nur darauf warte, dass eine dieser perfekten Übermuttis etwas sagt.
„Fahren wir nachher auch mit der U-Bahn zurück?“
„Spatz, wir haben doch darüber gesprochen. Du bleibst eine Weile hier, damit die Ärzte schauen können, was dich so wütend macht. Sie helfen uns, damit es dir in der Schule besser geht. Nächsten Dienstag kommen Papa und ich dich besuchen.“ Linus blinzelt unaufhörlich, wirkt abwesend. Ich muss für uns beide tapfer sein, muss funktionieren, damit das hier funktioniert.
Sobald ich an Besuchertagen die große Eingangshalle der Klinik betrete, bekomme ich stechende Kopfschmerzen. Die Frau am Empfangstresen mustert mich. Ich spüre, dass sie mich alle hier mit prüfendem Blick beobachten. In den Gesprächen mit der Klinikpsychologin fühle ich mich zwiegespalten zwischen Hilfe dankbar annehmen und bockiger Verteidigungshaltung. Ich bin eine gute Mutter! Wem will und muss ich das eigentlich beweisen? Die auszufüllenden Formulare nehmen kein Ende. Wirklich alles scheint von Bedeutung zu sein. War das Kind geplant und verlief die Schwangerschaft problemlos? In welcher Beziehung stehen die Kindseltern zueinander? Seit wann ist das Kind nachts trocken? Bitte kreuzen Sie zutreffendes an. In meinem Kopf schwirrt alles. Was ist schiefgelaufen? Ich habe keinen Grund, mich bloßgestellt zu fühlen. Schließlich sind alle Kreuze an den für ein Kind optimalen Stellen.
Linus hat sich laut der Klinikpsychologin schnell und problemlos eingelebt. Er füge sich gut in den Klinikalltag ein und zeige sich in den Therapiesitzungen kooperativ. Ich schlucke mühsam die Tränen weg, wenn ich abends in sein leeres Bett sehe. Manchmal gebe ich mir diese Mühe nicht.
Die Lücke zwischen meinem Bett und dem Schlafzimmerfenster ist mit zerknüllten Taschentüchern bedeckt. Jeden Abend schmiere ich eine dicke Schicht Creme auf die wunden Stellen an Nase und Oberlippe. Die ständig geröteten Augen begründe ich gegenüber Freunden und Kollegen mit einer schweren, aber nicht ansteckenden Bindehautentzündung. Nein, ein Heuschnupfen wird es zu dieser Zeit wohl nicht sein. Im Augenwinkel merke ich, wie Christian mich beobachtet. Ständig fragt er, was er machen solle, damit es mir besser geht. Ich kann es ihm nicht sagen. Vielleicht bräuchte ich Hilfe. Ich? Ich komm schon zurecht. Linus braucht jetzt dringender Hilfe. Christian nimmt mich in den Arm. Aber es verbessert nichts.
Nach zehn Wochen wird Linus, mit guten Prognosen, aus der Klinik entlassen. Letzte Nacht hat es geschneit. Dick eingepackt stapfen wir über das Klinikgelände. Linus versucht, seine Schrittlänge an meine anzupassen, um seinen Schuhabdruck im Schnee direkt neben meinen zu setzten.
Inzwischen ist auch sein Wechsel an eine kleinere Schule mit Autismus-geschultem Personal geregelt. An seinen ersten Tagen in der neuen Schule liegt mein Telefon neben der PC-Tastatur. Jeder abgearbeiteten Mail folgt der Blick auf das Handydisplay.
Wenn er nachmittags nach Hause kommt, wirkt er ruhiger und wird mit jedem Tag selbstsicherer und entspannter. Auch die Rückmeldungen aus der Schule sind positiv.
Abends im Bad schneide ich mir neben ihm meine absplitternden Nägel so kurz, dass es fast weh tut. Draußen ist es stockdunkel. Doch die Tage werden schon wieder länger. Linus fingert fasziniert an der übervollen Haarbürste rum.
Vielleicht lass ich mir einen Stufenschnitt machen, damit niemand merkt, wie dünn mein Haar geworden ist.
„Krass. Aus den Haaren in deiner Bürste könnte man einen ganzen Pullover stricken!“
„Igitt. Wer will denn so was tragen?“
Er kichert und fängt an, sich die Zähne zu putzen. Seine Augen blicken unruhig im Bad umher, wie immer, wenn er über etwas nachgrübelt. Nachdem er ins Waschbecken ausgespuckt hat, wischt er sich mit dem Ärmel den Mund ab.
„Mama. Ich weiß jetzt, wie man das macht, wenn man die anderen Kinder noch nicht kennt, aber mitspielen will.“
„Was meinst du?“
„Na, man läuft immer neben den Kindern her. Und wenn sie springen, springt man auch und spielt neben denen. Und dann fragen sie, ob man mitspielen will.“
„Und? Hat es geklappt?“
„Ja.“
Lächelnd drücke ich ihm einen Kuss auf den Scheitel. „Nacht, Großer. Bin stolz auf dich!“
Er stellt die Zahnbürste zurück in das Glas und schlurft in sein Zimmer. Ich schaue ihm nach, stehe einen Moment einfach nur da. Ich glaube, ab jetzt kann es für Linus funktionieren. Dann schließe ich die Badezimmertür, zupfe meine Haarbürste aus und sehe dem Haarknäuel nach, wie es unter der Toilettenspülung verschwindet.