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Cuauhtémoc

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04.03.2018
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Cuauhtémoc

Cuau kniet auf dem Vorderdeck, neben sich den Eimer mit Seifenlauge und wischt über das glänzende Teak mit den schwarzen Fugen. Zum dritten Mal schon, weil er nur bezahlt wird, wenn er arbeitet.
Ein hartes Klacken lässt ihn zusammenfahren. Direkt neben ihm hüpft ein Eiswürfel über das Deck und kommt an der Bordwand zu liegen. Ein Ausruf des Bedauerns weht vom Brückenaufbau herunter. Cuau hört weg, taucht den Lappen ein, wringt ihn aus und wienert das Deck, stoisch, als wäre nichts gewesen.
Der nächste Eiswürfel landet mit einem Klatschen auf seinem nackten Rücken, mittig zwischen den Schultern. Cuau zuckt, atmet stoßweise, dreht sich um, sein Gesicht eine versteinerte Maske, die Augen starr. Blut rauscht durch die Schläfen. Dort wo er herkommt, würde der Jefe dafür sterben. Mühsam schluckt er seinen Zorn herunter. „Si?“ Die Stimme rau.
„He, Cucaracha, bring mal Nachschub, wir verdursten.“ Der Jefe steht an der Kante der Flybridge und wackelt mit einem leeren Cocktailglas. Sein feister Bauch lugt aus dem offenen türkisen Hawaiihemd. Wie ein rosiger Schildkrötenpanzer wölbt er sich über die gebogene Glasschürze des Steuerstandes. Der unnatürlich nach außen gestülpte Bauchnabel ragt in hellerem Rosa aus dem Sonnenbrand. Die anderen Drei scheinen daran keinen Anstoß zu nehmen. Eine Sonnenreflexion scheint durch seinen dünnen, flachsblonden Haarschopf, der durch einige Haare vom Hinterkopf zahlenmäßig unterstützt wird. Das hat ihm Carlos unter der Hand erzählt, zusammen mit der eindringlichen Warnung, das gegenüber dem Jefe auf keinen Fall zu erwähnen.
Alles nur, um jünger zu wirken, denkt Cuau und schüttelt den Kopf. Dort, wo er herkommt, schätzen und achten sie die Alten und niemand versucht, jünger auszusehen. Niemand lässt sich dort Haare auf dem Kopf umpflanzen. Abgesehen von dem vielen Geld, das sie nicht haben, würde keiner der Mazatecos auf solch eine verrückte Idee kommen.

Cuau verschwindet unter Deck, um die Drinks zu mixen. Mit einem Seitenblick checkt er die Fenster. Durch die Bullaugen ist niemand zu sehen, nur gleißendes karibisches Meer. Er stellt vier Gläser in Reihe und spuckt in das erste. Verteilt Limettenspalten, die er mit dem Stößel zerquetscht, füllt mit Rohrzucker, Eis und zuletzt Cachaça auf. Oben auf der Flybridge reicht er die Gläser so, dass der Jefe nach dem einen Glas greift, das er für ihn präpariert hat. Er schaut zu, wie sie den ersten Schluck nehmen.
„Du darfst wegtreten, Cu … ca … ra … cha“, skandiert der aufgedunsene Fettwanst und wischt mit seiner Hand durch die Luft, als wolle er ihn von Bord fegen. In der Falte seines Mundwinkels klebt ein eingetrocknetes Rinnsal Burgersoße vom Lunch.
Wortlos sammelt Cuau die leeren Gläser der letzten Runde ein. Mit Tablett in der Hand geht er die kurze Treppe hinunter. Sobald es niemand mehr sehen kann, stiehlt sich ein flüchtiges Grinsen in sein Gesicht.
Noch nie hat ihn das fette Chancho ihn bei seinem richtigen Namen genannt. Noch nie hat der ihn angesehen, ihm die Hand gereicht oder nach seinem Befinden gefragt – obwohl er oft an Bord ist. Wenn er vor ihm steht, schauen seine kleinen Äuglein demonstrativ in die Luft, als wollte er zeigen, welch niedriges Gewürm vor ihm kriecht. Doch so schlimm wie heute war es noch nie.
Cuau erklärt das mit den beiden jungen Frauen an Bord und den Mengen an Alkohol, die alle vier schon konsumiert haben. Nur Logan, der Skipper und Kumpel vom Jefe, gibt sich zurückhaltender.

