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Da hüpft die Oma aus dem Bett
„Ach, Kindchen, weißt du, deine Oma wird nicht alt“, sagte Erna, die im Bett lag, und seufzte. Erna wohnte bei Anne und ihren Eltern im Haus.
„Aber Oma! Du bist doch schon alt“, antwortete Anne. „Und außerdem sagst du das schon, so lange ich dich kenne. Mindestens hundertmillionen Jahre lang.“ Sanft streichelte Anne die blauen Äderchen auf Oma Ernas Hand, die auf der Bettdecke lag.
„Oma?“
„Ja, mein Kind?“
„Wie lange ist hundertmillionen Jahre?“
„Viel zu lange für deine alte Oma. Doch, doch, Kindchen, wirst schon sehen, es dauert nicht mehr lange, dann bin ich bei Opa Erich im Himmel.“
„Beim Fuchskerl?“, fragte Anne. „Oma, erzählst du mir die Geschichte vom Fuchskerl?“
„Aber die habe ich dir doch schon so oft erzählt, Kind. Mindestens hundertmillionen Mal schon!".
„Stimmt gar nicht!“, rief Anne. „Bitte, bitte, bitte, erzähle sie mir nur noch ein einziges Mal!“
Oma Erna seufzte, während Anne sich ein Stückchen Bettdecke über die Knie schob.
„Also gut. Früher, als ich noch jung und fesch war und keine Schmerzen bei jeder Bewegung hatte, da bin ich mit deinem Opa oft zum Wiesenwirt unten an der Ecke gegangen. Da war immer viel los, denn der hatte als einziger im Dorf einen Fernseher.“
„Aber da hast du nur alles grau gesehen, gell Oma?“
„Ja, Kindchen, damals gab es nur Schwarz-Weiß-Fernseher. Und man musste immer ein Fuchzgerl reinschmeißen, da konnte man dann ein paar Minuten lang fernsehen.“
„Oma, wie viel Geld war ein Fuchskerl?“
„Das Fuchzgerl waren fünfzig Pfennige, das war damals ganz schön viel Geld für uns. Und es war immer arg aufregend, wenn der Fernseher gerade an der spannendsten Stelle ausging, weil die Zeit abgelaufen war. Da hat dann jeder gejohlt und in seinen Taschen nach dem nächsten Fuchzgerl gesucht.“
„Und Opa hat den nächsten Fuchskerl reingeschmissen, gell Oma? Opa Erich war immer schneller als die anderen mit dem Fuchskerl reinschmeißen.“
„Ja, der Opa Erich war immer am schnellsten, weil er immer ganz vorn am Fernseher saß.“ Oma Erna seufzte. „Und jetzt sitzt er da oben, statt vor dem Fernseher, und schaut runter auf uns. Wirst schon sehen, Kind, dauert nicht mehr lange, dann bin ich auch da oben. Jaja, ich spüre es ganz genau, in jedem einzelnen Knochen spüre ich es.“
„Was spürst du denn da, Oma?“
„Ach, mein Kind, das ist arg schlimm für deine Oma. Da zwickt und zwackt und zieht es überall. Aber jetzt geh mal in die Küche und schau, ob das Abendbrot schon fertig ist.“
Anne stand auf und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte gerade zu ihren Eltern in die Küche gehen, da hörte sie, wie sich diese unterhielten. Über Oma Erna. Eigentlich wollte Anne gar nicht lauschen, so etwas tat man nicht, aber jetzt stand sie ja nun mal vor der Tür und wollte ihre Eltern nicht stören bei so einem wichtigen Gespräch.
„Deine Mutter war heute wieder sehr theatralisch“, hörte Anne ihre Mutter sagen.
„Ach, heute mal nicht melodramatisch?“, fragte ihr Vater.
„Das auch.“
„Das ist das gleiche“, sagte ihr Vater.
„Eben. Aber bei den Medikamenten, die sie nimmt, kann sie doch gar keine Schmerzen mehr haben. Diese Unmengen an Tabletten und Tropfen, die sie schluckt. Dass deine Mutter im Dunkeln nicht leuchtet, grenzt an ein Wunder. Die ist doch nur zu bequem zum Aufstehen und lässt sich bedienen.“
„Nun sei doch nicht so sarkastisch. So ist sie nun mal. Wer weiß, wie lange wir sie noch haben“, sagte Annes Vater.
„Na, hoffentlich nicht mehr allzu lange“, antwortete Annes Mutter.
