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Charlotte
Charlotte
Genussvoll leckte Charlotte an ihrem Schokoladeneis. Sie saß im Park, auf ihrer Lieblingsbank. Der Rucksack lag ganz dicht neben ihr. Er war rot. So rot wie ihre Haare. Sie hatte rote Engelslocken. Charlotte hob vergnügt ein Bein vor das andere.
Der Teenager war mit seinen zwölf Jahren anders als Mädchen in ihrem Alter.
Jeden Tag saß sie im Park. Gleich nach dem Schulunterricht ging sie zu dem nahen Eismann und kaufte sich eine Kugel Schokoladeneis. Dann lief sie zügig bis zum Park. Von der Bank aus schaute Charlotte auf eine große weite Wiese.
Irgendwann stand Charlotte dann auf, schnappte ihren Rucksack und schnallte ihn auf ihren Rücken.
Nach drei Schritten drehte sie sich um, als ob sie sagen wollte, "Tschüß bis morgen".
Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Daheim war sie so gut wie allein. Außer, ja da gab es ja Tomi. Tomi war ihr kleiner Wellensittich und Charlottes bester Freund.
Zwei Minuten später schloss Charlotte die Wohnungstür auf. Ordentlich stellte sie ihre Schuhe ins Schuhregal und hängte die weiße Windjacke über die Garderobe.
Dann stellte die junge Dame ihren Rucksack an ihrem Schreibtisch und schloss die Zimmertür.
„Hallo Tomi“, rief sie. „Du hast ja gar nichts mehr zu trinken. Tut mir Leid. Ich habe heute mal wieder getrödelt. Bitte nimm es mir nicht übel.“
Sie nahm den Wassernapf, ging ins Bad und füllte ihn voll. „Futter bekommst du auch schon.“
Zur Antwort zwitscherte der hellblaue Wellensittich.
„Und wenn ich schon mal dabei bin, mach ich deinen Mistkäfig gleich sauber. Wann war es das letzte Mal, vorgestern? Ach Tomi du machst es mir nicht einfach", lächelte sie ihn an und befestigte den Vogelkäfig.
Tomi zwitscherte heftig drauf los, dabei hüpfte er von einer Stange zur anderen. Charlotte öffnete den Vogelkäfig.
Von der Couch aus beobachtete sie den kleinen Piepmatz. Richtig verliebt sah sie ihn an. Das Telefon klingelte.
Der Teenager hatte keine Lust aufzustehen.
Nach einer Weile ging sie dann doch. Sie nahm den Hörer ab und sagte: „Ja.“
„Hallo Charlotte ich bin es.“
„Ja Mama, hallo.“
„Charlotte, es tut mir leid, aber ich muss heute noch einen Dienst übernehmen. Eine Kollegin ist krank geworden. Ich habe etwas im Kühlschrank aufgehoben.“
„Wann kommst du denn?“, fragte Charlotte. „Morgen früh“, antwortete ihre Mutter.
„Morgen erst“, rief Charlotte ganz enttäuscht.
„Ja nun mach keinen Aufstand, du bist groß genug. Also bis morgen.“
In der anderen Leitung war nur noch ein Tuten zu hören.
Unglücklich legte Charlotte den Hörer auf. Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken eine Träne weg.
Immer bin ich allein. Mutti hat nie Zeit für mich, dachte sie.
Total bedrückt ging Charlotte in die Küche. Im Kühlschrank standen Nudeln mit Tomatensoße. Charlotte setzte sich an den Küchentisch und aß. Ein Gefühl der Einsamkeit kam in ihr hoch.
Tomi flog zu ihr. Gleich wurde ihre Stimmung besser. Der Piepmatz setzte sich auf die Gardinenstange und trällerte ihr ein Lied.
Sie saß immer noch in der Küche. Ihre Nudeln mit Tomatensoße waren halb aufgegessen.
Charlotte stocherte in ihrem Essen lustlos herum. Da kam der kleine Tomi angeflogen und setzte sich auf den Küchentisch.
„He, mach doch nicht so ein Gesicht“, versuchte er Charlotte aufzumuntern.
Charlotte lief eine Träne über ihre Wangen.
„Aber sie hat doch nie Zeit. Das passiert doch ständig“, sagte sie ganz traurig.
„Hast du denn keine Freundin?“
Charlotte guckte ihn verständlos an. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe doch dich.“
„Natürlich. Und ich halte stets zu dir. Aber du brauchst doch noch andere außer mir. Richtige Menschenkinder, die so sind wie du.“
Charlotte sah auf ihren Teller. Nun fühlte sie sich noch trauriger.
„Die in der Klasse sind alle doof. Die Mädels schminken sich und reden nur über Jungs. Das mag ich nicht. Ich habe dich. Ich liebe mein Schokoladeneis. Und das reicht mir.“
Sie brachte den Teller in die Küche und stellte ihn in den Geschirrspüler. Wortlos ging sie in ihr Zimmer und legte sich auf ihr Bett.
„He, habe ich dich nun verärgert?“, fragte der Wellensittich und setzte sich auf ihren Schreibtisch.