All das nimmt Cuau hin, denn er denkt nur an die kleinen Scheine, die ihm Carlos heute Abend in die Hand drückt – nach Abzweigen der Provision für die Vermittlung. Zwanzig Dollar bleiben Cuau nach zwölf Stunden an Deck.
Er kann gut damit leben. Die Arbeit ist nicht anstrengend. Verglichen mit der Hölle von Ciudad de México, seiner letzten Station, ist das hier der reinste Vergnügungspark. Und er darin das Mädchen für alles. Die Vorstellung zaubert ihm ein bitteres Lächeln in sein Gesicht.
In der komfortablen Küchenzeile unter Deck spült er die Gläser weg und räumt die Reste in den Müll. „Alles easy“, wie Carlos immer sagt. „Alles easy.“ Meistens hat er damit recht, heute nicht. Der Jefe ist mies drauf.

„Cucaracha!“ Mit schwerer Zunge ruft die Tortuga nach ihm. Nach wenigen Sekunden gespannter Ruhe noch einmal, diesmal fordernder: „Cu … ca … ra … cha!“
Er hängt das Trockentuch auf, lässt so viel Zeit verstreichen, wie er meint, erklären zu können, und steigt hoch an Deck. Oben auf dem Treppenabsatz drängen sich die beiden blassen Blondinen giggelnd an ihm vorbei, hinunter zur Plattform am Heck. Cuau hält sie nicht auf, obwohl er weiß, dass sie in ihrem Zustand nicht schwimmen sollten. Andererseits dümpelt die Providence in seichten Gewässern und ruhiger See. Sie liegen vor Anker, die beiden durstigen Motoren sind abgeschaltet.
„Todo bien“, sagt Cuau leise und dreht sich zur Flybridge. „Todo bien.“
„Hey, Rothaut, halt sie im Auge, klar?“ Wieder die Ansage der rosa Schildkröte. Cuau nickt stumm und folgt den Frauen runter zur Heckplattform. Dort lehnt er sich an den schrägen Rumpf und lässt den Blick scheinbar teilnahmslos über das Wasser streifen. Er fischt eine Zigarette aus seinen Shorts und steckt sie an. Aufpassen gefällt ihm. Leicht verdientes Geld.

Die Mädchen lassen ihre Sarongs fallen und springen ins Wasser. Dort geht die kindische Giggelei weiter. Ihre neonfarbenen Bikinis leuchten knapp unter der Oberfläche wie Korallenfische. Cuau empfindet keine Erregung beim Anblick der halbnackten Mädchen. Unauffällig spuckt er bräunliche Tabakreste ins Wasser. Obwohl sie in seinem Alter sind, reizen sie ihn nicht. Ihnen fehlt alles, was er an Frauen schätzt: Stärke, Wildheit, Temperament.
Es dauert keine Minute, bis die kleinere der beiden anfängt zu quieken. Ein roter Arm schnellt aus dem Wasser und die Lautstärke steigert sich zu panischem Kreischen. Ohne zu überlegen, schnippt Cuau die Zigarette weg und springt ins Wasser. Auf dem Weg zu den Mädchen sieht er, dass das Wasser mit kleinen transparenten Quallen durchsetzt ist.
„Mierda!“ entfährt es ihm. Ein Bruch der Regeln, es ist ihm egal. Auf dem Rückweg zum Schiff verbrennt sich Cuau mehrfach an den Nesselfäden. Indem er vorneweg schwimmt und versucht, die Quallen wegzuwedeln, macht er den Weg frei. Immer wieder zuckt er zusammen. Die Flüche, die er zwischen seinen Zähnen herauszischt, werden mit jedem Mal schärfer. Ohne weitere Verletzungen schafft er in seinem Schlepptau die beiden Mädchen zum Schiff zurück.
Der Jefe und sein Kumpel Logan beobachten das Geschehen teilnahmslos von der Flybridge. Cuau weiß, von ihnen ist keine Hilfe zu erwarten.