„Inge, bitte! Das habe ich jetzt aber mal überhört!“
„Jaja, ich weiß, immerhin ist sie deine Mutter.“
„Eben.“
Schnell huschte Anne ins Wohnzimmer, bevor die Küchentür aufging.
„Anne“, rief ihre Mutter. „Bringst du der Oma bitte ihr Abendbrot?“
Anne nahm den Teller mit belegten Broten und öffnete die Tür zum Zimmer von Oma Erna.
„Oma“, flüsterte sie. „Oma, bist du wach?“
„Aber Kindchen, natürlich bin ich das. Bei den Schmerzen kann ja kein Mensch schlafen. Komm nur zu mir.“ Oma Erna klopfte mit ihrer Hand auf die Bettdecke. Anne setzte sich und hielt Oma Erna den Teller hin.
„Na endlich! Ich bin schon fast am Verhungern. Was ist das denn wieder für eine Pampe? Hat das deine Mutter gemacht? Kein Wunder, dass mein armer Andreas so dünn ist.“
„Oma?“
„Ja, mein Kind?“, nuschelte Oma mit vollen Backen.
„Was heißt tetarisch?“
„Tetarisch?“Oma hörte auf zu kauen und runzelte die Stirn. „Tetarisch …tetarisch. Warte, Kindchen, gleich habe ich es. Ach, das alte Hirn will auch nicht mehr so. Tetarisch … also nee, noch nie gehört. Hat das deine Mutter gesagt?“
Anne traute sich nicht zu nicken. Sie wollte ihre Mutter ja nicht verraten.
„Wenn das deine Mutter war, dann meinte sie bestimmt ´theatralisch´. Das ist doch ihr Lieblingswort. Neben ´melodramatisch´. Da hat sie bestimmt wieder über mich geredet.“
Oma Erna hielt Anne den leeren Teller hin.
„Ui, Oma, dass du noch so schnell essen kannst, wo dir doch die Zähne immer so weh tun.“
„Ach, mein Kind, wenn es nur das Gebiss wäre.“ Oma Erna sank in die Kissen zurück, seufzte wohlig und schloss die Augen. „Hach, im Bett ist es doch immer noch am schönsten.“
„Oma, du musst aufstehen und im Kreis laufen. Das sagt Mama auch immer, dass du kreislaufen musst, damit du in Schwingung kommst.“
„Ach, Kindchen. Bei deiner alten Oma bringt das Rumlaufen den Kreislauf auch nicht mehr in Schwung. Eher bekomme ich da wieder meine Schwindelanfälle. Und dicke Beine. Nein, nein, da bleib ich lieber mal schön im Bett.“
Anne stand auf und wollte gerade den leeren Teller in die Küche bringen, als sie draußen auf der Straße Gekicher hörte. Sie sah zum Fenster hinaus.
Oma Erna seufzte. „Jaja, ich spür´s genau, mit mir geht’s dem Ende zu. Was ist denn da draußen los, Kindchen? Wer lacht denn da so?“
„Das ist die alte Nachbarin von gegenüber mit ihrem Sohn.“
„Die Nachbarin. Ach, du meinst Margot, die alte Schreckschraube. Aber nie im Leben hat die einen Sohn. War ja nicht mal verheiratet. Hat keinen abgekriegt, so, wie die immer über ihre Krankheiten gejammert hat, die alte Hexe. Da hat ja jeder gleich Reißaus genommen.“
„Aber die muss einen Sohn haben“, sagte Anne. „Weil die steht ganz eng mit dem und gibt ihm lauter Gute-Nacht-Küsse.“
„Was! Oooch! Nein! Das kann nicht sein! Nie im Leben!“, rief Oma Erna, warf die Bettdecke von sich, sprang aus dem Bett und stand neben Anne, noch ehe die Bettdecke zurückgesunken war. „Die alte Hexe ist doch mindestens zehn Jahre älter als ich, wenn nicht noch mehr! Und viel hässlicher! Was will die denn mit einem Liebhaber! Und noch dazu so einem jungen!“
Anne bekam große Augen und sah ihre Oma ehrfürchtig an.
„Ui, Oma. Jetzt warst du ja schneller aus dem Bett als ich am Geburtstag! Die Margot muss aber wirklich eine mächtige alte Hexenschreckschraube sein, so schnell wie die dich gesund gehext hat! Jetzt kannst du mal schön im Kreis laufen, wo du doch schon mal stehst, damit die Schwingungen kommen. Oma, was ist ein Liebhaber?“