Da kommt noch mehr
Da kommt noch mehr
Es war einer dieser Tage an denen alles schief geht, an denen du zunächst wohl gelaunt aufstehst, aus dem Fenster schaust und dir der Anblick deines eisgepanzerten Autos sofort einige Prozent an Tatendrang abzieht. Der trotzige Rest führt dich kampfbereit ins Bad. Die Zahnpastatube ist leer, du erinnerst die abgenutzte Klinge des Nassrasierers und findest keinen Ersatz. Den Akku in deinem Reisetrockenrasierer hast du im letzten halben Jahr nicht aufgeladen, und das einzig verbliebene Blatt Toilettenpapier zerreißt beim Versuch es vom Kartonkern zu lösen.
Beim Öffnen des Kühlschrankes ereilt dich das nächste Minus. Die Margarine riecht ranzig, der Edamer zeigt leichte Schimmelspuren und der Rest an Marmelade ist zu einer schleimig, flüssigen Suppe mutiert. Im Wohnzimmer suchst du deinen Autoschlüssel.
Der überfließende Aschenbecher, das halbvolle Bierglas, die verstreuten Chipkrümel und die Zeitansage im Radio verursachen rebellische Reaktionen in deinem Magen. Mit dem Autoschlüssel und zwei verschiedenen Socken tappst du auf die weit und breit einzige, vereiste Pfütze, und dein Hinterteil macht schmerzhaft Bekanntschaft mit der Bordsteinkante.
Es war kein guter Start in den Tag, das heißt in die Nacht. Ich war auf dem Weg zur zwölf Stunden Schicht, von achtzehn Uhr bis sechs Uhr am folgenden Morgen. Verkrampft umschlossen meine vom Eiskratzen feuerrot gewordenen Finger das Lenkrad, und ich fühlte: Das war noch nicht alles, da kommt noch was!
Sehe ich einmal davon ab, dass ich tags zuvor zu faul gewesen war, eine Tankstelle anzufahren und dadurch nun ernsthaft in Zeitverzug geriet, trieb jeder Übervorsichtige, der sein Gefährt besser geschoben hätte, meinen Puls bedenklich in die Höhe. Als dann noch vor einer roten Ampel die Fahrzeuge vor mir auf der leicht ansteigenden Straße in alle Richtungen rutschten, war ich einem Herzinfarkt nahe.
Also raus in die Kälte und schieben. Schließlich hatte es auch der Letzte dank meiner Muskelkraft geschafft, da tat sich die Frage auf: Wer schiebt mich? Nicht einer der an der Bushaltestelle Wartenden war bereit mir zu helfen. Schließlich konnte ich den Schwarzen Peter an einen Taxifahrer weiterreichen, dem mein querstehendes Auto die Weiterfahrt versperrte.
Vor dem Museum angekommen, hatte wieder ein Mal ein rücksichtsloser Zeitgenosse den Behinderten Parkplatz in Beschlag genommen, und so stellte ich meinen Wagen etwas weiter in der Lieferanteneinfahrt des benachbarten Theaters ab. Schnell noch das Schild ‚SECURITY im Einsatz’ auf das Armaturenbrett gelegt, abschließen und endlich den Kollegen ablösen. Der quetschte zähneknirschend irgend etwas wie ein Hallo hervor, hob zum Abschied müde einen Arm, und ich war endlich allein.
Ein Blick auf die Uhr, ließ ein wenig Verständnis für das Verhalten meines Kollegen aufkommen, es war kurz vor neunzehn Uhr. Mein erster Kontrollanruf in der Sicherheitszentrale kam somit eine Stunde zu spät. Von der anderen Seite wurde ich mit einem beißenden ‚guten Morgen, Herr Mehringer!’ angegangen und erfuhr eine Belehrung zum Thema Pünktlichkeit im Allgemeinen und verantwortungsbewusstem Handeln von Sicherheitskräften im Besonderen. Gott sei Dank, begann der Tintenstrahldrucker zu rattern. Der Monitor der Alarmanlage bestätigte: Einbruch in Sektion zwölf! Das war bei der alten Anlage nichts Ungewöhnliches und auch nicht besorgniserregend, aber zumindest ein Grund, den Redefluss des Menschen in der Zentrale abzuwürgen.
Solcherlei Fehlalarme gab es mehrfach in der Nacht. So erledigte ich zunächst den erforderlichen Schreibkram und machte mich dann auf meinen ersten Kontrollgang. Seit acht Jahren versah ich meinen Dienst in diesem Museum, und konnte mich auch ohne Licht darin bewegen. Lediglich meine Taschenlampe half mir an den vielen Kontrollstellen den elektronischen Schlüssel richtig zu positionieren. Wie erwartet war in Sektion zwölf alles ruhig. Kurz bevor ich die Alarmanlage für diesen Sektor wieder scharf schalten wollte, verspürte ich das Verlangen die Toiletten aufzusuchen. Da in dieser Sektion das museumseigene Restaurant untergebracht und die Sanitäranlagen vom Feinsten waren, entschloss ich mich, dort meinem Drang nachzugeben. Unvermittelt war der Druck dann so stark geworden, dass ich bereits im Vorraum der Toiletten begann, meinen Hosenstall zu öffnen. Ich wusste, es würde nicht so leicht den Akteur der bevorstehenden Aktion ins rechte Licht zu stellen, da ich wegen der Kälte einiges angezogen hatte. Neben Unterhemd, T-Shirt, Oberhemd und Pullover auch eine über die normale Shorts gezogene, lange Unterhose. Meine Vorurteile gegen dergleichen Unterwäsche bestätigte sich nun, insbesondere, da ich sie verkehrt herum angezogen hatte. Also Pullover hoch, Gürtel auf, Knopf auf. Dank der Taschenlampe, die ich zwischen den Zähnen hielt, wurde die Szene ausreichend beleuchtet. Inzwischen war ich etwas ins Tänzeln geraten, da immer wieder etwas verrutschte und mein Vordringen vereitelte.
Ein Entsetzensschrei, der aus Richtung der Damentoilette kam, hätte beinahe ein weiteres Öffnen überflüssig gemacht. Bis ins Mark erschrocken drehte ich mich zur Seite und die Taschenlampe erhellte das entsetzte Gesicht einer Frau. Obwohl ich wusste, was ich sehen würde, blickte ich verwirrt zurück und an mir herab. Mit der rechten Hand entfernte ich blitzschnell die Taschenlampe zwischen meinen Zähnen, um gleichzeitig mit der Linken nach meiner Hose zu greifen. Wieder ein Blick zurück. Die Tür zum Damen WC war geschlossen.
„Ich bin die neue Kellnerin vom Restaurant“, hörte ich eine zaghafte Stimme, „Man hat mich hier eingeschlossen!“
„Alles klar!“, antwortete ich beruhigend, „ich bin der Wachmann. Moment bitte, ich ziehe mich nur schnell an.“
Überraschend schaltete sich die Deckenbeleuchtung ein, und die Zugangstür zum Sanitärbereich wurde aufgestoßen. Dort stand mit einem breiten Grinsen, der Sicherheitskontrolleur. Ich war unfähig mich zu bewegen. Mit einem mal, wie abgeschnitten, war das Grinsen aus dem Gesicht des Mannes verschwunden und seine Kinnlade klappte nach unten.
„Ich bin die neue Kellnerin vom Restaurant“, hörte ich hinter mir.