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Chli stinke muess es!
Ich stelle meinen Fünf-Franken-Kaffee auf den kleinen Tisch eines Viererbereichs und setze mich ans Fenster. Kurz darauf werde ich eingezwängt von einer Gruppe Senioren in Funktionsjacken und mit bester Wanderlaune. Es ist Dienstag und gerade mal halb neun, aber ich bin solche Ungeheuerlichkeiten mittlerweile gewohnt. Ich zerknülle die Tüte von meiner Brezel und will sie in den kleinen Klappmülleimer stopfen, doch er ist voll bis zum Rand. Erwischt!, denke ich hämisch, und stecke die Tüte in meine Tasche. Der Zug rollt an. Mein Blick bleibt wie jeden Morgen bei dieser verdammten Werbung neben den Gleisen hängen. Sie preist ein Fondue aus dem Supermarkt an. Eine Hand zieht mit einem Stückchen Brot Käsefäden aus einem Topf. Darüber steht der Slogan. Chli stinke muess es! Ich hasse diese Werbung und ich hasse, wie sie sich mir jeden Tag ein wenig mehr einbrennt. Lasst mich doch endlich mit euren verschissenen Fondues in Ruhe und mit eurer Schokolade und eurer roten oder blauen Rivella! Obwohl die Fahrt nur gute zehn Minuten dauert, steige ich auf dem Land aus, in einem Städtchen, das sich um eine drei Straßen große Altstadt und einen vier Gleise großen Bahnhof gruppiert. Sie haben es fertig gebracht, mitten in märchenhafte Hügel hinein einen wahren Unort aus Beton und Schnellstraßen zu setzen. Anfangs habe ich ab und zu in der Mittagspause Spaziergänge gemacht. Aber das waren nur zermürbende Parcours aus Ampeln, Unterführungen und Brücken, die nirgendwohin führten, und ich habe es schnell wieder sein gelassen.
Ich laufe den Hügel hinab. Bis zur Bank ist es nur eine Minute, das Gebäude steht praktisch noch auf dem Bahnhofsareal, ein verschachtelter Block mit der Anmut einer Geheimdienstzentrale. Während ich mich durch die rotierende Sicherheitsschleuse schiebe, piepst es. Hier im Erdgeschoss sind die Achtziger noch lebendig. Es liegt Linoleumboden, die Türrahmen sind dottergelb lackiert und es riecht nach Filterkaffee und Toner. Für Poststelle, Druckerei und Sicherheitsdienst ist das offensichtlich gut genug. Die Etagen mit den Büros sind hingegen längst aufwändig renoviert worden, teilweise schon mehrmals. Wie die dritte, wo ich hin muss. Dort sitzt das Marketing und dort hat man sich besondere Mühe gegeben. Ein abgerundetes Kleinod aus hellem Holzfurnier und lindgrünem Hartplastik ist entstanden, segmentiert durch hüfthohe Zimmerpflanzen und löchrige Raumtrenner. Die innenarchitektonischen Ambitionen gipfeln im Lounge-Bereich, wo ein Nespresso-Vollautomat auf einem Edelstahlkubus thront. Hat man der Maschine Kapsel nach Kapsel geopfert, um 300 Milliliter zusammenzutröpfeln, darf man sich auf steifen Sitzsäcken niederlassen und mit gekrümmter Wirbelsäule sein Heißgetränk schlürfen. Man kommt sich dabei vor wie in der Spielecke einer Raumstation – Regression trifft Sterilität.
Im Spiegel des Aufzugs kontrolliere ich den Sitz meiner Kleider. Mein Stil ist von Kopf bis Fuß smart-casual, wie es die inoffizielle Unternehmensrichtlinie vorgibt. Weil meine Sportleroberschenkel nicht zu meiner Sportlertaille passen, ist mir die Chino am Bund zu weit. Ich bräuchte Hosen nach Maß, was natürlich vollkommen lächerlich wäre. Also muss es der Gürtel richten. Ich muss ihn endlich ersetzen! Er ist von Esprit und zeigt noch dazu bereits erste Abnutzungserscheinungen. Ich bin mir sicher, dass meinen Kollegen so etwas auffällt. So wie mir auffällt, dass der eine Kollege aus dem Customer Relations Management Laufschuhe trägt. Sie haben bunte Elemente und sind nicht einmal von On, liegen also meilenweit weg vom Modell Stan Smith, dem flachen, blütenweißen Sneaker von Adidas, der hier die Benchmark darstellt. Der Chef trägt dieses Modell und zwei der Team Heads auch. Mir hat es beim besten Willen nicht gepasst, was in dem Fall kein Problem war. Ich bin bei Lacoste fündig geworden, eine Wahl, über die ich persönlich nicht sehr glücklich bin. Aber was soll’s? Die Schuhe erfüllen ihren Zweck. Sie liegen preislich über dem Stan Smith und das Krokodil ist so groß, dass man es wahrnimmt, aber so klein, dass es als dezent durchgeht.