„Nein, hast du nicht“, entgegnete sie. „Weißt du Tomi, am liebsten will ich einfach abhauen. Mich hält hier nichts." überlegte sie. "Mutti hat keine Zeit, und sonst habe ich niemanden.
Charlotte lag auf dem Rücken und starrte in die Luft.
„Ich will dich ja nicht ärgern, aber ich glaube, damit tust du deiner Mutti keinen Gefallen“, meinte Tomi.
Charlotte drehte sich wütend auf die Seite.
Tomi flog zu ihr ans Bett und stupste sie mit dem Schnabel in den Arm.
„Aua, was soll das denn, komm lass mich jetzt einfach in Ruhe!“, befahl sie.
Der Wellensittich flog wortlos aus ihrem Zimmer. Genervt machte Charlotte die Tür von innen zu.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, legte sich ein Blatt Papier zurecht und schrieb drauf los.
„Liebe Mutti, ich habe beschlossen wegzugehen. Du hast ja keine Zeit für mich.
Ich melde mich bestimmt. Deine Charlotte.“
Dann faltete sie den Brief viermal zusammen und stellte ihn auf die Kommode im Flur.
Sie packte ihren Rucksack. Steckte ihr Tagebuch, zwei paar Pullis und eine Hose hinein. Dann griff sie nach ihrer Zahnbürste und schaute noch in den Kühlschrank, fand aber nichts.
Aus ihrer Spardose nahm sie zehn Euro heraus.
Dann machte sie die Tür leise auf und wieder zu.
In ihr war ein komisches Gefühl. Doch irgendwie fühlte sie sich befreit.
Charlotte ging zur S-Bahn. An der kleinen Kirche entlang, vorbei an dem Bach.
Endlich saß sie in der S-Bahn. Sie fuhr bis zur Endstation. Charlotte war nun da, wo sie noch gewesen war.
Sie lief im Bahnhof umher, und hatte das Gefühl, sie wäre um die ganze Welt gereist.
Auf einmal, wurde sie so traurig darüber, dass sie einfach abgehauen war. Aber sie wollte auf keinen Fall wieder nach Hause.
Plötzlich tippte sie ein junger Mann an. „He, so spät noch unterwegs?“, fragte der Unbekannte.
Charlotte zuckte zusammen. „Na und", antworte sie.
„Wo willst du denn hin?“, wollte der Unbekannte wissen. „Ich, ich will zu meiner Oma", log Charlotte. „Ach, wo wohnt denn deine Oma?“, fragte er. „Das sage ich nicht“, sagte Charlotte. „Ich würde dich sehr gerne begleiten“, meinte der Unbekannte. „Nein“, rief Charlotte ängstlich.
“Wieso, ich habe gerade Zeit, und du bist so allein."
Der Unbekannte fing an, sie zu streicheln. Charlotte zog wütend ihren Arm weg.
Sie ging schnurstracks zu ihrem Bahnsteig. Charlotte sprang in die Bahn, die gerade noch da stand.
Ihr Herz pochte vor Aufregung.
Als sie endlich in ihrem Ort war, lief sie ganz schnell nach Hause. So zügig wie noch nie.
Daheim schloss sie die Tür hinter sich zu. Sie legte sich samt Klamotten in ihr Bett und zog die Decke über ihren Kopf.
„Charlotte", rief ihre Mutter. „Musst du nicht zur Schule?“
Sie setzte sich auf, nahm ihren Wecker in die Hand und erschrak. Es war schon viertel nach acht.
Sie hatte in der Aufregung den Wecker nicht gestellt.
„Wie siehst du überhaupt aus?“, fragte ihre Mutter und zog ihre Decke weg.
„Ich“, stotterte Charlotte herum. „Ich war gestern weg. Ich war einfach weg. Hast du meinen Brief gar nicht gelesen?“
„Nein, wo ist der Brief?“
„ Da wo immer die Post liegt.“ Die Mutter stand auf, und holte den Brief.
Dann las sie ihn und setzte sich auf Charlottes Bett.
„Aber Charlotte“, streichelte sie ihre Tochter. „Du kannst doch nicht einfach abhauen. Ich wäre umgekommen vor Sorge.“
„Das glaube ich nicht. Vielleicht hättest du das gar nicht gemerkt.“
„Wie kannst du das sagen?“
„Es tut mir Leid, ich habe wirklich wenig Zeit für dich. Wenn dir was passiert wäre?“
Charlotte sah, wie ihre Mutter feuchte Augen bekam. Sie erzählte nichts von dem Unbekannten.
„Mein Engel, ich habe die nächsten zwei Tage frei, wenn du möchtest, gehen wir dann Eis essen.“
Charlotte konnte fast wieder lächeln, und nickte zustimmend.
„Muss ich denn heute zur Schule?“, fragte Charlotte ganz vorsichtig.
„Heute drück ich noch ein Auge zu. Aber morgen gehst du wieder“,sagte ihre Mutter, und lächelte sie dabei an.
„Gehen wir dann auch in den Park?“, wollte Charlotte noch wissen. „Wenn du möchtest, ja.“
Nun war sie das glücklichste Mädchen der Welt.