Er nimmt die Kleine mit in die Bordküche, behandelt ihre Verletzung mit Essig. Dann schickt er sie weg und kümmert sich um seine Blessuren. Mit einem scharfen Messer schabt er vorsichtig einen Tentakelrest vom Unterarm. Die Striemen brennen wie Feuer.
„Cucaracha ... cha ... cha!“ Diesmal leicht singend, doch nicht weniger durchdringend.
„Hijo de puta“, flucht Cuau so leise er aushält. Einatmen. Ausatmen. „Bin verletzt“, ruft er durch die offene Kabinentür. Ein dunkles, ersticktes Lachen von oben.
Wieder ruft der Jefe, ungeduldig und bohrend.
„Mierda!“ Cuau verreibt schnell eine Handvoll Essig auf die Striemen und setzt sich fluchend in Bewegung.
Oben angekommen, fühlt er vier Augenpaare auf sich gerichtet. Die Frauen schlagen jedoch schnell die Augen nieder. Die kleine Blondine hält sich den linken Arm und schaut verheult drein. Beide sind wieder in Sarongs gewickelt.
„Cucaracha, die Ladies möchten, dass du für sie tanzt. Zur Unterhaltung, weißt du. Regentanz oder sowas, irgendwas Indianisches halt.“ Kein Wort des Dankes, keine menschliche Regung. Damit lässt er ihn stehen und klatscht zur Anfeuerung ein paar Mal in die Hände, wie er es in einem Puff zuhause in Miami auch machen würde. Sein Skipper-Kumpel Logan klatscht mit, lässt die Muskeln spielen und grinst zu ihm herüber. Er kennt das Spiel.
Der Jefe legt der Blondine, die bis dahin unversehrt geblieben ist, seine schwitzige Pranke aufs Knie und schaut aus kleinen Äuglein. Das Mädchen wagt nicht, die tellergroße Hand wegzuschieben. Verstört blickt sie zu Cuau. Ihre Zähne schlagen leise aufeinander.

Bisher hat Cuau immer weggeschaut und weggehört, ohne dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Er versteht die Gringos nicht, sie denken anders. Doch gerade ist etwas passiert, er kann es spüren. Unaufhaltsam. Etwas hat die Rädchen in seinem Kopf in Gang gesetzt. Vielleicht der Blick der jungen Frau, vielleicht das beißende Gift in seinem Arm, vielleicht das Grinsen des Skippers. Oder die Mischung aus allem.
Cuau fasst einen Entschluss. Einen, der ihn den Job bei Carlos kosten kann, doch er hat genug. Das Einzige, was er sieht, ist die Schildkröte. Er wird die Tortuga zwingen, zu verstehen!
Der Indio gibt den Indianer. Er heult wie ein Wolf und läuft albern zappelnd im Kreis. Von seinen nassen Shorts tropfen feine Fäden aus Meerwasser aufs Deck. Schon nach der ersten Runde liegen die Männer flach an Deck und klopfen sich die Schenkel. Beide Frauen schauen still auf den Boden.
„Cucaracha, das ist großartig, wirklich. Damit musst du in den Zirkus, oder – noch besser – in den Zoo.“
Cuau ballt kurz die Fäuste, bis die Knöchel weiß sind, das Gesicht eine grinsende Maske. Dahinter denkt er nur an die getrockneten Pilze, die in seinem Rucksack unter Deck warten. Er weiß, der Schamane würde es absegnen.
Beim nächsten Mixen der Drinks hackt er die Pilze. In die kleine Schale gießt er heißes Wasser, bis sie gerade eben bedeckt sind. Während er die fertigen Caipirinhas nach oben bringt, beginnen die Pilze zu quellen. Beim Dinner wird er sie auf dem Sandwich vom Jefe servieren. Mit Bacon, Eiern und viel Mayonnaise. Schön scharf gewürzt mit Jalapeños, nach denen der Boss immer verlangt. Noch eine gute Stunde. Cuau kauert sich in eine Ecke vom Unterdeck. Die Quallenstiche brennen wie Höllenfeuer. Sonne und Mond tauschen die Plätze.