Trotz meiner clever-legeren Garderobe, die bis auf den Gürtel makellos ist, bleibt meine Paranoia freilich bestehen. Seit Tag eins bewege ich mich als laufendes Imposter-Syndrom über die Gänge der Bank und weiß insgeheim, dass mich auch ein besserer Gürtel nicht wird retten können. Ich bin doch längst aufgeflogen! Und wenn es nicht mein offensichtliches Herausfallen aus der Peer-Group "Business World" ist, so disqualifiziert mich meine deutsche Art. Die Gummihälse mögen sie hier nicht, schon gar nicht solche, die sagen, was sie denken. Man mag es hier durch die Blume und hintenrum. Das ist wirklich suboptimal, denn mein Auftreten hat die Subtilität eines Leopard 2 und ich habe nur unwesentlich mehr Taktgefühl als Elon Musk. Ich versuche es ja, halte in Meetings ganz bewusst die Klappe, wenn sich alle um mich herum immer weiter von einer Lösung wegkomplimentieren. Aber irgendwann platzt mir eben doch der Kragen und ich fahre ihnen mit einem stahlharten Ich-sehe-das-anders in die Parade. Sie schauen mich dann an, ihr Lächeln friert ein und egal, wie stichhaltig meine Argumente sind, ich ernte nicht mehr als ein Nicken, das zwischen Geringschätzigkeit und Mitleid changiert.
An meinem Platz ziehe ich den Mantel aus, eine graue Modesünde, die ich mir vor meinem ersten Arbeitstag noch schnell gekauft habe, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich unmöglich in Lederjacke oder olivgrünem Parka in einer Bank aufschlagen kann. Die meisten Kollegen sind schon da. Neben mir sitzt Brigitte, die gute Seele des Teams. Sie ist diejenige, die immer weiß, wo die Formulare abliegen, die Anträge hinmüssen und die Heftzwecken stecken, wobei die Tatsache, dass man es hier im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausend noch mit Formularen, Anträgen und Heftzwecken zu tun hat, eigentlich schon alles sagt. Gute Seelen wie Brigitte sollte es im New-Work-Universum nicht mehr brauchen – es gibt doch Tools! Gegenüber von Brigitte sitzt Ruedi, ebenso lokales Büro-Urgestein. Er war mal Leiter der Abteilung, wurde dann aber wieder zurückgestuft, wie man mir erzählt hat. Man könnte meinen, wer so einen Tritt zwischen die Beine einfach hinnimmt, müsse ein Loser ohne Selbstwert sein. Aber da irrt man sich. Der gute Ruedi hat alles verstanden und ist der wahre King hier. Er gibt den unbedarften Tölpel, der es nicht gepackt hat, denn so einem weist man ja besser nur noch überschaubare Tasks zu. Und das ist genau, was Ruedi will: die paar Jahre bis zur Rente auf einer Arschbacke absitzen und sich insgeheim seinen Teil über die ganzen Idioten um ihn herum denken. Versüßt wird ihm die Warterei von schätzungsweise hundertvierzig Mille im Jahr, denn Zurückstufung hin oder her, er hat nun mal die letzte Stufe unter Management erklommen, den Sweet Spot der Corporate Ladder: Gehalt hoch, Verantwortung gering.
