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Cuauhtémoc
Cuau kniet auf dem Vorderdeck, neben sich den Eimer mit Seifenlauge und wischt über das glänzende Teak mit den schwarzen Fugen. Zum dritten Mal schon, weil er nur bezahlt wird, wenn er arbeitet.
Ein hartes Klacken lässt ihn zusammenfahren. Direkt neben ihm hüpft ein Eiswürfel über das Deck und kommt an der Bordwand zu liegen. Ein Ausruf des Bedauerns weht vom Brückenaufbau herunter. Cuau hört weg, taucht den Lappen ein, wringt ihn aus und wienert das Deck, stoisch, als wäre nichts gewesen.
Der nächste Eiswürfel landet mit einem Klatschen auf seinem nackten Rücken, mittig zwischen den Schultern. Cuau zuckt, atmet stoßweise, dreht sich um, sein Gesicht eine versteinerte Maske, die Augen starr. Blut rauscht durch die Schläfen. Dort wo er herkommt, würde der Jefe dafür sterben. Mühsam schluckt er seinen Zorn herunter. „Si?“ Die Stimme rau.
„He, Cucaracha, bring mal Nachschub, wir verdursten.“ Der Jefe steht an der Kante der Flybridge und wackelt mit einem leeren Cocktailglas. Sein feister Bauch lugt aus dem offenen türkisen Hawaiihemd. Wie ein rosiger Schildkrötenpanzer wölbt er sich über die gebogene Glasschürze des Steuerstandes. Der unnatürlich nach außen gestülpte Bauchnabel ragt in hellerem Rosa aus dem Sonnenbrand. Die anderen Drei scheinen daran keinen Anstoß zu nehmen. Eine Sonnenreflexion scheint durch seinen dünnen, flachsblonden Haarschopf, der durch einige Haare vom Hinterkopf zahlenmäßig unterstützt wird. Das hat ihm Carlos unter der Hand erzählt, zusammen mit der eindringlichen Warnung, das gegenüber dem Jefe auf keinen Fall zu erwähnen.
Alles nur, um jünger zu wirken, denkt Cuau und schüttelt den Kopf. Dort, wo er herkommt, schätzen und achten sie die Alten und niemand versucht, jünger auszusehen. Niemand lässt sich dort Haare auf dem Kopf umpflanzen. Abgesehen von dem vielen Geld, das sie nicht haben, würde keiner der Mazatecos auf solch eine verrückte Idee kommen.
Cuau verschwindet unter Deck, um die Drinks zu mixen. Mit einem Seitenblick checkt er die Fenster. Durch die Bullaugen ist niemand zu sehen, nur gleißendes karibisches Meer. Er stellt vier Gläser in Reihe und spuckt in das erste. Verteilt Limettenspalten, die er mit dem Stößel zerquetscht, füllt mit Rohrzucker, Eis und zuletzt Cachaça auf. Oben auf der Flybridge reicht er die Gläser so, dass der Jefe nach dem einen Glas greift, das er für ihn präpariert hat. Er schaut zu, wie sie den ersten Schluck nehmen.
„Du darfst wegtreten, Cu … ca … ra … cha“, skandiert der aufgedunsene Fettwanst und wischt mit seiner Hand durch die Luft, als wolle er ihn von Bord fegen. In der Falte seines Mundwinkels klebt ein eingetrocknetes Rinnsal Burgersoße vom Lunch.
Wortlos sammelt Cuau die leeren Gläser der letzten Runde ein. Mit Tablett in der Hand geht er die kurze Treppe hinunter. Sobald es niemand mehr sehen kann, stiehlt sich ein flüchtiges Grinsen in sein Gesicht.
Noch nie hat ihn das fette Chancho ihn bei seinem richtigen Namen genannt. Noch nie hat der ihn angesehen, ihm die Hand gereicht oder nach seinem Befinden gefragt – obwohl er oft an Bord ist. Wenn er vor ihm steht, schauen seine kleinen Äuglein demonstrativ in die Luft, als wollte er zeigen, welch niedriges Gewürm vor ihm kriecht. Doch so schlimm wie heute war es noch nie.
Cuau erklärt das mit den beiden jungen Frauen an Bord und den Mengen an Alkohol, die alle vier schon konsumiert haben. Nur Logan, der Skipper und Kumpel vom Jefe, gibt sich zurückhaltender.
All das nimmt Cuau hin, denn er denkt nur an die kleinen Scheine, die ihm Carlos heute Abend in die Hand drückt – nach Abzweigen der Provision für die Vermittlung. Zwanzig Dollar bleiben Cuau nach zwölf Stunden an Deck.
Er kann gut damit leben. Die Arbeit ist nicht anstrengend. Verglichen mit der Hölle von Ciudad de México, seiner letzten Station, ist das hier der reinste Vergnügungspark. Und er darin das Mädchen für alles. Die Vorstellung zaubert ihm ein bitteres Lächeln in sein Gesicht.
In der komfortablen Küchenzeile unter Deck spült er die Gläser weg und räumt die Reste in den Müll. „Alles easy“, wie Carlos immer sagt. „Alles easy.“ Meistens hat er damit recht, heute nicht. Der Jefe ist mies drauf.