Punkt sieben Uhr bringt er die Sandwiches auf das Oberdeck. Es dauert nicht lange, bis der Jefe das Reden einstellt und beginnt, laut zu seufzen. Speichel läuft aus dem Mundwinkel, der Blick wandert in die Ferne. Die anderen sind zu betrunken, um seinen Zustand zu bemerken, und Cuau tut einiges dafür, sie abzulenken. Ein weiteres Mal gibt er den Indianer und tanzt wie wild mit den Armen rudernd. Dann beginnt Cuau damit, Sprüche des Schamanen in der Sprache seiner Ahnen leise aufzusagen und vor dem Gesicht des Chancho beschwörende Gesten zu vollziehen. Er sieht im Licht der Laterne die vergrößerten Pupillen. Das Nervengift wirkt.
Der Jefe stammelt jetzt undeutlich. Seine Stimme wird laut und lauter, doch niemand versteht, was er sagt. Er schlägt mit den Armen in die Luft, um das Wesen zu vertreiben, das er sieht.
Cuau bleibt knapp außerhalb seiner Reichweite und hört nicht auf, in der Sprache der Alten zu reden. Er weiß, was sich vor ihm abspielt. Immer wieder spricht er seinen richtigen Namen.
Mit den Armen imitiert er Flugbewegungen, nickt ruckartig mit dem Kopf, als würde er nach ihm hacken, und lässt den Jefe nicht mehr aus den Augen. Und so wundert er sich als einziger nicht, als die Schildkröte aufsteht und zur Reling wackelt. Um sich zu übergeben, denken alle – bis auf Cuau, der es besser weiß. Noch einmal zischt er ihm seinen Namen hinterher. So laut, dass der Jefe es gerade noch hört.

Anstatt seinen Mageninhalt dem Meer anzuvertrauen, steigt der Jefe auf die Reling, hebt beide Arme rudernd in den Himmel und ruft ein einziges Mal laut und verständlich: „Cuauhtémoc.“
Bevor jemand auch nur aufstehen kann, lässt er sich fallen und landet mit dem Kopf voran im Quallenpool. Die Nesselfäden, mit denen seine ungeschützten Hautpartien – insbesondere Schildkrötenbauch und Gesicht – in Kontakt kommen, nutzten die Einladung, in Windeseile das giftige Sekret aus ihren Nesselkapseln in die Haut zu katapultieren. Der Jefe brüllt, als würde ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Immer wieder werden die Schreie vom Wasser zu einem hässlichen Gurgeln erstickt.
Der Skipper wirft einen rotweißen Ring in die Richtung und versucht, ihn durch laute Rufe zur Heckplattform zu dirigieren, beides ohne Erfolg, doch mehr kann er nicht tun. Der blonde Schopf tanzt im Mondlicht seinen einsamen Totentanz auf dem Meer. Vom Schiff aus ist nur noch vereinzelt Strampeln vernehmbar, bis auch das leiser wird.

 

Hi linktofink,

ich bin’s nochmal ganz kurz.

sowas wie Loyalität kannst du von Cuau nicht erwarten
Never! Da hast du mich falsch verstanden, es bezog sich nur auf das Wort „Boss“, welches nach meinem Empfinden bei demjenigen, der es benutzt, irgendwie Loyalität und Achtung mitschwingen lässt – und gerade deshalb finde ich es ja nicht so passend …

Alternativen wäre "jefe" oder "jefazo" oder ev. "Tortuga". Werde ich in Betracht ziehen, was meinst du?
Würde ich in der Tat alles besser finden, Tortuga eigentlich besonders gut – aber du bist der Boss! :D

Ich meine, dass eine ausführlichere Vorstellung der Passagiere die Story stoppen würde, deshalb habe ich es in einem Halbsatz erwähnt. Später werden sie noch beiläufig dazugeholt
Könnte man ja auch gleich zu Beginn beiläufig einführen, ohne die Story zu stoppen - einfach, damit man weiß, es sind zwei Mädels und ein Freund von diesem Boss, und nicht z.B. drei Kollegen von Cuau oder drei Eskimos … ;)

Keinen Anstoß nehmen sie an der Schamlosigkeit, die Cuau sehr wohl stört.
Ja, das denke ich mir, dass Cuau das stört, aber die anderen sind ja mit diesem Typen befreundet, bzw. werden von ihm ausgehalten – die nehmen ihn doch so in Kauf, wie er sich benimmt - das würde mich wundern, wenn die jetzt plötzlich anfangen würden, sich über ihn aufzuregen.

Viele Grüße von Raindog

 
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Hej @Raindog und @Manlio,

habt bitte nicht den Eindruck, eure Anmerkungen wären mir egal. In der Woche habe ich nur leider für intensive Textarbeit selten noch Körner übrig. Also am WE geht´s weiter.