Ruedis Pendant, der zweite Checker der Abteilung, ist Konstantin. Konstantin gibt einen noch feuchteren Fick auf alles. Er kommt im Sommer als einziger in Shorts und T-Shirts ins Büro, sein Oberarm-Tribal nicht einmal alibimäßig bedeckt. Als IT-ler kann er sich das leisten, denn auch wenn er nicht den Eindruck macht, sich in irgendeiner Weise vom ehrgeizigen Tüftlergeist des Silicon Valley inspirieren zu lassen, führt an ihm kein Weg vorbei. Seine Null-Bock-Attitüde ist gefürchtet. Der überambitionierte Jungspund, der ihm auf dem Papier vorgesetzt ist, ein geleckter, weißblonder Milchbubi, dem sein selbstgefälliges Understatement wie Schmalz aus dem Hemdkragen quillt, hat im Grunde schon aufgegeben und plant seine Projekte um Konstantin herum. Wenn Konstantin nicht gerade deutlich macht, dass man ihn am Arsch lecken kann, flirtet er mit der Abteilungs-Milf oder organisiert seine bierseligen Feierabende. Konstantin ist mein Held und er lässt den nominalen Helden im Team zumindest auf dem Office-Parkett blass aussehen: Rick. Rick heißt eigentlich Richard und ist in meinem Alter. Er hat Unterarme wie ein Schiffmonteur, denn Rick ist eine Schweizer Mixed-Martial-Art-Koryphäe. Er hat die Sportart “ins Land geholt”, wie er sagt, hat diverse Meisterschaften errungen, war zig Mal im Trainingscamp in Thailand und betreibt nebenbei sein eigenes Gym. Mittlerweile ist er nicht mehr aktiv, aber immer noch ein Freak: Manchmal schwimmt er vor der Arbeit fünf Kilometer, manchmal geht er nach der Arbeit zum Apnoetauchen – was man halt so macht, wenn man den Körper eines Superhelden und sonst offensichtlich keinen Lebensinhalt hat. Wie superheldenhaft sein Hirn ist, das konnte ich bislang nicht herausfinden. Laut seinem Linkedin-Profil ist er “Change Manager” und “Disruptor”, doch bei uns läuft er als Pressesprecher den ganzen Tag dem CEO hinterher und übersetzt sklavisch dessen wahnhafte Impulse in Zehnzeiler für die Lokalzeitung. Es gibt ein lustiges Bild ab, wie die Evolution hier Kopf steht: Der vor Testosteron strotzende Killertyp wird vom skinny-fetten Sesselfurzer zum Lakaien degradiert. Rick im Chokehold des Lebens, würde ich mal sagen.
Nach dem obligatorischen Begrüßungssmalltalk, schließe ich den Laptop an und sondiere meinen Kalender. Er ist gänzlich leer. Nur am Donnerstag, übermorgen, ist für dreizehn Uhr ein Eintrag da: “Post Lehrlinge”. Ich erinnere mich. Anlässlich des neuen Lehrjahres mussten sich vor einigen Tagen die zweiundzwanzig neuen Teenager aus den Filialen vor dem Hauptportal zum Fototermin aufstellen. Die Jungs, wie bei der Konfirmation pickelig und in schlecht sitzenden Anzügen, sahen aus wie verkleidete Kinder, die Mädels hingegen, alle in gut abgestuften Hosenanzügen und Blusen, wirkten wie fünfundvierzigjährige Versicherungssmaklerinnen nach der ersten Scheidung. Das Foto dieses Anlasses soll nun auf Instagram gepostet werden, mit einem leutseligen Text in Richtung: “Wir freuen uns sehr, auch dieses Jahr wieder …” Ich weiß schon, der Beitrag wird regen Zuspruch unter den Lehrlingen selbst sowie unter den übrigen Bankangestellten finden, und der CEO beziehungsweise sein Schoßhund Rick wird einen anbiedernden Willkommensgruß in die Kommentare pflanzen. Außerhalb des Unternehmenskosmos’ wird sich keine Sau für das Bild interessieren, womit es als Marketingmaßnahme ein Flop ist. Aber den Unterschied zwischen interner und externer Kommunikation versteht hier niemand und ich habe es aufgegeben, darauf hinzuweisen. Andrea kommt in den Raum. Sie ist ein Brauereipferd von einer Frau, bestimmt einsachtzig groß, mit breitem Becken und stämmigen Oberschenkeln. Da ihr ein großer Busen als Kontrapunkt fehlt, wirkt sie nicht feminin, sondern plump, ein Eindruck, der sich erhärtet, wenn sie den Mund aufmacht. In monotonem Schweizerdeutsch spult sie angelernte Phrasen und Buzzwords ab wie eine volkstümelnde Nachrichtensprecherin auf NTV. Trotz ihrer offensichtlichen Defizite leitet sie neuerdings die Kommunikation, denn ihr Mann arbeitet auch in der Bank und