„Cucaracha!“ Mit schwerer Zunge ruft die Tortuga nach ihm. Nach wenigen Sekunden gespannter Ruhe noch einmal, diesmal fordernder: „Cu … ca … ra … cha!“
Er hängt das Trockentuch auf, lässt so viel Zeit verstreichen, wie er meint, erklären zu können, und steigt hoch an Deck. Oben auf dem Treppenabsatz drängen sich die beiden blassen Blondinen giggelnd an ihm vorbei, hinunter zur Plattform am Heck. Cuau hält sie nicht auf, obwohl er weiß, dass sie in ihrem Zustand nicht schwimmen sollten. Andererseits dümpelt die Providence in seichten Gewässern und ruhiger See. Sie liegen vor Anker, die beiden durstigen Motoren sind abgeschaltet.
„Todo bien“, sagt Cuau leise und dreht sich zur Flybridge. „Todo bien.“
„Hey, Rothaut, halt sie im Auge, klar?“ Wieder die Ansage der rosa Schildkröte. Cuau nickt stumm und folgt den Frauen runter zur Heckplattform. Dort lehnt er sich an den schrägen Rumpf und lässt den Blick scheinbar teilnahmslos über das Wasser streifen. Er fischt eine Zigarette aus seinen Shorts und steckt sie an. Aufpassen gefällt ihm. Leicht verdientes Geld.
Die Mädchen lassen ihre Sarongs fallen und springen ins Wasser. Dort geht die kindische Giggelei weiter. Ihre neonfarbenen Bikinis leuchten knapp unter der Oberfläche wie Korallenfische. Cuau empfindet keine Erregung beim Anblick der halbnackten Mädchen. Unauffällig spuckt er bräunliche Tabakreste ins Wasser. Obwohl sie in seinem Alter sind, reizen sie ihn nicht. Ihnen fehlt alles, was er an Frauen schätzt: Stärke, Wildheit, Temperament.
Es dauert keine Minute, bis die kleinere der beiden anfängt zu quieken. Ein roter Arm schnellt aus dem Wasser und die Lautstärke steigert sich zu panischem Kreischen. Ohne zu überlegen, schnippt Cuau die Zigarette weg und springt ins Wasser. Auf dem Weg zu den Mädchen sieht er, dass das Wasser mit kleinen transparenten Quallen durchsetzt ist.
„Mierda!“ entfährt es ihm. Ein Bruch der Regeln, es ist ihm egal. Auf dem Rückweg zum Schiff verbrennt sich Cuau mehrfach an den Nesselfäden. Indem er vorneweg schwimmt und versucht, die Quallen wegzuwedeln, macht er den Weg frei. Immer wieder zuckt er zusammen. Die Flüche, die er zwischen seinen Zähnen herauszischt, werden mit jedem Mal schärfer. Ohne weitere Verletzungen schafft er in seinem Schlepptau die beiden Mädchen zum Schiff zurück.
Der Jefe und sein Kumpel Logan beobachten das Geschehen teilnahmslos von der Flybridge. Cuau weiß, von ihnen ist keine Hilfe zu erwarten.
Er nimmt die Kleine mit in die Bordküche, behandelt ihre Verletzung mit Essig. Dann schickt er sie weg und kümmert sich um seine Blessuren. Mit einem scharfen Messer schabt er vorsichtig einen Tentakelrest vom Unterarm. Die Striemen brennen wie Feuer.
„Cucaracha ... cha ... cha!“ Diesmal leicht singend, doch nicht weniger durchdringend.
„Hijo de puta“, flucht Cuau so leise er aushält. Einatmen. Ausatmen. „Bin verletzt“, ruft er durch die offene Kabinentür. Ein dunkles, ersticktes Lachen von oben.
Wieder ruft der Jefe, ungeduldig und bohrend.
„Mierda!“ Cuau verreibt schnell eine Handvoll Essig auf die Striemen und setzt sich fluchend in Bewegung.
Oben angekommen, fühlt er vier Augenpaare auf sich gerichtet. Die Frauen schlagen jedoch schnell die Augen nieder. Die kleine Blondine hält sich den linken Arm und schaut verheult drein. Beide sind wieder in Sarongs gewickelt.
„Cucaracha, die Ladies möchten, dass du für sie tanzt. Zur Unterhaltung, weißt du. Regentanz oder sowas, irgendwas Indianisches halt.“ Kein Wort des Dankes, keine menschliche Regung. Damit lässt er ihn stehen und klatscht zur Anfeuerung ein paar Mal in die Hände, wie er es in einem Puff zuhause in Miami auch machen würde. Sein Skipper-Kumpel Logan klatscht mit, lässt die Muskeln spielen und grinst zu ihm herüber. Er kennt das Spiel.
Der Jefe legt der Blondine, die bis dahin unversehrt geblieben ist, seine schwitzige Pranke aufs Knie und schaut aus kleinen Äuglein. Das Mädchen wagt nicht, die tellergroße Hand wegzuschieben. Verstört blickt sie zu Cuau. Ihre Zähne schlagen leise aufeinander.