Liebe Grüße, linktofink


Tach @hell,

bin ziemlich im Arsch, also nur kurz Folgendes:

Du bedienst meinen "oberflächlichen" Gerechtigkeitswunsch, indem du den Boss für seine Bösartigkeit und "Dekadenz" leiden lässt und bestrafst. Mehr nicht. Wenn dir das reichen sollte, passt das schon.
Die Frage sollte doch sein: Ist das, was geschieht, legitim? Müsste ich über meine Zustimmung nicht erschrecken? Da wollte ich hin. Ist leider nicht angekommen.

Der Rest muss bis zum WE warten, sei versichert, ich werde mich damit beschäftigen. Ich hab deinen comment gelesen und möchte mich sehr herzlich bei Dir bedanken. Du hast einen hohen Aufwand betrieben. Die Story und ich können und werden davon profitieren.

Peace, Linktofink

PS. wie findest du den neuen Boyle?

 
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Hallo linktofink

Die Frage sollte doch sein: Ist das, was geschieht, legitim? Müsste ich über meine Zustimmung nicht erschrecken? Da wollte ich hin.

Etwas Ähnliches hast du auch in deiner Antwort auf meinen Kommentar geschrieben. Ich finde das einen sehr spannenenden Punkt, ich hab da auch kein Rezept, aber vielleicht helfen dir meine Gedanken zur Sache.

Mich erinnert das ein wenig an die Diskussion um Filme, die als gewaltverherrlichend bezeichnet und dann damit verteidigt werden, dass gerade die Faszination an der Gewalt den Zuschauer dazu bringen sollte, kritisch über das Gezeigte nachzudenken, sich Fragen zu stellen, auch die eigene Rezeptionshaltung zu reflektieren.

Den letzten Punkt finde ich gerade bei einer Rachegeschichte besonders relevant. Denn diese Befriedigung, die man empfindet, wenn der Böse stirbt, stellt sich ja beinahe unweigerlich ein, wenn ein Text/Film gut gemacht ist - auch wenn man das auf einer intellektuellen Ebene gar nicht möchte. Der Bösewicht soll nicht niedergemetzelt, sondern vor ein Gericht gestellt werden und dort einen fairen Prozess erhalten, sagt der Verstand. Und dein Protagonist müsste kündigen und / oder juristische Schritte einleiten. (Was als Geschichte natürlich deutlich langweiliger wäre)

Also, auf einer abstrakten Ebene hat dein Text natürlich schon das Potential, Gedanken über die Legitimität der gezeigten Handlungen und über die Rezeptionshaltung des Lesers zu ermöglichen.

Ich verwende bewusst den Begriff "ermöglichen". Denn der Text, behaupte ich jetzt mal als These, regt nicht dazu an, bzw. die kritische Auseinandersetzung ist dem Text nicht immanent. Um den Vergleich mit dem gewaltverherrlichenden Film zu ziehen: Wenn dort gezeigt wird, wie z.B. Frauen geschlachtet und verspiesen werden, kann man anschliessend schon kritisch über männliche Phantasien, die Frauen zu Objekten machen, nachdenken, aber das ist wiederum dem Film nicht immanent. Der Film selbst macht es nicht zum Thema, das Gezeigte wird in der nachträglichen Reflexion bloss zum Thema.

Ich denke, damit die Sache wirklich zum Thema einer Geschichte werden kann, müsstest du Brüche einbauen, Irritationen, die den Leser aus dem "Flow" des Genusses hinauskatapultieren. Wie man das macht? Keine Ahnung. Aber mir fällt, wiederum den Vergleich zur Gewaltthematik ziehend, A Clockwork Orange ein, wo Kubrick variiert. Zum Teil sehr direkte, gnadenlose Szenen, z.B. wenn ein Obdachloser verprügelt wird. Dann Slow Motion, Schlägereien, die choreographiert werden, wie ein Ballett wirken, die klassische Musik, die Grausamkeiten zynisch untermalt. Durch diese künstlerischen Verfremdungseffekte, Abweichungen von einem bloss naturalistischen Darstellen von Gewalt, wird dem Zuschauer sofort klar, dass Gewalt (und staatliche Gegengewalt) thematisiert und nicht bloss zur Schau gestellt wird. In der Literatur müsste man ähnliche Mittel finden. (Sorry, dass ich den Umweg über den Film gehe. Das liegt daran, dass ich das Buch nicht gelesen habe. :))