hat was zu sagen. Sie steuert direkt auf mich zu und fragt mich mit unterschwelliger Verachtung nach meinen aktuellen Aufgaben. Ich erinnere sie an den anstehenden Instagram-Post und führe wortreich aus, dass ich dafür nicht nur den Text verfassen, sondern auch noch die Hashtags recherchieren muss. Letztere sind meine Geheimwaffe, denn sie halten Hashtags hier für ein omnipotentes, aber höchst diffizil auszutarierendes Mittel zur Reichweitensteigerung. Sogar im Feedback-Gespräch wurde lobend erwähnt, dass ich derjenige war, der im Hause die Hashtags eingeführt hat. Das sei ein klares Zeichen für meine Expertise und Proaktivität. Fazit: Dank mir geht es voran im Online-Marketing! Dass Hashtags mittlerweile obsolet sind, weil die Plattformen automatisch erkennen, wer die besten Zielgruppen sind, verschweige ich selbstverständlich, denn das Texten der Hashtags kauft mir einen freien Vormittag. So auch heute. Andrea gibt sich mit meiner Antwort zufrieden und will am Nachmittag meinen “Entwurf” sehen. Sie trollt sich und ich tippe in die Tastatur: “Wir freuen uns sehr, auch dieses Jahr wieder eine tolle Gruppe motivierter Lehrlinge bei uns im Hause begrüssen zu dürfen. Auf eine spannende Ausbildung und viele weitere erfolgreiche Jahre!” Dahinter setze ich ein Raketen-Emojiy, darunter schreibe ich: “#kantonalbank #banklehre #ausbildung #schweiz”. Ich speichere das Dokument ab und gehe mir den nächsten Kaffee holen. Anschließend beginne ich in einem kleiner gezogenen Fenster mit einer neuen Kurzgeschichte. Steht jemand auf, lasse ich sie in der Taskleiste verschwinden und gucke grimmig, so als würde ich über dem Text für den Beitrag brüten.
Um halb zwölf schließe ich mich ausnahmsweise einer kleinen Gruppe an, die mit dem Firmen-Van zu einem Landgasthof im Umland fährt. Das Menü des Tages, mit den von der Bank ausgegebenen Gutscheinen für dreißig Franken plus Getränke zu haben, beinhaltet eine Flädlisuppe, ein Stück Fleisch an Sahneblumenkohl und Kartoffeln sowie Vermicelles zum Nachtisch, wie uns eine rotwangige Kellnerin im Oma-Alter auseinandersetzt. Hier ist die Welt noch in Ordnung, denke ich mir. Keine graugesichtigen Rumäninnen, die für ihre Kinder im Ausland kellnern gehen. Nein, einheimische Frauen, die aussehen, als wären sie selbst ihre besten Kundinnen, dazu ein Raumgedicht aus Holzbalken, Stoffservietten und Polstermöbeln. Am Tisch entspinnt sich schnell dasselbe Gespräch, das sich immer entspinnt: Schon den nächsten Urlaub geplant? Was habt ihr am Wochenende gemacht? Ach, gewandert? Wo denn? Nein, ich war biken. Gott sei Dank, ist morgen schon Mittwoch. Und am Wochenende? Da gehen wir wandern … Irgendwann wird sich daran erinnert, dass ich nicht dazugehöre, und ich werde ins Verhör genommen. Ja, schon gut eingelebt, ja, mit dem Verstehen, das klappt schon ganz gut, ja, ja, bla, bla, oh, das Essen, dann versuch ich’s auch mal: En guete! – Hahaha! Wir sitzen schon eine Stunde lang im Lokal, da wird noch seelenruhig Kaffee bestellt. Es ist ein Mittagspausenerlebnis aus der guten, alten Zeit, wo man noch akzeptierte, dass Humanressourcen irgendwo auch Menschen sind. Aber die Jetztzeit hält auch in der Bank Einzug: In der Food Corner auf Etage eins steht ein Automat mit abgepackten Poke Bowls, Kimchischälchen und Proteinriegeln. Die Frischwaren werden jeden Tag von einem Startup namens Fresh Express angeliefert und sind ab sechzehn Uhr dreißig mit fünfundzwanzig Prozent Abschlag zu haben. Einfach die FE Card dranhalten und losspachteln, abgebucht wird direkt vom Konto. Selbstredend ist das Einwegbesteck aus Holz. Die Bank achtet auf Nachhaltigkeit, hat schon vor Jahren das Dach mit Solaranlagen vollgepflastert, wie eine ganze Palette Fotos vom CEO vor den Paneelen dokumentiert. Tue Gutes und rede darüber, nicht wahr? Dass man summa summarum nicht einmal fünf Prozent des Energiebedarfs des Hauses damit deckt – geschenkt! Nachts die Stand-by-Drucker, Fluchtwegeleuchtschilder und Lichtschalterlichter ohne Atomstrom zu versorgen, ist doch ein guter Anfang!