Bisher hat Cuau immer weggeschaut und weggehört, ohne dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Er versteht die Gringos nicht, sie denken anders. Doch gerade ist etwas passiert, er kann es spüren. Unaufhaltsam. Etwas hat die Rädchen in seinem Kopf in Gang gesetzt. Vielleicht der Blick der jungen Frau, vielleicht das beißende Gift in seinem Arm, vielleicht das Grinsen des Skippers. Oder die Mischung aus allem.
Cuau fasst einen Entschluss. Einen, der ihn den Job bei Carlos kosten kann, doch er hat genug. Das Einzige, was er sieht, ist die Schildkröte. Er wird die Tortuga zwingen, zu verstehen!
Der Indio gibt den Indianer. Er heult wie ein Wolf und läuft albern zappelnd im Kreis. Von seinen nassen Shorts tropfen feine Fäden aus Meerwasser aufs Deck. Schon nach der ersten Runde liegen die Männer flach an Deck und klopfen sich die Schenkel. Beide Frauen schauen still auf den Boden.
„Cucaracha, das ist großartig, wirklich. Damit musst du in den Zirkus, oder – noch besser – in den Zoo.“
Cuau ballt kurz die Fäuste, bis die Knöchel weiß sind, das Gesicht eine grinsende Maske. Dahinter denkt er nur an die getrockneten Pilze, die in seinem Rucksack unter Deck warten. Er weiß, der Schamane würde es absegnen.
Beim nächsten Mixen der Drinks hackt er die Pilze. In die kleine Schale gießt er heißes Wasser, bis sie gerade eben bedeckt sind. Während er die fertigen Caipirinhas nach oben bringt, beginnen die Pilze zu quellen. Beim Dinner wird er sie auf dem Sandwich vom Jefe servieren. Mit Bacon, Eiern und viel Mayonnaise. Schön scharf gewürzt mit Jalapeños, nach denen der Boss immer verlangt. Noch eine gute Stunde. Cuau kauert sich in eine Ecke vom Unterdeck. Die Quallenstiche brennen wie Höllenfeuer. Sonne und Mond tauschen die Plätze.
Punkt sieben Uhr bringt er die Sandwiches auf das Oberdeck. Es dauert nicht lange, bis der Jefe das Reden einstellt und beginnt, laut zu seufzen. Speichel läuft aus dem Mundwinkel, der Blick wandert in die Ferne. Die anderen sind zu betrunken, um seinen Zustand zu bemerken, und Cuau tut einiges dafür, sie abzulenken. Ein weiteres Mal gibt er den Indianer und tanzt wie wild mit den Armen rudernd. Dann beginnt Cuau damit, Sprüche des Schamanen in der Sprache seiner Ahnen leise aufzusagen und vor dem Gesicht des Chancho beschwörende Gesten zu vollziehen. Er sieht im Licht der Laterne die vergrößerten Pupillen. Das Nervengift wirkt.
Der Jefe stammelt jetzt undeutlich. Seine Stimme wird laut und lauter, doch niemand versteht, was er sagt. Er schlägt mit den Armen in die Luft, um das Wesen zu vertreiben, das er sieht.
Cuau bleibt knapp außerhalb seiner Reichweite und hört nicht auf, in der Sprache der Alten zu reden. Er weiß, was sich vor ihm abspielt. Immer wieder spricht er seinen richtigen Namen.
Mit den Armen imitiert er Flugbewegungen, nickt ruckartig mit dem Kopf, als würde er nach ihm hacken, und lässt den Jefe nicht mehr aus den Augen. Und so wundert er sich als einziger nicht, als die Schildkröte aufsteht und zur Reling wackelt. Um sich zu übergeben, denken alle – bis auf Cuau, der es besser weiß. Noch einmal zischt er ihm seinen Namen hinterher. So laut, dass der Jefe es gerade noch hört.
Anstatt seinen Mageninhalt dem Meer anzuvertrauen, steigt der Jefe auf die Reling, hebt beide Arme rudernd in den Himmel und ruft ein einziges Mal laut und verständlich: „Cuauhtémoc.“
Bevor jemand auch nur aufstehen kann, lässt er sich fallen und landet mit dem Kopf voran im Quallenpool. Die Nesselfäden, mit denen seine ungeschützten Hautpartien – insbesondere Schildkrötenbauch und Gesicht – in Kontakt kommen, nutzten die Einladung, in Windeseile das giftige Sekret aus ihren Nesselkapseln in die Haut zu katapultieren. Der Jefe brüllt, als würde ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Immer wieder werden die Schreie vom Wasser zu einem hässlichen Gurgeln erstickt.
Der Skipper wirft einen rotweißen Ring in die Richtung und versucht, ihn durch laute Rufe zur Heckplattform zu dirigieren, beides ohne Erfolg, doch mehr kann er nicht tun. Der blonde Schopf tanzt im Mondlicht seinen einsamen Totentanz auf dem Meer. Vom Schiff aus ist nur noch vereinzelt Strampeln vernehmbar, bis auch das leiser wird.