Was mir bei deinem Text zudem auffällt, ist, dass du im ersten Teil sehr eindringlich und realistisch die Grausamkeit der Erniedrigung darstellst, den Akt der Rache allerdings eher verharmlost. (Mit den Armen "rudern", "strampeln", vor allem der blonde Schopf, der im Mondlicht tanzt) Wenn du - nur so als Idee - das Genüssliche aus dem Ende herausnimmst, und durch ein qualvolles Ertrinken ersetzt, japsen, Wasser spucken, um Hilfe schreien: Das würde sicher anders wirken und dem Leser Zeit geben, neben Befriedigung nun doch auch Abscheu, Mitleid zu empfinden - und aus diesen widersprüchlichen Empfindungen heraus mit dem Nachdenken zu beginnen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hey linktofink,


Die Frage sollte doch sein: Ist das, was geschieht, legitim? Müsste ich über meine Zustimmung nicht erschrecken? Da wollte ich hin.
Die Intention habe ich nicht rausgelesen - kann natürlich auch an mir liegen, klar.
Gewalt wird in den unterschiedlichsten Medien halt recht inflationär verwendet, was sicherlich auch gewisse Abstumpfungserscheinungen erklärt. Also, vermutlich müsstest du (heutzutage) 'ne Schippe drauflegen - dieser bizarre Weg wird zuweilen ja eingeschlagen (und ich bin da kein Freund von). So nach dem Motto: Okay, krass!, also dass der den Boss gleich häuten muss, ihm den Bauch aufschlitzt und das herausquellende Gedärm den Haien zum Fraß vorwirft, ist mir jetzt doch too much, das hat der dann doch nicht verdient. Dass Rache (vom Gefühl her) erst wünschenswert erscheint, könnte dann halt sauer aufstoßen.
Oder du nimmst das Schwarz-Weiße heraus - dieses Gut vs. Böse, Herrscher vs. Knecht, guter Cowboy vs. böse Rothaut -, färbst die Figuren eben grauer ein, gibst beiden helle und dunkle Facetten. Wäre die Hexe nicht nur Hexe, würde ich mir wohl nicht die Hände reiben, weil sie im Ofen vor sich hin brutzelt.
Eine weitere Möglichkeit wäre vielleicht noch, wenn du die Bunnies durch mutterlose (von mir aus auch verzogenen) Töchter ersetzen würdest. Dann würde so mancher Leser wohl weniger befriedigt mit der Schulter zucken und denken: Jo, ein Schwein weniger auf der Welt. Dass der nicht mehr ist, verbuche ich mal als Haben auf dem Konto.

Ansonsten hat Peeperkorn ja schon einiges geschrieben, dem ich absolut zustimmen würde.


Gruß


hell


PS: Boyle kann ich fast immer lesen. Zwei, drei Stories fand ich herausragend; zwei, drei weitere eher durchschnittlich bzw. weniger gut. Bin aber noch nicht ganz durch. Empfehlenswert finde ich ihn aber selbst dann, wenn er mal enttäuscht ;).

 
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Hei linktofink,

zu deiner Frage mag ich auch kurz was sagen: Ich lese den Text so, wie ich einen Django-Film gucken würde, also im Sinne einer poetic justice, die nicht unbedingt realistisch ist und schon gar nicht eine Haltung bez. der realen Welt dazu erforderte.

Das Thema 'Gewalt in Fiktion' *) ist extrem vielschichtig und nicht so einfach über's Knie zu brechen. Seit den 1940ern wird verzweifelt versucht, zu belegen, dass fiktive Gewalt zu realer führt. Das ist bis jetzt nicht gelungen. Eine einzige Studie (mit offenem Ausgang, mit Konsumenten aller möglichen Genres, veröffentlicht Dez 2017) konnte zum allerersten Mal eine Verbindung zwischen Konsum von Fiktion und Verhalten in der Realität nachweisen: Es gibt nur eine einzige Gruppe, die sich auffallend abweichend verhält - Konsumenten von Soap Operas und Reality Shows zeigen ein im Vergleich zu allen anderen um 50% verringertes Empathie-Empfinden und eine um 70% verringerte Bereitschaft, sich in gemeinnnützigem / helfendem Ehrenamt zu engagieren. Mahlzeit!