Zurück im Büro schicke ich Andrea sofort den “Entwurf” für den Instagram-Post, visuell aufbereitet mit dem Foto der Lehrlinge darüber. Ich weiß, dass sie bis drei in einem Meeting ist, sodass ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlage: Ich bin offensichtlich früher als verabredet fertig geworden – wie fleißig! –, muss aber trotzdem nicht mehr mit einer neuen Aufgabe rechnen. Der Tag ist im Grunde rum. Kommt es hart auf hart, kann ich immer noch vorschieben, an der neuen Content-Strategie zu feilen. Andrea war so blöd, für circa fünfzigtausend Franken einen selbsternannten Social-Media-Guru hinzuziehen, der uns nach einem dreistündigen Kick-off im Raum Ownership eine alte, 180–Folien-starke Power-Point-Präsentation zugeschickt hat. Ich glaube, außer mir hat bislang keiner gemerkt, dass auf einigen Slides noch der Name des früheren Kunden steht. Aber sei’s drum. Nachdem es mich anfangs in meinem Stolz verletzt hat, dass mir von einem Quacksalber dermaßen offensichtlich das Wasser abgegraben wird, sehe ich jetzt die Vorteile: Diesen Packen kondensierter Genialität muss man schließlich erst mal durchgeackert bekommen! Oder, Andrea? Ja, klar, nimm dir ruhig genügend Zeit! Da kannst du dir aber sicher sein! Ich mache mich wieder an die Kurzgeschichte, doch die Luft ist raus. Bei einer Runde über die Etage komme ich an der Ecke mit den Eventlern vorbei. Sie heißen alle entweder Reto oder Remo und ich kann mir die einzelnen Zuordnungen nicht merken. Ich grüße knapp in ihre Richtung und gehe weiter. Nirgends ist was los, die Abteilung ist im Suppenkoma, das hier in der Regel den ganzen Nachmittag über anhält. Nur bei den Customer-Relations-Jungs herrscht Aufregung. Wenn ich es richtig mitbekomme, hat der Kollege mit den bunten Laufschuhen soeben herausgefunden, dass der Funnel der letzten Hunderttausend-Franken-Kampagne auf einer Landing-Page mit einer einsamen Telefonnummer geendet ist – womit die Conversions zu einem wesentlichen Teil überhaupt nicht getrackt werden konnten. Ich verkneife mir ein Lächeln. Besser geht es kaum! Zurück am Platz lese ich die News des Tages auf Kicker.de und scrolle dann durch Instagram. Ist ja sozusagen mein Job, hier am Ball zu bleiben.
Noch eine gute Stunde bis zum früheren Zug zurück. Plötzlich steht Andrea vor mir und bittet mich mitzukommen. Ich mache eine fragende Geste in Richtung Ruedi, aber der zuckt nur mit den Schultern. Wir gehen in den Raum Diversity, wo der glatzköpfige Head of Marketing und eine gut gekleidete Frau kurz vorm Rentenalter sitzen. Andrea bittet mich Platz zu nehmen und setzt sich mir gegenüber zu den anderen beiden. Die Frau ergreift das Wort und stellt sich vor. Sie ist aus der Personalabteilung. Nach ein paar einleitenden Worten kommt sie direkt zur Sache: Mir händ entschide, di go la. – Digola? Im ersten Moment kapiere ich gar nichts. Dann dämmerst’s mir. Andrea ergreift das Wort und spult eine Reihe von Erklärungen ab, während der Kahlkopf neben ihr staatstragend nickt. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, und bringe nur irgendetwas raus wie: Ok, ja, dann, ich hatte auch selbst schon … Ich merke, meine Sicht der Dinge interessiert überhaupt nicht, also kommen wir zum Organisatorischen. Das ist schnell geklärt. Ich nehme gleich meine persönlichen Sachen mit und im Grunde war es das schon. Gehalt läuft noch zwei Monate weiter, dann bin ich auch offiziell raus. Ich bekomme noch den Tipp, mich gleich morgen beim Arbeitsamt zu melden, sonst folgen Sperrzeiten. Die Drei stehen auf und geben mir die Hand. Trotz allem danke für deinen Einsatz! Ja, ihr mich auch ... Am Tisch tue ich, als wäre nichts. So, das war’s für heute, ich bin weg! Wie geheißen, gebe ich im Erdgeschoss beim Sicherheitsdienst meinen Türöffner und die FE Card ab, dann verlasse ich die Bank zum letzten Mal.
Als der Zug am Fahrtende in den Bahnhof einfährt, sehe ich, dass sie nun auch auf der anderen Seite der Gleise ein Schild mit der Werbung aufgehangen haben. Chli stinke muess es! Es stinkt sogar gewaltig!