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Dachbodenträume
Dachbodenträume
Durch die Dachritzen drang nur wenig Licht bis zu seiner Kiste hinunter. Gerade deshalb hatte er die Kiste hierhergerückt. Ein kleines Stück vom Himmel sehen, aber trotzdem gut versteckt.
Nach einem letzten Zug drückte er die Kippe auf der alten Dachpfanne aus, die neben der Kiste lag. Der Rauch hing in seinen Lungen. Mit einer Hand kramte er schon in seiner Tasche nach den Kaugummis. Damit er nachher nichts riecht.
"Hast Du das verdammte Zeug jetzt weggeräumt?" Die Stimme klirrte ihm schon im Flur entgegen, als er die Wohnung betrat. Ja, er hatte Laub gefegt. Und es war in der Bio-Tonne. Ja, lass mich in Ruhe, ok?
"Was jetzt! Ey! Haste Deine Zunge verschluckt!" – "Ja, bin fertig." Er ging in die Küche und setzte den Kessel auf. Mit der Teetasse setzte er sich dann an die Hausaufgaben. "Ey! Bring mal ein Bier, ja?" Das Bier aus dem Kühlschrank, Flasche auf, zur Couch. "Na, endlich!"
Nach der Schule erst mal wieder hinauf. Jetzt ist er sicher schon wieder unten und wartet darauf, dass er nach Hause kommt. Aufs Essen. Auf ein Bier. Und noch eins. Und spätestens nach dem vierten wird er mies. Dann fliegt wieder die leere Flasche durchs Zimmer. Gestern hat sie ihn nur knapp verfehlt. Die Scherben hat er lieber schnell zusammengefegt. Das wär alles nie passiert, wenn Mama noch leben würde. Der häufigste Dachbodengedanke. Hier auf der Kiste mit Mamas Bildern und Pinseln.
Das Essen ist angebrannt, während er die Betten gemacht hat. Jetzt muss er sich wieder stundenlang was anhören. Jetzt fliegt wieder ein Teller vom Tisch. Diesmal bleibt er heil. Aber die Soße wird wohl einen Flecken hinterlassen auf der Tapete. Morgen, nach dem zweiten oder dritten Bier, dann, wenn er mal etwas mitbekommt, wird ihm der Fleck auffallen. Dann knallt es wieder.
Das Bier ist nicht kalt genug, kein Wodka mehr da. Doch, aber die falsche Sorte. Zählt nicht. Das ist der mit dem Lemon-Geschmack. Der ist zum Kotzen.
Morgen wird jemand ihn ansprechen. Auf das Auge. Dann muss ihm etwas einfallen. Aber was Neues, dieses Mal. Sonst fällt es irgendwann auf.
An der Tankstelle kriegt er wieder Probleme. Den Wodka nimmt der ältere Mann hinter der Kasse ihm weg. "Dafür bist Du zu jung." Wenn der wüsste, wozu ich nicht zu jung bin.
Als die beiden Motorradfahrer kommen, tanken und bezahlen, schleicht er schnell durch die Tür, mit der Flasche wieder raus und beruhigt sich damit, dass es sowas wie Notwehr ist. Zigaretten gibt’s am Automaten. Da hat er wenigstens kein Problem.
Diesmal nicht nach oben. Lieber gleich alles über sich ergehen lassen. Es hat ja sowieso schon viel zu lange gedauert, bis er den Wodka gekriegt hat.
Nicht, dass es was bringt. Aber es geht jedenfalls schnell. Die Flasche lenkt ab. Nein, er braucht kein Glas. Das ist was für Weicheier. So, wie immer.
Bier nach Bier. Die klirrende, nicht mehr klare Stimme in den Ohren. Im Bad sieht er in den Spiegel. Das Auge ist jetzt schon ziemlich dunkel angelaufen. Das wird schwer morgen. Das letzte ist noch gar nicht so lange her. Und das ausgerechnet heute. Auch, wenn er versucht, nicht dran zu denken, heute hätte er eben mal was anderes verdient. Beim Aufwachen hat er dran gedacht. Aber schon auf dem Weg zum Bad war klar, dass es kein besonderer Morgen war. Naja, schon einer war, aber keiner sein durfte.
"Ey, wo sind die Kippen!" Er hatte sie doch auf den Couchtisch gelegt. Einfach mal abwarten. Dann findet er sie schon. Er versucht, in den Spiegel zu lächeln. Aber mit dem Auge sieht das kläglich aus.
"Ey, rück raus! Oder haste se selbst gequalmt, eh?" Nein, sie liegen auf dem Tisch. Bestimmt. Und es ist auch die richtige Sorte. Es hilft nichts. Er muss suchen gehen. "Ich geb’s langsam auf mit Dir! Dass Du nie was auf die Reihe kriegst. Alles muss man selbst machen. Hastde denn gar nix gelernt von deinem alten Herrn, hä?"
Ach da. Vom Tisch gestoßen. Wahrscheinlich mit der Programmzeitschrift. Aber was soll’s. "Blödmann, auf dem Boden sollen die Teile echt nicht rumliegen. Dass Du auch nie..."
Er traut sich. Verlässt das Zimmer, bevor der Satz beendet ist. Was auch immer dabei rauskommt, wird er morgen sehen. Nicht mehr heute.
Die Kiste steht immer noch unter dem kleinen Spalt in den Dachpfannen. "Hi, Mama!" Er tastet sich in der Dunkelheit vor. "Magst Du mit mir feiern?" Seine Stimme ist nicht ganz fest. "Ich bin heut 14, weißt Du?" Unter seinem Pulli zieht er die Flasche heraus. "Magst Du mit mir anstoßen?"
[Beitrag editiert von: arc en ciel am 29.03.2002 um 16:44]