Und es gibt nur eine Art von Fiktion, die immer ausgeklammert wird, aber nachweislich tatsächlich zu realer Gewalt (Folter & Mord) führt, und das sind die Schriften der abrahamistischen Religionen, allen voran das Christentum und der Islam. Mach dir also keine Sorgen um deinen geopferten Boss hier, alles im moralisch Grünen Bereich.

*) Über gerade diesen Text eine Diskussion dazu anzufangen, finde ich - gemessen an dem, was darin wie beschrieben wird - eh unpassend. Als ob man das mit aller Gewalt (no pun intended!) an jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf's Tapet bringen müsste. Das ist eine unliterarische Debatte und schadet Texten mehr, als dass sie ihnen nützt.

Ich schließe mich übrigens hell an: weniger witzig und dafür härter wäre das Ende runder. Wenn schon, denn schon.

:gelb: Liebe Grüße, Katla

P.S. Hatte ich die ganze Zeit vergessen: Bei Seifenlauge sagt man 'mild' (oder 'scharf'), das ist mAn ein feststehender Begriff.

 
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Peeperkorn

Was mir bei deinem Text zudem auffällt, ist, dass du im ersten Teil sehr eindringlich und realistisch die Grausamkeit der Erniedrigung darstellst, den Akt der Rache allerdings eher verharmlost. (Mit den Armen "rudern", "strampeln", vor allem der blonde Schopf, der im Mondlicht tanzt) Wenn du - nur so als Idee - das Genüssliche aus dem Ende herausnimmst, und durch ein qualvolles Ertrinken ersetzt, japsen, Wasser spucken, um Hilfe schreien: Das würde sicher anders wirken und dem Leser Zeit geben, neben Befriedigung nun doch auch Abscheu, Mitleid zu empfinden - und aus diesen widersprüchlichen Empfindungen heraus mit dem Nachdenken zu beginnen.

Ok, vielen dank für die Anregung. Dieses Rädchen zu drehen, macht vermutlich Sinn und ist umsetzbar, ohne die Story auf den Kopf zu stellen. Werde mich mal dransetzen.

hell

Hab den Text unter Berücksichtigung deiner vielen Anmerkungen gestern Abend überarbeitet. Es ist zuviel, um es einzeln durchzugehen, aber du wirst es sehen, wenn du vergleichst.

Oder du nimmst das Schwarz-Weiße heraus - dieses Gut vs. Böse, Herrscher vs. Knecht, guter Cowboy vs. böse Rothaut -, färbst die Figuren eben grauer ein, gibst beiden helle und dunkle Facetten. Wäre die Hexe nicht nur Hexe, würde ich mir wohl nicht die Hände reiben, weil sie im Ofen vor sich hin brutzelt.
Eine weitere Möglichkeit wäre vielleicht noch, wenn du die Bunnies durch mutterlose (von mir aus auch verzogenen) Töchter ersetzen würdest. Dann würde so mancher Leser wohl weniger befriedigt mit der Schulter zucken und denken: Jo, ein Schwein weniger auf der Welt. Dass der nicht mehr ist, verbuche ich mal als Haben auf dem Konto.
Ich denke, mit grundlegenden Änderungen sollte ich sehr vorsichtig sein. Auch wenn die Story schwarz-weiß gemalt ist, sie funktioniert. Ob sie das nach derartigen Eingriffen noch würde, ist fraglich. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!

PS: hab von Boyle bisher nur Romane gelesen, das "don quichotte"-hafte Scheitern seiner Prots ist für mich immer faszinierend und zugleich schwer zu ertragen.

Katla

*) Über gerade diesen Text eine Diskussion dazu anzufangen, finde ich - gemessen an dem, was darin wie beschrieben wird - eh unpassend. Als ob man das mit aller Gewalt (no pun intended!) an jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf's Tapet bringen müsste. Das ist eine unliterarische Debatte und schadet Texten mehr, als dass sie ihnen nützt.
Wahrscheinlich hast du recht, ich sollte nichts hineinreden, was nicht drin ist.

Ich schließe mich übrigens hell an: weniger witzig und dafür härter wäre das Ende runder. Wenn schon, denn schon.
Ok, ist angekommen, gibt noch eine weitere Überarbeitungsrunde ...

Die Seifenlauge ist jetzt weder schwach noch mild ;)

Wünsche euch ein schönes sonniges Wochenende.

 

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